Zeitlich parallel zum heraufziehenden Bodenseenebel stapeln sich zum Herbstbeginn die Krisenschlagzeilen: eine neue Corona-Welle ist im Anmarsch, kein Ende in Sicht im Ukraine-Krieg, Energie- und Wirtschaftskrise, Rekord-Inflation, und – ach ja – einer der wahrscheinlich historisch wärmsten Oktobermonate erinnert freundlich an die schwelende Klimakrise.
Es scheint dieser Tage, dass es keinen Ausweg aus der sich immer weiter drehenden Krisenspirale gibt. Unsere demokratischen Institutionen kommen unter Druck; Extremisten an den Rändern, vor allen Dingen aber am rechten Rand, erhalten Zulauf und unterminieren die Fundamente der liberalen Wertegemeinschaft, auf der unsere Gesellschaft letztlich beruht.
Krisenbekämpfungspolitik statt Zukunftsinvestitionen?
In diesen Zeiten wird von der Politik erwartet, dass sie handelt – entschieden und schnell. Ähnlich wie schon in der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise vor gut zehn Jahren oder der Corona-Pandemie werden aktuell Rettungspakete in schwindelerregender Höhe geschnürt. Und diese sind auch notwendig; es besteht allerdings eine gewisse Gefahr, dass die Chancen auf tiefgreifende Veränderungen nicht genutzt werden. Denn eine zu kurzfristig gedachte Krisenbekämpfungspolitik vernachlässigt Zukunftsinvestitionen. Wenn akute Krisen als Chancen genutzt werden sollen, darf die langfristige Perspektive nicht aus den Augen verloren werden.
Ein treffendes Beispiel für das Gegenteil, nämlich die Dominanz der kurzfristigen über der langfristigen Perspektive, ist der Tankrabatt, der Autofahrer:innen über den Sommer beglückt hat. Hier wurde eine temporäre Senkung der Spritpreise durch den Einsatz von mehr als drei Milliarden Euro an Steuermitteln erkauft, ohne dass hierdurch erkennbare langfristige Effekte auf die Inflation oder das Fahrverhalten der Menschen erzielt worden wären.
Um diese gigantische Zahl ins Verhältnis zu setzen: Sie entspricht in etwa der Hälfte der Investitionen, die der Bund im Rahmen des „Gute-KiTa-Gesetzes“ einsetzt, um die Qualität der Betreuung in Kitas und Tagespflege zu verbessern. Hier werden insgesamt etwa 5,5 Milliarden Euro ausgegeben – allerdings nicht in drei Monaten, sondern über einen Zeitraum von vier Jahren! Das heißt, der Tankrabatt als kurzfristige, wenig effektive und wenig nachhaltige Krisenmaßnahme bindet im schlimmsten Fall Mittel, die besser für nachhaltige Zukunftsinvestitionen wie die Verbesserung der Qualität der Kinderbetreuung hätten aufgewendet werden können.
Neue Chancen bei der Energiewende
Die gegenwärtigen Krisen können als Chance zur Erneuerung genutzt werden, aber nur, wenn die Politik der Versuchung widersteht, die sich lockernden Zügel der Fiskalpolitik für Klientelpolitik zu missbrauchen. Diese Chancen sind vielfältig – das Kita-Beispiel verweist etwa auf langfristige Maßnahmen zur Verbesserung der Chancen- und Bildungsgerechtigkeit. Andere Chancen bieten sich in der aktuellen Energiekrise vor allen Dingen bei der entschiedeneren Umsetzung der Energiewende und in der Verkehrspolitik.
Ein anderes Beispiel in diesem Zusammenhang: das „grüne Pendant“ zum Tankrabatt, das 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr. Der sommerliche Großversuch hat gezeigt, dass das Verkehrsverhalten der Menschen nachhaltig verändert werden kann, wenn attraktive Alternativangebote zum Individualverkehr gemacht werden – auf eine sozial verträgliche Art und Weise. Damit dieses Instrument dauerhaft funktioniert, muss die Politik die Weichen Richtung Zukunft stellen.
Dies gelingt ihr allerdings nur eingeschränkt, denn die sich nun abzeichnende Nachfolgelösung für das 9-Euro-Ticket ist deutlich weniger attraktiv als das Original. Zudem hat der Sommer leider auch schonungslos den Investitionsrückstau bei der Bahn offengelegt. Insofern muss es hohe Priorität für die Ampel-Bundesregierung haben, ihren ursprünglichen Anspruch der gesellschaftlichen Erneuerung bei der Umsetzung ihrer Krisenbewältigungsstrategie nicht aus dem Blick zu verlieren.
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