Sant’Anna: Geschichten des Überlebens

In Sant’Anna di Stazzema wird im August an das Massaker von 1944 erinnert, bei dem 560 Zivilist:innen von SS-Truppen getötet wurden. Unsere Bürger:innen-Redaktion berichtet über Mut, Verlust und die Pflicht des Erinnerns.
  • Im Jahr 1944 massakrierten SS-Truppen in Sant’Anna di Stazzema 560 Zivilist:innen, darunter viele Kinder; das Verbrechen wurde juristisch nie geahndet.
  • Junge Menschen aus Konstanz lernen durch ein Uni-Projekt die Überlebenden kennen und fördern das Gedenken durch Ausstellungen.
  • Überlebende wie Enrico Pieri berichten von schrecklichen Verlusten, Mut und der Pflicht, die Geschichte weiterzugeben.
  • Das jährliche Jugendcamp „Campo della Pace“ schafft durch Begegnungen und Projekte eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

Es ist bereits dunkel, als wir den steinigen Weg stillschweigend hinauf steigen, der vom Kirchplatz in Sant’Anna di Stazzema zum Ossario führt. In der Hand halten wir eine brennende Stabkerze, die einzige Beleuchtung für unseren Gang nach oben. Wir gehen im Rhythmus der Glockenschläge, die Stimmung ist andächtig, bedrückend, berührend – alles zugleich. Mit uns gehen viele andere, bekannte und unbekannte Gesichter. Alle gemeinsam und doch jede:r für sich bestreiten wir diesen Weg am Abend des 11. August 2024.

Nächster Tag, derselbe Ort. Es ist heiß. Die toskanische Sonne rückt Stück für Stück vor und lässt den Schatten, den der Turm des Ossarios wirft, zurückweichen. Direkt um den Turm herum stehen dicht an dicht Menschen in ihren Trachten und Uniformen und halten gonfaloni, Banner, hoch. Auf Kommando heben und senken sie die Banner, zu Ehren der Redenhaltenden und zu Ehren der in diesen Reden genannten Menschen. 

Viele von ihnen sind Teil der Menge, die sich auf dem großen Platz unter Schirmen vor der Sonne zu schützen versucht – hunderte Menschen sind es. Was treibt so viele Menschen dazu, sich in der brütenden Augusthitze auf einem Hügel in der Nähe eines kleinen toskanischen Bergdorfes zu versammeln? Warum sind wir in der Nacht davor mit Kerzen auf diesen Hügel gestiegen?

Der Grund dafür ist vor genau 80 Jahren passiert. Am 12. August 1944 überfielen Einheiten der SS das toskanische Bergdorf Sant’Anna di Stazzema. Auf brutalste Weise massakrierten deutsche Soldaten 560 Bewohner:innen; Frauen, Kinder, alte Menschen. Anna Pardini war das jüngste Opfer, gerade 20 Tage alt. 

Auf dem Weg nach Sant’Anna die Stazzema im August 2024. | Foto: Privat

Am Morgen des 12. August 1944 verübten Soldaten der sogenannten 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ ein grausames Massaker an der Zivilbevölkerung im italienischen Bergdorf Sant’Anna di Stazzema in der Toskana. Aus vier verschiedenen Richtungen kamen die Soldaten, um im Deckmantel einer sogenannten Partisanenbekämpfungsaktion unschuldige Zivilist*innen systematisch und brutal zu ermorden. Dabei verloren 560 Menschen, darunter viele Frauen, Kinder und ältere Menschen, ihr Leben. Nach Marzabotto stellt dieses kriegsverbrecherische Ereignis damit das zweitgrößte Massaker deutscher Verantwortung während des Zweiten Weltkrieges in Italien dar.

Lange Zeit fand das Massaker von Sant’Anna kaum Beachtung, erst ab den 1990er Jahren wurde zunächst von italienischer, später auch von deutscher Seite gerichtlich ermittelt. 2005 wurden zehn der bis dato noch lebenden Täter vom Militärgericht in La Spezia zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Von der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die seit 2002 ermittelte, wurden die Ermittlungen 2012, begründet mit einem Fehlen des Mordtatbestands, eingestellt. Damit bleibt das Verbrechen bis heute juristisch ungesühnt.

Deswegen sind die Überlebenden hier, die Politiker:innen, die Aktivist:innen, die hohen Beamt:innen, die vielen Menschen. Um an diejenigen zu erinnern, die dann nicht mehr hier waren. Um zu gedenken und um deutlich zu machen, dass das nie wieder sein darf – „mai piu Sant Anne“ (Nie wieder Sant’Annas1), betont der Überlebende Enrico Pieri.

Wer sind wir?

Aber von vorn und langsam. Wie kommen wir dazu, an diesen Tagen dort in Sant’Anna mit dabei zu sein? 

Wir – junge Menschen aus Konstanz – haben die Geschichte Sant’Annas und die Geschichten der Überlebenden über das Jugendcamp „Campo della Pace“ und das interdisziplinär ausgerichtete Ausstellungs- und Lehrprojekt „ÜberLeben erzählen“ der Universität Konstanz kennengelernt. Im Mai 2024 fährt eine Gruppe Studierender mit den projektverantwortlichen Maria Lidola (Ethnologin) und Sarah Seidel (Literaturwissenschaftlerin), sowie mit Petra Quintini, Initiatorin des Campos und dem Filmemacher Mark Dölling nach Sant’Anna. 

Dort treffen wir Überlebende und Teile ihrer Familien, Personen aus der Justiz und Politik sowie Kunstschaffende und sich engagierende Menschen. Ihre Erzählungen dokumentieren wir filmisch, auditiv und fotografisch, um die daraus entstandene multimediale Ausstellung „Raccontare la sopravvivenza“ („ÜberLeben erzählen“) am Vorabend des 80. Jahrestages in Sant’Anna zu eröffnen. 

Die Ausstellung „ÜberLeben erzählen“ wurde unter der Leitung von Maria Lidola und Sarah Seidel sowie mit großer Unterstützung von Petra Quintini von rund 40 Studierenden der Universität Konstanz umgesetzt. In dem interdisziplinären Ausstellungs- und Lehrprojekt zwischen Ethnologie und Literaturwissenschaft wird dabei den unterschiedlichen Möglichkeiten des Erzählens, Erinnerns und Gedenkens grausamer Verbrechen nachgegangen.

Im Mittelpunkt stehen die Erzählungen der Überlebenden des Massakers von Sant’Anna, ihrer Nachfahren und die späteren individuellen und öffentlichen Aufarbeitungen. Die Ausstellung wurde bereits vom 11. bis 25. August 2024 in Sant’Anna di Stazzema gezeigt. Vom 20. November bis 5. Dezember 2024 war sie im StadtPalais in Stuttgart zu sehen und vom 14. bis 31. Mai 2025 im Bürgersaal in Konstanz.

Der Überlebende Mario Marsili spricht vor den Studierenden der Universität Konstanz in Sant’Anna di Stazema im Mai 2024. | Foto: Universität Konstanz / Maria Lidola

Das „Campo della Pace“ ist ein deutsch-italienisches Jugendcamp. Jedes Jahr vom 03. bis 14. August fahren 20 Teilnehmer:innen zwischen 17 und 26 Jahren nach Pruno in den Apuanischen Alpen. Dort lernen sie sich und die Geschichte Sant’Annas kennen. Der Höhepunkt ist die Teilnahme an den Feierlichkeiten rund um den Jahrestag des Massakers. Das Campo ist für die Beteiligten eine intensive Zeit, mit vielen Gefühlen und bewegenden Begegnungen.

Deswegen stehen wir an diesem heißen 12. August 2024 mit all den anderen auf dem Hügel des Monumento Ossario Sant’Anna di Stazzema. Weil wir uns intensiv mit diesem Massaker auf verschiedene Weisen auseinandergesetzt haben, weil es wichtig ist, dass Menschen, besonders junge Menschen, davon wissen und weil es wichtig ist, dass diese Geschichten weitererzählt werden. Deswegen schreiben wir diese Artikel, deswegen wollen wir euch, liebe Leserinnen und Leser, teilhaben lassen: an den Geschichten des Überlebens.

Die Anfänge

Wie kam es dazu, dass seit 2017 jedes Jahr junge Menschen auch aus Deutschland nach Sant’Anna kommen? 

Aus der Zeitung erfuhr Petra Quintini von dem Prozess in Stuttgart, bei dem die in Italien schon verurteilten deutschen Täter auch in Deutschland verurteilt werden sollten. Schleppende Ermittlungen seitens der Staatsanwaltschaft und die fehlende Aussicht auf ein Urteil erregten Aufsehen und Widerstand. Petra Quintini fuhr deshalb nach Stuttgart, vernetzte sich mit anderen Aktivist:innen und Vereinen, wie etwa den AnStiftern, und Menschen, die die Überlebenden von Sant’Anna unterstützen und juristisch vertreten. 

Daraus entstand eine tiefe Verbundenheit zwischen deutschen und italienischen Protestierenden und Überlebenden. Die ausbleibende Gerechtigkeit, dass in Italien schon verurteilte Täter in Deutschland juristisch nicht belangt werden, veranlasste auch Überlebende dazu, die weite Reise von Sant’Anna nach Stuttgart anzutreten. Trotz des zivilen Protestes: Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden 2012 eingestellt, begründet mit einem Fehlen des Mordtatbestands.  

Im Zuge dieser deutsch-italienischen Vernetzung fuhr auch Petra Quintini gemeinsam mit anderen Deutschen nach Sant’Anna, um dort die Überlebenden zu treffen. Ungewiss, wie die Überlebenden den Besuch aus Deutschland empfangen würden, dem Land, aus dem die Täter kamen und in dem es knapp 70 Jahre später nicht einmalzu einem Prozess gekommen ist. Anders als befürchtet, wurde die kleine Reisegruppe mit offenen Armen empfangen. 

„Danke, danke, dass ihr hier seid!“

Die Überlebenden freuten sich, dass Deutsche gekommen waren, um ihnen zuzuhören und diese Geschichte weiter zu tragen. Besonders einer der Überlebenden, Enrico Pieri, spielte in den Erzählungen, die wir gehört haben, eine tragende Rolle. 

Enrico Pieri, einer der wenigen Überlebenden des SS-Massakers in Sant’Anna di Stazzema 1944, verlor bei diesem Verbrechen seine gesamte Familie und wurde später zu einem wichtigen Zeitzeugen. | Foto: Markus Haist / Vereinigung Deutsch Italienischer Gesellschaften e.V.

Enrico Pieri

Als die SS-Truppen im Morgengrauen des 12. August 1944 kamen, war Enrico Pieri zehn Jahre alt. In Sant’Anna lebten zu diesem Zeitpunkt deutlich mehr Menschen als vor dem Krieg, weil viele ihre eigentlichen Häuser wegen der Zerstörung verlassen mussten und sie Zuflucht suchten im ruhigen, hoch in den Bergen gelegenen Sant’Anna. Fast alle Familien im Dorf hatten eine oder mehrere Familien aufgenommen. Ein Mann hatte die Bewohner:innen Sant’Annas gewarnt, dass Nazitruppen den Berg heraufkamen. Viele Männer konnten sich deswegen in den angrenzenden bewaldeten Hügeln verstecken. Man ging davon aus, dass die Nazis nur auf der Suche nach Männern waren und den Frauen, Kindern und alten Menschen nichts passieren würden. 

Enrico Pieris Vater und Onkel blieben allerdings bei der Familie, da sie aus Nahrungsnot am Tag zuvor eine Kuh geschlachtet hatten – ohne Genehmigung –  und sie die Familie vor Strafe schützen wollten. Als die SS-Soldaten das Haus der Pieris erreichen, eine Viertelstunde nach der Warnung, trieben sie alle Familien des Gehöfts Richtung Kirchplatz. Kurz darauf der Befehl, wieder umzukehren und alle Familien in eine Küche zu treiben. Die SS-Männer stellten sich am Eingang auf, luden ihre Maschinenpistolen und löschten in wenigen Augenblicken ganze Familien aus. Enrico Pieri überlebte mit Grazia, einer Tochter der Familie Pierotti, unter der Treppe versteckt, wo sonst Kartoffeln und Öl lagerten. 

Auch Grazias Schwester Gabriela überlebte, weil die auf sie gefallenen, toten Körper sie schützten. Die drei konnten das Haus nicht verlassen, weil überall SS-Soldaten waren mit ihren Maschinenpistolen. Sie konnten auch nicht heraus, als die Soldaten Stroh verteilten und alles anzündeten. Als es vor dem Haus ruhig wurde, schafften sie es, dem Feuer zu entkommen und sich zu verstecken. Erst am frühen Abend verließen sie das Versteck, und stiegen über die Bergkuppe, auf dem heute das Ossario steht, bis sie auf Familien trafen, die Enrico Pieri kannte. Erst dort konnten die Kinder anfangen zu weinen. 

Später lebte Enrico Pieri in der Schweiz und hörte dort zum ersten Mal nach langer Zeit wieder Deutsch, die Sprache der Täter. Das war sehr schmerzhaft. Vielleicht ist Enrico durch diese Erfahrung überzeugter Europäer geworden, der Völkerverständigung und den Abbau von Grenzen und Nationalismus als einzigen Weg für Frieden sieht. „Mai piu Sant’Anne“, sagte Enrico Piero immer. „Nie wieder Sant’Annas.“ Weil Sant’Anna kein Einzelfall war, kein Einzelfall ist, nicht in Italien und nicht in Europa. 

„Mir ist wichtig, mit den jungen Menschen zu sprechen, damit sie verstehen, woraus unser heutiges Europa entstanden ist, wie viel wir während des Zweiten Weltkrieges erleiden mussten, um ein freies, demokratisches und offenes Europa zu verwirklichen.

Doch heute ist die Gefahr enorm: Populismus und Nationalismus sind auf dem Vormarsch. Ich habe Vertrauen in euch!“ – Enrico Pieri

Damit Sant’Anna nicht vergessen wird, schreiben wir in den nächsten Artikeln über die Menschen, die Sant’Anna überlebt haben und die wir 2024 treffen durften: Adele Pardini, Giuseppe Cordoni, Enio Mancini und Mario Marsili. 


  1. Anmerkung der Autorin: Enrico Pieri spricht absichtlich von der Mehrzahl „Sant’Annas“. Damit möchte er betonen, dass Sant’Anna kein Einzelfall war und sich ein solches Massaker nicht wiederholen soll. ↩︎

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