In Konstanz kündigt sich der Sommer an. Ein paar wenige Spätzünder:innen holen das Rad aus dem Keller. Auf der Fahrradbrücke am Herosépark rauscht der Zweiradverkehr: Studentinnen auf Rennrädern, Essenslieferanten auf E-Bikes, Rentnerinnen mit Einkaufskorb, Kinder mit Stützrädern. Wer in Konstanz unterwegs ist, weiß: Hier regiert, fast immer, das Rad.
Zur gleichen Zeit in der nächst größeren Schweizer Stadt St.Gallen: In voller Fahrt reißt ein Mann an den Bremsen, sie quietschen. Ein Meter vor ihm zieht ein Betonmischer nach rechts. Für einen Moment schieben sich 30 Tonnen über den Fahrradstreifen. In St. Gallen kommt das täglich vor. Wie hier an der Fürstenlandstraße schützt die Radfahrenden an vielen Orten in der Schweizer Stadt nur die gelbe Farbe auf dem Asphalt vor Autos. Schon bei der nächsten Verkehrsinsel schneiden Autos und Lastwagen den Fahrradstreifen. Wer in St. Gallen „Velo“ fährt, braucht starke Nerven – und gute Bremsen.

Konstanz dient als Vorbild
Auf den ersten Blick rollt’s rund in Konstanz. Am Seerhein brettern jeden Tag Tausende Zweiräder über die Fahrradbrücke, die den Herosépark mit der Altstadt verbindet. Blau bemalter Asphalt und freie Fahrt – in Konstanz beginnt der Radtag wie in einem Werbevideo für skandinavische Städte. „Diese Velostraßen haben wir in St. Gallen noch nicht“, sagt Stefan Pfiffner. Er leitet die Verkehrsplanung in St. Gallen.
Auf den Konstanzer Hauptachsen flitzen an manchen Tagen bis zu 17.000 Radfahrende. Jedes Jahr lösen sie weit über drei Millionen Mal die Zählstelle am Herosépark aus.
Von 2016 bis 2026 baut Konstanz mit 25 Millionen Euro das Radnetz aus und folgt einem Masterplan Mobilität aus dem Jahr 2013. Das heißt: Fahrradwege begradigen, Bordsteine absenken, Abstellplätze schaffen. Nach einem Ausbau floriert nun auch der Radverkehr zur Universität Konstanz.
Doch auch die Radstadt am See ist noch nicht am Ziel. Auf den zweiten Blick zeigt sich: Es gibt Hindernisse – und Kritik. Ein Passant bestätigt das. Hin und wieder unterbrechen Autostraßen die Konstanzer Rad-Highways, um den Busverkehr nicht zu gefährden, moniert er. Ansonsten müssen Autos auf den Fahrradstraßen zurückstecken.

Auf der Eichhorn- und Jakobstraße, die im Mai tausende Füße und Räder auf dem Weg zum Campusfestival trugen, dürfen Autos Radfahrende überhaupt nicht mehr überholen. Nur hält sich leider kaum jemand daran.
Auch in Konstanz gibt’s noch viel zu tun
Auf der alten Rheinbrücke, die ins Stadtzentrum führt, fahren Autos auf fünf Spuren, während sich auf der einen Seite Spazierende drängen und auf der anderen Radfahrende eine schmale Bahn teilen. Die Breite dieses Wegs steht im Konflikt mit der Straßenverkehrsordnung. Immer wieder gibt es Initiativen, die fordern, eine der Autospuren in einen Radweg zu verwandeln.
Eine dieser Initiativen war die Aktion „Protected Bikelane #5“, organisiert von der Ortsgruppe Konstanz des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) gemeinsam mit dem Radentscheid Rad.i im März 2021: Bei einer Raddemo fuhren hunderte Radler:innen auf einem 1,4 Kilometer langen Rundkurs über die alte Rheinbrücke und durch die Innenstadt. Die Veranstaltung setzte sich für eine temporäre geschützte Radspur (Pop-Up-Bikelane) als Übergangslösung bis zu den geplanten baulichen Maßnahmen ein. Ein breites Bündnis aus zivilgesellschaftlichen Gruppen unterstütze das Vorhaben. Bis heute aber ist die Situation auf der Brücke weitgehend unverändert.

Gregor Gaffga verantwortet als Radverkehrsbeauftragter seit 2016 das Radsystem für die Stadt Konstanz. Er fügt auf Anfrage hinzu: „Unsere Radwege stoßen bei wachsendem Verkehr an ihre Grenzen.“ Sein Team schaffe daher mehr Platz für Fahrräder, „durch Tempo-30 auf der Fahrbahn und neue Flächenverteilungen“. Gaffga fordert mehr Fahrradstraßen und -zonen, wo Radfahrende Vorrang haben. Entlang der Bahnlinien will er Geh- und Radweg trennen und beide verbreitern. Das Ziel seines Teams sei, „ein faires Miteinander im Verkehr“ zu schaffen und mehr Menschen dafür zu gewinnen, sich gerne aufs Rad zu setzen. Eine junge Frau verweist auf die Altstadt, den Bahnhof und auf Schulen: Dort fehlen Fahrradständer.
„Für sicheres und bequemes Parken an Bahnhöfen oder für hochwertige Räder gibt es noch Verbesserungsbedarf“, bestätigt Gaffga.
Angesichts der klammen Stadtkasse befürchten viele, dass das geplante Fahrradparkhaus am Bahnhof nie kommen wird. Das sähe 700 Stellplätze vor. Realistischer scheint da eine Sammelanlage am Haltepunkt Petershausen oder neue Angebote im Parkhaus Europabrücke, wie sie Gaffgas Team in Teilen schon für dieses Jahr vorsieht. Von den vielen Abstellplätzen am Bahnhof St.Gallen könne Konstanz lernen, sagt Gaffga.
Diese Mängelliste ließe sich lange weiterführen. Trotz der Defizite zeigt die Tendenz aber nach oben. Im internationalen Vergleich steht Konstanz bemerkenswert gut da. Mitunter ist auch schön zu sehen, dass nicht immer die Schweiz als Musterschülerin glänzt.
Das Fahrgefühl unterscheidet sich deutlich
Gregor Gaffga setzt noch eins drauf. Er sagt: „Wir denken größer und planen eine neue Brücke über den Seerhein nur für Rad- und Fußverkehr.“ Die Brücke soll von der Wessenbergschule rüber zum Bodenseeforum führen. Mit einer Schnellradverbindung zwischen Konstanz und Singen will die Stadt eine weitere Lücke im Radnetz schließen.
Der Radverkehrsbeauftragte nennt den neuen Klimamobilitätsplan (KMP) des Landes Baden-Württemberg, der noch dieses Jahr beschlossen werden soll. Damit könne Baden-Württemberg bis zu drei Viertel vieler Projekte finanzieren. Mitte Mai präsentierte die Stadt Konstanz im Konzil den städtischen KMP. Der soll den CO2-Ausstoß im Verkehr senken, der für 20 Prozent der Treibhausgasemissionen in Konstanz verantwortlich ist. Bis 2035 sollen diese Emissionen auf O sein. Die Stadt will dafür den öffentlichen Nahverkehr ausbauen, mehr Radwege ermöglichen, dafür weniger und teurere Parkplätze. 430 Millionen soll das kosten. Ende April lehnte der Gemeinderat höhere Parkgebühren ab, die auch Geld in die Stadtkasse hätten spülen können. Ein erstes Zwischenziel des KMP wurde somit verpasst.
Der Klimamobilitätsplan ist ein Instrument des Landes Baden-Württemberg, das Städte und Landkreise dabei unterstützen soll, Klimaschutz und Mobilitätsentwicklung zusammenzudenken. Gesetzlich verankert wurde das Konzept 2020 im Klimaschutzgesetz des Landes. Seitdem wird es in mehreren Pilotkommunen erprobt. Auch Konstanz arbeitet inzwischen an einem eigenen Plan.
Im Zentrum steht dabei ein modellbasierter, datengetriebener Ansatz: Verkehrsmaßnahmen werden nicht nur politisch diskutiert, sondern hinsichtlich ihrer konkreten Klimawirkung geprüft. Ziel ist es, jene Maßnahmen umzusetzen, die nachweislich den größten Beitrag zur Reduktion der CO₂-Emissionen leisten. Das Land fördert solche Maßnahmen mit bis zu 75 Prozent. Ein finanzieller Anreiz, der besonders für klamme Kommunen relevant ist.
Die Zielvorgaben sind ambitioniert: 55 Prozent weniger Emissionen bis 2030, 77,5 Prozent bis 2035 – jeweils im Vergleich zu 2010. Der Klimamobilitätsplan soll dabei als strategisches Dach fungieren: Er bündelt bestehende Konzepte wie Klimaschutzstrategien oder Verkehrsentwicklungspläne, bewertet deren Effektivität und formuliert einen Umsetzungsplan mit konkretem Zeithorizont. Für Konstanz bedeutet das etwa mehr strategische Steuerung und idealerweise einen klaren Fahrplan, wie die Stadt den Verkehr klimafreundlicher und zugleich lebenswerter gestalten kann.
Schon heute kommen Fahrradfahrende in der selbsterklärten „Radstadt Konstanz“ gut voran, sagt Gaffgas St.Galler Kollege, Stefan Pfiffner. Besonders Grenzgänger:innen spüren jeden Tag, wie unterschiedlich die Radnetze ausgebaut sind.
Während sie in Konstanz über größtenteils durchgängige Achsen gleiten, kämpfen sie sich in St. Gallen durch Baustellen und Blechkarawanen. Warum St. Gallen so deutlich hinterherhinkt, lässt sich nur mit einem Blick auf Zahlen, das Gelände – und politische Gewohnheiten erklären.
Stadt St. Gallen hechelt hinterher
Denn auf der anderen Seite des Bodensees sieht die Fahrradwelt anders aus. In St. Gallen fährt nur jeder zwanzigste Mensch täglich mit dem Rad. Schmale Velostreifen und gefährliche Engstellen prägen das Bild. 2021 schwangen sich nur 5 Prozent der Stadtsanktgaller:innen für alltägliche Wege innerhalb des Stadtgebiets aufs Rad. Pfiffner sagt: „Wir wollen bald die Zehn-Prozent-Hürde nehmen.“

Am Stadion des FC St. Gallen blockieren Baustellen, im Quartier Lachen enden Radwege im Nichts und vielerorts teilen Radelnde den Raum mit dem Fußverkehr, was beide nervt. St.Gallen hinkt weit hinter der deutschen Nachbarstadt, Amsterdam oder Kopenhagen hinterher. Pfiffner weiß das und sagt: „Wir werden in absehbarer Zeit keine Top-Velostadt werden.“
Auf St. Galler Straßen dominiert das Auto
Das Auto bleibt König, zumindest auf St.Gallens Straßen. Die Hälfte der St.Galler:innen fährt täglich mit dem Auto über die Straße – und damit zehn Prozent mehr als in Luzern oder Winterthur.

Woher kommt diese Asphaltallmacht des Autos? Pfiffner sieht viele Gründe. Bislang behindert die Hügellandschaft St. Gallens einen boomenden Radverkehr. Aber: „Mit dem E-Bike wird St. Gallen flach“, sagt Pfiffner. Zumindest theoretisch. Wer schon mal verschwitzt oben bei der Uni angekommen ist, hat da seine Zweifel. „Und außerdem sind wir eine enge Stadt“, ergänzt Pfiffner. In der Talsohle fehle es vielerorts an Platz für die Verkehrswende.
Hinzu komme das Wetter. Gerade Regen, Schnee und Eis vermiesen das Radfahren. Die Stadt profitiere von einem Winterdienst, der, wenn er Schnee räumt, das Fahrrad besonders berücksichtige. Im Winter türmen sich jedoch die Schneeberge gern dort, wo Velos fahren sollten. Wenigstens bringt die Klimakrise mehr Fahrradwetter mit sich. Ein schwacher Trost.
Und dann sei da noch generell die Radkultur. Radeln Eltern, machen es ihnen die Kinder nach, sagt Pfiffner. Er könne dazu keine Zahlen nennen, nur aus seinem Umfeld bestätigen: Ein Vorbild wirkt.
Bürgerlich-konservative Politik zementiert das Verkehrsmonopol
Doch nicht nur familiäre Vorbilder oder die Topografie prägen die Radkultur – auch politische Weichenstellungen haben über Jahrzehnte ihre Spuren hinterlassen. In den 1970er-Jahren fuhren viele Menschen in St.Gallen mit dem Fahrrad. In den 1990er-Jahren gab es in der Stadt St.Gallen eine „Veloinitiative“, die unter anderem Fahrradstationen brachte. Mit dem Agglomerationsprogramm der zweiten Generation entstand 2012 erstmals eine zusammenhängende Strategie.
Dazwischen, in den 1990er- und 2000er-Jahren, bewegte sich in Städten wie Konstanz deutlich mehr. Das lag auch an der St.Galler Politik. Pfiffner sagt: „In den letzten Jahrzehnten war St.Gallen sehr bürgerlich geprägt und autofokussiert.“ Das heißt: Bürgerliche Politik priorisiert das Selbstbestimmungsrecht der Bürger:innen und betont die wirtschaftliche Eigenverantwortung sowie eine zurückhaltende Rolle des Staates. Das Velo kam unter die Autoräder.
Oft hemmte ein Henne-Ei-Problem die St.Galler Bürgerschaft: Wenn so wenig Leute das Zweirad nutzen, warum sollten wir das Radwegnetz ausbauen? Inzwischen hat ein Umdenken eingesetzt. Damit mehr Menschen aufs Fahrrad steigen, könnte die Stadt zweigleisig fahren: die Infrastruktur ausbauen – und gleichzeitig den Autoverkehr bremsen, etwa mit höheren Parkgebühren.
Ein aktuelles Beispiel aus Konstanz zeigt, wie komplex solche verkehrspolitischen Entscheidungen sein können: Im Mai 2025 lehnte der Gemeinderat einen Antrag von SPD sowie FGL & Grüne ab, der höhere Parkgebühren mit vergünstigten Bustickets verknüpfen wollte. Ziel des Antrags war es, den öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen und gleichzeitig den Autoverkehr zu steuern.
Die Debatte darüber war kontrovers. Befürworter:innen betonten die soziale und ökologische Wirkung günstiger Tickets, Kritiker:innen verwiesen auf mögliche Belastungen für Menschen aus dem Umland und den Handel. Ein Finanzierungsplan für das vorgeschlagene 1-Euro-Ticket lag nicht vor, was parteiübergreifend kritisiert wurde. Letztlich fand weder der Antrag noch der ursprüngliche Vorschlag der Verwaltung eine Mehrheit.
In St.Gallen tut sich was
Damit es in der hügeligen Stadt vorwärtsgeht, hat das Stadtparlament vor knapp drei Jahren die Veloinitiative gutgeheißen. Bis Ende dieses Jahres sollen 15 Millionen Franken in 15 Projekte fließen, von A wie Abstellplätze bis Z wie Zugänglichkeit.
Pfiffner sagt: „Wir sind sehr hoffnungsvoll, dass uns der E-Bike-Boom weiterhin trägt und dass mehr Leute Velo fahren, wenn wir bei der Infrastruktur nachlegen.“ Das linkere Stadtparlament unterstütze die Vorhaben seines Teams. Die Finanzhilfen vom Bund geben weiteren Rückenwind.
Mittlerweile ist das urbane Leben auf Fuß-, Rad- und auf den öffentlichen Verkehr fokussiert, sagt Pfiffner. Wie in Konstanz gelte in St.Gallen: „Das Velo ist das cleverste Verkehrsmittel für verschiedene Zwecke.“ Auf den Konstanzer Fahrradstraßen ist das längst bekannt. Während St.Gallen noch Velowege skizziert, fahren sie in Konstanz schon darauf. Damit auch St.Gallen bald aufsattelt, braucht es mehr als Vergleiche – es braucht den politischen Willen, das Velo ernst zu nehmen.
Parkgebühren rauf, Buspreise runter? Gemeinderat sagt Nein
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