In zwei Wochen ist es mal wieder so weit: Die Schweizer:innen werden an die Wahlurnen gebeten. Am 18. Juni geht es unter anderem um ein Klima- und Innovationsgesetz, mit dem die Schweiz ihren Energieverbrauch reduzieren will – bis 2050 wollen unsere Nachbar:innen klimaneutral sein. Zudem wollen Bundesrat und Parlament den von der OECD-Mehrheit beschlossenen Mindeststeuersatz von 15 Prozent für Großkonzerne einführen.
Es wird die erste Volksabstimmung in diesem für die Schweiz relativ späten Jahr sein. Allein seit dem Jahr 2000 gab es 70 nationale Abstimmungssonntage, an denen über 188 Volksinitiativen und Referenden entschieden wurde. Toll, das ist politische Partizipation pur, heißt es oft über die weltweit wohl bekannteste Form der direkten Demokratie. Doch mal im Ernst: Das ist eine romantisch verklärte Einschätzung der realen Verhältnisse. Die direkte Demokratie in der Schweiz ist genauso gut oder schlecht wie die parlamentarische Demokratie, in der wir leben – und umgekehrt. Mit anderen Worten: Ein reines Loblied auf die schweizerischen Verhältnisse verkennt deren Tücken.
Sieht eine repräsentative Mehrheit so aus?
Wer es trällert, könnte zum Beispiel bei diesen Misstönen ausrutschen: 52, 40, 44. Das sind die gerundeten Wahlbeteiligungen der drei Abstimmungssonntage 2022. Das sind keine Ausreißer nach unten, sondern entspricht seit Jahrzehnten der Norm. Bei knappen Entscheiden hat also vielleicht nur jeder Vierte über die Zukunft abgestimmt.
Sieht so eine repräsentative Mehrheit aus? Oder sollten wir uns freuen, dass bei unseren vermeintlich wichtigen Wahlen auf Bundes- und Landesebene bis zu drei Viertel ihre Stimme abgeben?
Im Hinterkopf höre ich den Einwand: Aber es ist doch eine freie Entscheidung, nicht wählen zu gehen. Das ist erstens richtig, zweitens ein Segen, aber drittens nur ein Teil der Wahrheit. Denn für die Schweiz wie für Deutschland gilt: Bestimmte soziale Gruppen beteiligen sich eher als andere. Je höher zum Beispiel der Bildungsgrad, desto eher wird gewählt. Außerdem dürfen – bis auf wenige kantonale Ausnahmen – nur volljährige Schweizer Bürger:innen abstimmen, Ausländer:innen schauen zu.
Kritik an der Schweizer Demokratie
Also noch einmal: Wie vorbildlich ist die Schweizer Demokratie wirklich? Oder ist es nicht eher eine Geschmacksfrage, welches System einem gefällt? Kurze Antwort: Die „richtige“ Demokratie gibt es nicht, jede hat ihre Vor- und Nachteile.
Nach Kritikpunkten muss man in der Schweiz wahrlich nicht lange suchen: Ermüdungserscheinungen durch zu viele Abstimmungen; fehlende Zeit und Lust, sich jeweils ausreichend über die Themen zu informieren; gefährdete Minderheiten, die im Gegensatz zu unserer Verfassung weniger gut vor der Mehrheitsmeinung geschützt sind.
Quoren für die Beteiligung an Abstimmungen, also eine vorgeschriebene Zahl von anwesenden stimmberechtigten Mitgliedern oder abgegebenen Stimmen, gibt es ebenfalls nicht. Was einmal zur Abstimmung zugelassen ist (bei von Bürger:innen initiierten fakultativen Referenden sind hierfür 50.000 Unterschriften notwendig, bei der Volksinitiative 100.000), dessen Ergebnis steht fest. Selbst dann, wenn kaum jemand zur Abstimmung geht.
Unvergessen ist auch die Volksinitiative eines Zusammenschlusses nationalkonservativer und rechtspopulistischer Parlamentarier, die 2009 zum sogenannten Minarettverbot führte. Mit provokativen Plakaten wurde vor einem vermeintlich überbordenden islamistischen Terrorismus gewarnt. Dass die Minarette auf den Motiven wie Langstreckenraketen aussahen, war kein Zufall. Eine Mehrheit der Schweizer:innen störte sich daran nicht und stimmte einem Verbot von Minaretten zu.
Politik den Profis überlassen
Ein Sieg der Demokratie? Oder ein Sieg der lauteren Populist:innen? Es war nicht das erste Mal, dass mit Botschaften jenseits der Gürtellinie und des erträglichen Geschmacks für oder gegen einen Antrag geworben wurde. Und es wird auch nicht das letzte Mal sein.
Ich bin ein Freund der politischen Partizipation. Die neuen Bürger:innenräte finde ich charmant, auch einer neutral austarierten Expertokratie durch gewählte Fachleute kann ich in Sachfragen einiges abgewinnen. Spätestens als ich für diese Kolumne noch einmal nachgeschaut habe, welche Parteipräferenz die größte Schnittmenge mit dem Wechsel zur direkten Demokratie aufweist, hatte ich nur noch wenig Lust darauf: 82 Prozent der AfD-Anhänger halten das für die beste Form. Manchmal muss man Politik eben doch den Profis überlassen, trotz der Nachteile.