„Wir müssen viel offener darüber reden, welche Kultur heute relevant ist“

Kulturförderung ist ein schwieriges Geschäft. Irgendjemand fühlt sich immer benachteiligt. Der Wunsch nach mehr Gerechtigkeit ist groß. Auch in Konstanz. Aber darf Gerechtigkeit in der Bewertung von Kunst überhaupt eine Rolle spielen? Ein Interview mit der Kulturwissenschaftlerin Theres Inauen.
Michael ist Lokaljournalismus-Ultra. Er findet: Kaum ein Instrument…

Frau Inauen, wie könnte man Kulturförderung gerechter machen?

Gegenfrage: Was bedeutet denn „gerecht“? Wenn eine Jury alle eingegebenen Projekte ausführlich diskutiert und sich schließlich für eines entscheidet? Wäre es gerechter, wenn bei vergleichbaren Projekteingaben am Schluss einfach das Los entscheidet? Ist ein Mehrheitsentscheid gerecht? Oder ist es gerecht, wenn nach einem Ausschlussverfahren entlang enger Kriterien ausgewählt wird? Gerechtigkeit in der Kulturförderung ist letztlich immer eine Verhandlungs- und Definitionsfrage.

Und damit auch eine Machtfrage.

Das spielt natürlich rein: Wer hat überhaupt die Möglichkeit, bei solchen Verhandlungen mitzutun, Kriterien mitzubestimmen und förderwürdige Projekte auszuwählen? Schließlich geht es dabei darum, welcher Kultur per Förderung Sichtbarkeit verliehen wird und welche Inhalte und Positionen unsichtbar bleiben.

Theres Inauen (*1985) ist in Appenzell aufgewachsen und lebt in Basel. Sie studierte Kulturanthropologie und Kunstgeschichte an der Universität Basel und war von 2014 bis 2019 wissenschaftliche Assistentin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel, aktuell ist sie Lehrbeauftragte an der Universität Basel sowie an der Hochschule Luzern Design & Kunst.

In ihrem Dissertationsprojekt begleitet sie den Aufbau der Schweizer Stiftung Erbprozent Kultur und fragt nach gegenwärtigen Veränderungsprozessen im Feld der Kulturförderung. Neben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit kulturpolitischen Themen engagiert sie sich in verschiedenen Kulturprojekten: dem interdisziplinären Festival Kulturlandsgemeinde in Appenzell Ausserrhoden, dem Wissensportal AppenzellDigital., HUMBUG, Veranstaltungshalle für Live-Kultur in Basel und anderen.

Für die Kulturstiftung des Kantons Thurgau saß sie in der Jury des 2021 neu ausgeschriebenen Wettbewerbs „Ratartouille“. Hier entscheidet das Publikum an einer Abendveranstaltung, wer 100’000 Franken für die Realisierung eines neuen Festivals erhält.

Mal anders gefragt: Kann Gerechtigkeit überhaupt eine Kategorie bei Kulturförderung sein? Eigentlich sollte es ja um so etwas wie eine künstlerische Leistung gehen.

Die Frage nach der Gerechtigkeit kann den Blick auf das verstellen, worum es eigentlich geht in der Kulturförderung. Dennoch scheint mir die Frage nach den Wegen und Zielen von Kulturförderung schon legitim: Kulturpolitik und Kulturförderung sind ja immer auch mit gesellschaftspolitischen Zielen verknüpft. Je nach Kulturförderakteur:in – sei es eine Stiftung, eine Mäzenin oder der Staat – sind die Interessen, Kultur zu fördern, verschieden. Zielt eine Förderinstitution auf die Förderung einer herausragenden künstlerischen Leistung ab? Möchte sie Laborräume für Neues eröffnen? Oder geht es ihr um die Aufrechterhaltung einer Nischenkultur? Je nach Ziel sind die Wege anders, und es verschiebt sich auch die Diskussion um gerechte Förderung.

„Die Mittel, mit denen Pop- oder Volkskultur gefördert werden, sind weiterhin marginal im Vergleich zur Finanzierung der klassischen Institutionen wie Opernhäuser, Theater oder Museen.“

Theres Inauen, Kulturwissenschaftlerin

Was soll Kulturförderung heute überhaupt leisten?

Kultur entsteht im Kontext von Gesellschaft im Wandel. Kulturförderung sollte sensibilisiert sein für gegenwärtige Prozesse gesellschaftlichen Wandels und diejenige Kultur fördern, die diese durchaus herausfordernden Prozesse mitgestaltet, sie befragt, kommentiert und reflektiert. Ich wünschte mir, dass die Förderung von Kultur heute immer weniger in einem kleinen, relativ geschlossenen Feld von Expert:innen geschieht, sondern die Verhandlung über die „relevante“ Kultur für die heutige Gesellschaft möglichst offen und breit geführt wird.

Aber was ist ein Wettbewerb noch wert, wenn jede:r mitreden und nach Gefühl und Geschmack urteilen kann, was gut ist und was schlecht ist? Höhlt man damit nicht das Expert:innenwissen aus?

Kulturförderung, die einer vielfältigen Gesellschaft „gerecht“ werden will – hier komme ich auf die vorhin diskutierte Kategorie nochmals zurück – sollte bestimmte Sichtweisen nicht einfach als „Geschmack“ abwerten. Ich finde es zu kurz gegriffen, wenn der breiten Bevölkerung eine differenzierte Urteilsfähigkeit in der Sache Kultur abgesprochen wird und nur ausgewiesene Expert:innen mitdiskutieren können. Anstatt unterhaltsame Wettbewerbe bräuchte es viel mehr ernst gemeinte Verhandlungstische.

Hoch die Hände, Wochenende: Kulturförderung darf nicht in verschlossenen Zirkeln geschehen, sie muss sich öffnen. Auch für die Wünsche des Publikums. Das ist eine der Thesen der Kulturwissenschaftlerin Theres Inauen.

Andererseits: Wenn Kunst mal mehrheitsfähig ist, braucht es keine Kulturförderung mehr.

Das ist ein schwieriges Argument: Der Einbezug von Publikum muss ja nicht nur heißen, einen Voting-Button zu drücken, sondern kann auch bedeuten, das Publikum ernst zu nehmen, zu respektieren, dass im Publikum differenziertere Qualitätskriterien vorhanden sind als bloß „finde ich schön“, „finde ich nicht schön“, „Daumen hoch/Daumen runter“.

„Der Einbezug von Publikum muss ja nicht nur heißen, einen Voting-Button zu drücken, sondern kann auch bedeuten, das Publikum ernst zu nehmen.“

Theres Inauen, Kulturwissenschaftlerin

Wie sieht denn aus Ihrer Sicht ein idealer Kulturförderprozess aus?

Zeitgemäße Kulturförderung ist für mich diejenige Kulturförderung, die sich konsequent selbst mit thematisiert und nicht nur im eigenen geschützten Kosmos stattfindet. Was am Schluss gefördert wird, ist für mich erstmal zweitrangig; erst gilt es, die Förderstrukturen in den Blick zu nehmen: Dort würde ich mir wünschen, dass neue Positionen dazu kommen, damit neue Diskussionen entstehen können, auch neue Diskussionen über Qualitätskriterien oder über Verfahren.

Wie könnte das konkret aussehen?

Förderinstitutionen sollten es zum Beispiel wagen, Expert:innengremien anders zu besetzen. Dabei gilt es, die Frage von Expertise mutig neu zu denken. Also zu sagen, Expertise definiert sich nicht nur aufgrund von Fachwissen, sondern auch aufgrund biografischer Erfahrungen oder gesellschaftlicher Positionierungen. Aus vielfältigen Perspektiven werden Projekte bestimmt anders diskutiert und beurteilt.

Das finde ich schwierig. In der Kultur bemüht man sich seit Jahrzehnten um einigermaßen objektivierbare Kriterien zur Bewertung von Kulturschaffen. Und jetzt soll plötzlich die Lebenserfahrung wichtiger sein als das Fachwissen?

Es geht ja nicht darum, Lebenserfahrung wichtiger zu stellen als Fachwissen. Aber vermutlich können neue Diskussionen erst entstehen, wenn die etablierten Runden etwas aufgebrochen und die einmal festgelegten Kriterien immer wieder neu verhandelt werden.

„Expertise definiert sich nicht nur aufgrund von Fachwissen, sondern auch aufgrund biografischer Erfahrungen oder gesellschaftlicher Positionierungen.“

Theres Inauen, Kulturwissenschaftlerin

Der Kulturbegriff hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt: Wie kann, und vielleicht sogar muss, Kulturförderung darauf reagieren?

Kulturförderung muss sich auf jeden Fall positionieren. Es scheint mir weiterhin legitim, wenn eine Stiftung exklusiv eine Art von Musik fördert, weil ihr das wichtig ist, um eine bestimmte Nische am Leben zu halten. Genauso legitim ist es zu sagen, wir begleiten mit unserer Kulturförderung gesellschaftlichen Wandel, indem wir innovative, noch nicht gänzlich absehbare Projekte fördern. Öffentliche wie private Förderinstitutionen müssen die Frage beantworten, wie sie sich zum gesellschaftlichen Wandel und dem Wandel des Kulturbegriffs stellen wollen: Wollen sie diesen mitgestalten und neue Felder ausloten? Welche gesellschaftliche Relevanz soll ihre Fördertätigkeit haben?

Kulturförderung sollte auch offen sein für neue gesellschaftliche Themen, findet die Kulturwissenschaftlerin Theres Inauen.

Wie sehr müssen sich Institutionen da auch selbst hinterfragen?

Darum kommen sie wohl nicht rum. Sich mit Wandel auseinanderzusetzen bedeutet einerseits über inhaltliche Gewichtungen nachzudenken: Wie wird das Geld verteilt? Und entspricht die heutige Verteilung dem Wandel des Kulturschaffens? Beispielsweise sind die Mittel, mit denen Pop- oder Volkskultur gefördert werden, weiterhin marginal im Vergleich zur Finanzierung der klassischen Institutionen – Opernhäuser, Theater, Museen. Aber es geht eben nicht nur darum, was gefördert wird, sondern auch wer fördert – es geht also auch um strukturelle Fragen.

Wie bekommt man diesen Veränderungswillen in eher veränderungsresistente Strukturen wie bürokratische Kulturverwaltungen?

Tja, gute Frage. Ich denke, dass es viel Mut von einzelnen Akteur:innen in diesem Feld braucht, etablierte Formen und Abläufe zu verändern.

Dieses Interview ist die gekürzte Version eines Interviews, das zuerst bei thurgaukultur.ch erschienen ist.