Community-Beitrag von Silva Schilling und Deborah Wiegand
Seit dem gemeinsamen Ankreiden bei @catcallsofkonstanz sind wir, Debbie und Silva, für uns gegenseitig zum feministischen must-have geworden. Das bedeutet, dass wir uns Raum zugestehen, miteinander ansozialisierte Geschlechterschranken hinterfragen und uns in unseren Gefühlen, vor allem der Wut, zu unterstützen. Aus dieser Haltung heraus wollen wir unsere Erfahrungen laut machen. Als Soundtrack zur Lektüre schlagen wir “Ich sage ja” von Blond und Power Plush vor.
Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt / häusliche Gewalt
Es ist Samstagabend, 20. Mai auf dem Campus Festival 2023 in Konstanz. Wir haben zwei intensive Tage erlebt, aber der Moment, in dem unsere Stimmung kippt, ist das Konzert des Headliners Marteria, der Wochen zuvor wegen Gewaltvorwürfen die Schlagzeilen füllte. An der Mainstage jubeln ihm Tausende eine Stunde lang zu, während Einzelne am Rand, uns eingeschlossen, nicht wissen, wohin mit ihren Emotionen. Unsere Wut, Ohnmacht und Enttäuschung kollidieren mit der überwältigenden Unbeschwertheit, die die Menschenmenge ausstrahlt. Auch jetzt, Wochen später, halten diese Gefühle noch an. Ein Blick in eine Kommentarspalte zu den Vorwürfen sexualisierter Gewalt um Rammstein-Sänger Till Lindemann reicht, um sie weiter zu befeuern. Wir wollen in diesem Artikel über unsere Erfahrungen beim Campus Festival und Marterias Auftreten reden. Gleichzeitig wollen wir auch thematisieren, warum unsere Gefühle kein Zufall sind. Denn egal ob wir über Marteria oder Till Lindemann sprechen, es ist ein Sprechen über ein strukturelles Problem.
„Strukturell“ bedeutet, dass das Problem nicht auf einzelne Personen zurückzuführen ist, sondern aus einem System ungleicher Machtverhältnissen heraus entsteht. Es gibt verschiedene Kategorien, die sich als relevant für das Sprechen über Ungleichheit erwiesen haben. Beispiele für solche Machtdimensionen sind Alter, Geschlecht, Hautfarbe oder soziale Klasse. Für eine kapitalistisch, patriarchal, klassistisch und rassistisch geprägte Gesellschaft bedeutet das auch, dass manche Menschen mehr Macht haben als andere. Daraus ergeben sich immer wieder ähnliche Probleme, die trotz ihrer Verschiedenheit einen gemeinsamen Ursprung haben.
Festivalsaison ist Belästigungssaison
Dafür spulen wir in die Zeit vor dem Campus Festival zurück. Neben der Vorfreude auf gute Musik, bunte Outfits und schöne Begegnungen auf dem Festival, bewegten uns auch viele Fragen und Sorgen. Im Zuge unserer Arbeit bei der feministischen Gruppierung „Catcalls of Konstanz“ und auch als weiblich gelesene Personen sind sexualisierte Übergriffe und Belästigungen für uns ein präsentes Thema. Was ohnehin schon Alltag für Frauen* und Queers ist, potenziert sich im Festivalkontext durch Alkoholkonsum und Menschenmassen auf ein Vielfaches. Po-Grapscher und Bewertungen des Äußeren stehen an der Festival-Tagesordnung genau wie glitzernde Wangen und heisere Stimmen. Zumindest für einen Teil der Besucher:innen. Daher unsere berechtigte Sorge: Wie steht es um Sicherheit und Sichtbarkeit für Frauen* und Queers auf dem Festivalgelände? Wir waren erst ernüchtert, dann wütend, denn zu diesem Zeitpunkt suchten wir auf der Instagram Seite des Campus Festivals vergebens nach Hinweisen auf ein Awareness-Konzept oder Sicherheitsmaßnahmen. Planmäßig sollte es also keinen Raum für die Erfahrungen von Betroffenen geben und sie müssen den Umgang und die Konsequenzen selbst schultern. Das Thema war schlichtweg unsichtbar.
Mit Kreide gegen sexualiserte Übergriffe
Unsere Bedenken haben wir beide mit „Catcalls of Konstanz“ geteilt und besprochen. „Catcalls of Konstanz“ ist die Konstanzer Ortsgruppe des international agierenden Vereins Chalkback und hat es sich zur Aufgabe gemacht, Catcalling als Form der sexualisierten Belästigung mit Hilfe von Straßenkreide sichtbar zu machen. Im Bewusstsein darüber, dass auch beim Campus Festival Übergriffe passieren könnten, haben wir gemeinsam mit den anderen Aktivist:innen unsere Möglichkeiten abgewogen. Schnell war klar, dass wir der Kreide treu bleiben wollen und haben deshalb ein großes Brett mit Hilfe von Tafellack in eine Kreidefläche verwandelt. Hier sollten Betroffene ihre Erfahrungen aufschreiben können, laut werden und eine Plattform bekommen. Nur wenige Stunden nachdem die Massen ins Bodenseestadion strömten, wurde bereits fleißig angekreidet. Übergriffe fanden also statt, sie waren meistens nur nicht sichtbar. Uns beiden wurde rückgemeldet, dass die Tafel einen Kanal geschaffen hat, Wut auszudrücken und Handlungsmacht in hierarchischen Machtverhältnissen zurückzuerlangen. Damit konnten wir Betroffenen zwar eine Stimme geben, es liegt aber auf der Hand, dass grundsätzlich Strukturen geschaffen werden müssen, in denen Übergriffe verhindert werden oder gar nicht erst stattfinden.
Crashkurs Feminismus: die Öffentlichkeit und der private Raum
Während wir über die Gefahren sprechen, die das Bewegen im öffentlichen Raum für Frauen* und Queers mit sich bringt, darf nicht aus dem Blick geraten, dass auch hinter verschlossener Tür sexualisierte Gewalt stattfindet. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend spricht von jeder vierten Frau, die „mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner wird“.
Auf dem Festival wird die Kreidetafel nicht nur für das Teilen persönlicher Erfahrungen genutzt, sondern auch, um partnerschaftliche Gewalt zu thematisieren. Die Anschuldigungen betreffen Marteria, den Headliner des Festivals. Und das bringt uns zurück zum Anfang dieses Artikels. Marteria wird als Künstler angekündigt, als sei nichts passiert, er tritt auf, als sei nichts passiert und die Masse feiert ihn, als sei nichts passiert. Alle Vorwürfe, die seit März im Raum stehen, werden unsichtbar gemacht. Ihm wurde vorgeworfen, Ende März seiner Freundin gegenüber in einem Streit gewalttätig geworden zu sein und sie stranguliert zu haben. Presseberichte verwiesen auf eine Veröffentlichung des Sheriffs von Charlotte aus Mecklenburg County. Daraus geht hervor, dass Marteria zunächst verhaftet und einige Stunden später auf Kaution freigelassen worden sei. Der Charlotte Observer schreibt, die Betroffene habe eine Zeuginnenaussage verweigert und ihre Verletzungen nicht untersuchen lassen wollen. Dadurch habe es dem Gericht an einer Verhandlungsgrundlage gefehlt und die Anklage wurde fallen gelassen. Marteria gab auf Instagram dann ein Statement ab, in dem er alle Vorwürfe abstritt und erklärte, wie schwer die vergangenen Wochen für das Paar gewesen seien. Sie hätten sich wieder vertragen und bitten darum, ihre Privatsphäre zu respektieren. Das Statement ist inzwischen von seinem Instagram-Account verschwunden.
“Denk’ ich bin ein Star alles dreht sich um mich.”
Wir beanspruchen nicht, beurteilen zu können, was genau am 30. März vorgefallen ist. Auf juristischer Ebene gilt die Unschuldsvermutung (siehe Infobox unten). In diesem Artikel geht es aber nicht um eine rechtliche Perspektive. Es geht darum, wie mit Fällen mutmaßlicher sexualisierter Gewalt im öffentlichen Diskurs umgegangen wird. Denn Fakt ist, dass bisher allein Marteria zu Wort kam. Er sprach in seinem Statement zwar von „wir“ und „uns“, unterschrieb es aber alleine. Es ist keine Seltenheit, dass vor allem diejenigen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, denen Gewalt vorgeworfen wird. Bislang schweigt die Betroffene zu den Vorfällen. Das kann alles bedeuten. Gesichert ist jedoch, dass die Dunkelziffer bei Fällen von häuslicher Gewalt enorm hoch ist, was nicht zuletzt an einem gesellschaftlichen Tabu liegt, das Betroffene zum Schweigen bringt. Das führt dazu, dass Opfer unsichtbar werden. Diese Fakten teilt unter anderem der Weiße Ring auf seiner Webseite.
Während die Betroffenenperspektive auf dem Festival zu keinem Zeitpunkt eine Stimme erhält und kaum sichtbar ist, wird Marteria kommentarlos im wahrsten Sinne des Wortes eine riesige Bühne geboten. Diese Gelegenheit nutzt er, um Stellung zu beziehen. Bei ihm sei einiges los gewesen, so Marteria gegen Ende seines Auftritts. Er sei gegen Gewalt und gegen Gewalt an Frauen, dafür stehe er als Künstler. Während er über dem Publikum steht, seine Stimme auf ein Vielfaches verstärkt – eine Situation, die nicht auf Dialog oder gar potenziellen Widerspruch ausgelegt ist – predigt er, was erst gar nicht zur Debatte stehen sollte. Damit konstruiert er eine eigene Betroffenheit, die nicht nur von tatsächlich Betroffenen ablenkt, sondern sie gänzlich unsichtbar macht. Der weitere Teil des Statements bleibt sehr vage, so ruft Marteria dazu auf „nicht zu spalten“ und stattdessen „Lösungen zu finden“. Es bleibt unklar, worauf er sich bezieht. Besorgte Stimmen dürfen aber nicht als Spaltungsversuche herabgewürdigt werden und Kritik hat auch einen Platz, wenn sie nicht im gleichen Atemzug mit einem Lösungsvorschlag geäußert wird.
- Weißer Ring (Telefon, Online Beratung, Beratung vor Ort)
- rubicon (bei Gewalt an Queers: Online oder per Telefon)
- Das Hilfetelefon (Telefon)
- Frauen helfen Frauen in Not e.V. (Telefon, Mail und in Konstanz vor Ort)
Laute und übertönte Stimmen
Und hier schließt sich der Kreis. Wer genau hingesehen hat, konnte auf der Kreidetafel und an den Toilettenwänden „Marteria ist Täter“ oder „Boykott Marteria“ lesen. Wir verstehen diese Statements nicht als Versuch, die komplexe Situation zu trivialisieren, sondern als Ausdruck der Wut über die eigene Machtlosigkeit. Auch die Mitglieder der Band Blond positionierten sich bei ihrem Konzert auf dem Campus Festival und forderten implizit zum Boykott Marterias auf, indem sie erklärten, dass sie selbst nicht bei dessen Konzert zu sehen sein werden. Was sich zunächst nach Gehört-werden und laut sein anfühlte, sollte sich im Laufe des Abends als Übertönt-werden herausstellen. Manche Schriftzüge wurden mit „Marteria = Künstler/Rapper“ überklebt. Und alle, die Marteria und seinen Auftritt gemieden haben, mussten den Massen weichen, die trotzdem bereit waren, ihm zuzuhören. Sie wurden schlichtweg durch diejenigen, die teilnahmen, überschattet. Alle Stimmen für Betroffene wurden damit – mal wieder – unsichtbar gemacht. Dieses Ungleichgewicht der Stimmen und das Übertönt-werden führte eben zu der Ohnmacht und Irritation, die wir und viele andere im Moment des Konzerts spüren. Die Machtverhältnisse waren und sind so überwältigend, dass unsere Gefühle und Sorgen keinen Raum hatten. Es fühlt sich so an, als ob niemand sieht oder einfach nicht sehen will, was wir, und hier sprechen wir als Frauen* und Queers, in solchen Momenten wahrnehmen.
Welche Rolle nimmt das Campus Festival als Veranstalter:in ein?
Ein Awareness-Post der Veranstalter:innen rief zu rücksichtsvollem Verhalten auf und erklärte, dass das „Festival kein übergriffiges, sexistisches oder diskriminierendes Verhalten“ duldet. Für uns steht das im Gegensatz zum Umgang beziehungsweise Nicht-Umgang des Campus Festivals mit der gesamten Situation. Wir sind uns der Komplexität des Geschehens bewusst und können auch erahnen, dass es für die Veranstalter:innen des Campus Festivals eine Herausforderung darstellt, damit umzugehen. Trotzdem oder gerade deshalb fragen wir uns, warum im Voraus und während des Festivals dazu geschwiegen wurde. Kein Statement bedeutet nicht, dass es dazu nichts zu sagen gibt, sondern ist ein Tolerieren der Umstände. Marteria wurde kommentarlos eine Plattform geboten. Gleichzeitig wurde hingenommen, dass Menschen mit Gewalterfahrungen getriggert werden könnten. Die Veranstalter:innen haben im Nachhinein mit einem Kommentar auf Instagram angemerkt, die Situation sei für sie als Veranstaltende komplex gewesen. In ihrer Erklärung beschränken sie sich aber lediglich auf die zeitliche Dimension und merken an, dass der Vorfall sich erst kurz vor Festivalbeginn ereignete. Das reduziert den Fall auf ein organisatorisches Problem. Wir hätten uns schon viel früher ein ausführliches Statement gewünscht, in dem transparent aufgezeigt wird, weshalb Marteria trotz aller Vorwürfe wie geplant auf der Mainstage auftritt. Das wäre auch die Gelegenheit gewesen, zu zeigen, dass Bedenken gehört und anerkannt werden. Das Ausbleiben einer solchen Stellungnahme zeugt von fehlender Sensibilität des Campus Festivals gegenüber Gewaltbetroffener und trägt damit zu deren Unsichtbarmachung bei. Mit seinem Schweigen befindet sich das Konstanzer Campus Festival in guter Gesellschaft. Marteria wird unter anderem auch beim Southside Festival, dem Zürich Openair und dem Taubertal Festival auftreten. Aber auch hier äußerten sich Veranstalter:innen bisher nicht zu den Vorwürfen ihres Headliners. Die Aussicht auf diesen Festivalsommer zeigt, dass Konstanz kein Einzelfall ist. Hinweise auf die sogenannte Unschuldsvermutung werden zum Totschlagargument umfunktioniert und die Sorgen der Betroffenen gehen unter.
Weniger Unsichtbarmachung, mehr Solidarität!
In feministischen Kreisen ist es eine gängige Praxis von „safer spaces“ statt „safe spaces“ zu sprechen, weil innerhalb patriarchaler Strukturen keine vollkommene Sicherheit für Frauen* und Queers gewährleistet werden kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns mit minimalen Awareness-Strukturen, Unsichtbarmachungen und Machtungleichgewichten zufriedengeben müssen. Wir wollen unsere Wut, Sorgen und Kritik sichtbar machen und hoffen, damit zumindest einen Teil der Betroffenenstimmen laut werden zu lassen. Wir wünschen uns und fordern, dass sich sowohl Veranstalter:innen als auch Künstler:innen ihrer Repräsentationsmacht bewusst werden und entsprechend Verantwortung übernehmen. Awareness ist ein ständiger Lernprozess und es liegt noch viel Arbeit vor uns allen. Also hört Betroffenen immer zu, macht sie und ihre Sorgen sichtbar und zeigt euch solidarisch!
Zunächst hatten wir geplant, einen impulsiven Meinungsartikel zu schreiben. Das war nicht möglich, weil wir das Risiko tragen, dafür rechtlich belangt zu werden. Wir haben trotzdem oder gerade deshalb das Bedürfnis laut zu sein. Weil zwischen Verfassen und Veröffentlichung des Artikels einige Zeit vergangen ist, haben wir uns entschieden, zusätzliche Infos bereitzustellen, um unsere Erfahrung einzuordnen.
Die Namen, die im Zusammenhang mit Vorwürfen sexualisierter Gewalt durch die Medien gehen, wechseln ständig. Trotzdem lassen sich Gemeinsamkeiten in allen Fällen finden – in der Art, wie über diese Fälle gesprochen wird. Nachdem Betroffene den Mut aufbringen, ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt zu teilen, entfachen öffentliche Debatten, die immer wieder ähnliche Positionen und Argumentationen hervorbringen. Neben Solidaritätsbekundungen werden auch Stimmen laut, die die Betroffenen diskreditieren. Das bedeutet, dass die Betroffenen wahlweise als aufmerksamkeitsheischend abgestempelt werden oder ihnen die Verantwortung für ihre Gewalterfahrung im Sinne einer Täter-Opfer-Umkehr zugeschoben wird. Dadurch verfestigt sich das ohnehin bestehende strukturelle Machtgefälle und wird so zur Bedrohung für (potentiell) Betroffene.
Bei Fällen sexualisierter Gewalt ist es schwierig, gerichtlich festzustellen, wer Recht hat, weil in der Regel Aussage gegen Aussage steht. Solange kein Nachweis der Schuld in einem Prozess erbracht wird, gilt eine Person als unschuldig. Das bedeutet aber nicht, dass nichts passiert ist, sondern nur, dass es keine Beweise gibt oder diese für einen Schuldspruch nicht ausreichend sind. Es geht aber um mehr als eine Schuldsprechung auf juristischer Ebene. Daher sind Konsequenzen aufgrund mutmaßlichen Verhaltens trotz Unschuldsvermutung gerechtfertigt. Es ist wichtig, nicht so zu tun, als sei nichts passiert, nur weil kein gerichtlicher Schuldspruch vorliegt. Solidarisches Verhalten mit Betroffenen sexualisierter Gewalt ist notwendig, damit sich auch Andere trauen, ihre Erfahrungen öffentlich zu machen.
karla: Gab es ein Awareness-Konzept und eine Anlaufstelle für von sexualisierter Gewalt betroffene Menschen?
Campus Festival: Wir wurden das zweite Jahr in Folge von nachtsam (Anm. d. Red. Fachberatungsstelle gegen sexuelle Gewalt) geschult, haben ein Awareness-Konzept und Anlaufstellen für Betroffene von sexueller Gewalt ausgearbeitet. @catcallsofkonstanz boten wir eine öffentliche Plattform und wir buchten ein ausgewogenes Line-up mit queeren und FLINTA* Acts. Auch vor Ort wurde konsequent und beherzt gehandelt. Übergriffiges Verhalten sanktionierten wir umgehend durch Platzverweise.
Wer hatte die Idee zum Kreideboard?
Die Idee ist von @catcallofkonstanz. Das ist ja deren Konzept mit dem „ankreiden“. Es war beispielsweise von einem:einer Besucher:in zu lesen, dass diese:r im Moshpit an den Po gefasst wurde. Wir setzten uns mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dafür ein, dass es auf dem Campus Festival nicht zu Handlungen sexualisierter Gewalt kommt. Kein Awareness-Konzept wird diese zu 100 % verhindern können und wir müssen uns eingestehen, dass unser Beitrag teilweise nur reaktives Handeln im Nachhinein, mit allen Konsequenzen für die Täter:innen, sein kann. Die Aufarbeitung und das Überwinden diskriminierender Strukturen ist eine politische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Wurden sexuelle Übergriffe bei euch gemeldet?
Bei unserem Team wurden verschiedene Vorfälle gemeldet, wobei die Art des Vorfalls variierte. Bei schwerwiegenden Vorfällen wurde die Veranstaltungsleitung hinzugezogen und entsprechende Maßnahmen ergriffen. Personen, die für Übergriffe verantwortlich waren, wurden von der Veranstaltung ausgeschlossen. Dies erfolgte durch die Entfernung des Festivalbändchens und die Begleitung durch das Sicherheitspersonal vom Gelände.
Wieso seid ihr trotz der Vorwürfe bei Marteria als Headliner geblieben? In Chemnitz hat der Jugendclub das Konzert abgesagt.
Es wäre uns rechtlich, nach dem Fallenlassen der Anklage, unmöglich gewesen, allein auf Mutmaßungen gestützt, den Vertrag mit Marteria zu kündigen. Angenommen, wir hätten Marteria vier Wochen vor dem Festival aus dem Line-up gestrichen, dann wären enorme Kosten auf uns Veranstaltende zugekommen, die in ihrer Konsequenz ziemlich sicher zu einer Insolvenz der Campus Festival Konstanz gGmbH geführt hätten. Darüber hinaus zeigt auch der Umgang anderer Acts, wie komplex die Situation ist. Einige Künstler:innen, die auch auf dem Festival aufgetreten sind, haben sich zu den Vorwürfen positioniert. Keiner dieser ist jedoch so weit gegangen, nicht auf dem Festival aufzutreten, um ein Zeichen zu setzen, dass sie nicht „gemeinsam“ mit Marteria performen. Die Verantwortung wurde vielmehr an die Veranstalter:innen abgegeben. Es sei an dieser Stelle betont, dass wir dankbar und froh sind, dass alle Auftritte stattfinden konnten. Wir wollen damit lediglich aufzeigen, dass die Abhängigkeiten und Strukturen der Musikbranche eine Bandbreite an Komplexität mit sich bringt, die teilweise erst auf den zweiten Blick erkennbar ist.
Die Veranstalter*innen brechen in der Stellungnahme ihren Handlungsspielraum auf ein Auftreten oder nicht-Auftreten von Marteria herunter und räumen keinerlei Mitverantwortung ein. Das äußert sich darin, dass sie auf gesamtgesellschaftliche Strukturen verweisen, ohne ihr eigenes Mitwirken an diesen zu reflektieren. Wir zweifeln die angesprochene Komplexität der Situation nicht an, sehen darin aber keine Handlungsohnmacht begründet. Außerdem liest sich die Stellungnahme des Campus Festivals im Hinblick auf unseren Artikel wie eine Reihe an Strohmann-Argumenten. Das bedeutet, sie entwickeln Gegenargumente für Vorwürfe, die wir nicht machen. Wir behaupten beispielsweise nicht, dass es keine Sanktionen für übergriffiges Verhalten beim Festival gab.
Aus unserer Sicht zeigt dieses Statement, dass die Veranstalter*innen nicht offen für das Anerkennen der Betroffenenperspektive sind. Damit fühlen wir uns in unserer Haltung bestärkt, Kritik zu äußern.
Beiträge die unter karla Partizipation erscheinen werden nicht redaktionell redigiert. In diesem Fall wurde aber eng mit der Redaktion zusammengearbeit. Sie geben originäre Einblicke in die Perspektiven der bürgerlichen Autor:innen.
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