Ein 15-jähriger Schüler wird in der Schule beim Weiterleiten intimer Bilder erwischt. Die Lehrkraft ist schockiert – aber wohin mit dem Fall? Anzeige erstatten? Sozialarbeit einschalten? Es fehlt an klaren Strukturen. Eine Fachstelle zur Beratung für Jugendlichem mit grenzverletzendem Verhalten soll künftig weiterhelfen.
Die Grundlage für die neue Fachstelle ist eine Beschlussvorlage des Sozial- und Jugendamts, die in mehreren Gremien beraten wurde – darunter der Jugendhilfeausschuss, der Haupt-, Finanz- und Klimaausschuss sowie der Gemeinderat. Dieser hat in der Sitzung am 29. April über die Förderung entschieden.
Geplant ist, dass die Ohlebusch GmbH aus Villingen-Schwenningen das Angebot umsetzt. Der städtische Zuschuss beträgt jährlich rund 34.100 Euro. Die Hauptkosten tragen der Landkreis Konstanz und der Träger selbst – im Verhältnis zwei Drittel zu einem Drittel. Das Projekt ist zunächst auf zwei Jahre befristet. Die weitere Förderung ist an eine gemeinsame Evaluation durch Stadt und Landkreis geknüpft.
Warum frühe Hilfe entscheidend ist
Dass es solche Angebote braucht, bestätigt auch Maren Scharpf von der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (LKJ) Baden-Württemberg. Sie begleitet im Konstanzer Kulturamt den Prozess zur Erarbeitung eines Kinderschutzkonzepts für die kulturelle Bildungsarbeit.
„Grundsätzlich ist es unterstützenswert, dass es so eine Beratungsstelle gibt, denn die Zahlen der sogenannten Peer-to-Peer-Gewalt steigen“, sagt sie.
Dabei macht Scharpf deutlich: „Wenn Jugendliche grenzüberschreitendes Verhalten zeigen oder gar sexuelle Gewalt ausüben, liegt das Problem meist nicht in der Sexualentwicklung, sondern in der Sozialentwicklung. Wir müssen also fragen: In welchem Kontext leben diese Jugendlichen? Warum üben sie Macht aus und überschreiten Grenzen?“
Sexuelle Übergriffe und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen werden als Peer-to-Peer-Gewalt bezeichnet. Dabei handelt es sich um sexuelle oder sexualisierte Handlungen, die gegen den Willen eines Kindes oder Jugendlichen oder ohne deren Zustimmung ausgeübt werden. Häufig nutzen die übergriffigen Jugendlichen dabei ein Machtgefälle aus – etwa durch Versprechungen, Drohungen, körperliche Gewalt oder das Versprechen von Anerkennung. Solche Übergriffe passieren oft in Freundeskreisen, Partnerschaften oder sozialen Gruppen – aber auch digital, zum Beispiel über das Teilen intimer Bilder.

Was Studien über Täter:innen im Jugendalter zeigen
Sexualisierte Gewalt im Jugendalter ist aktuellen Studien zufolge ein wachsendes Problem. Laut einer Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) nannten 83 Prozent der betroffenen Mädchen und 88 Prozent der betroffenen Jungen Gleichaltrige – etwa Mitschüler:innen – als Täter:innen ihrer schlimmsten Gewalterfahrung mit Körperkontakt.
Auch der erste Übergriff passiert oft schon in jungen Jahren: In einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gab die Hälfte der betroffenen Mädchen und jungen Frauen an, bei der ersten erlebten körperlichen sexualisierten Gewalt zwischen 14 und 17 Jahre alt gewesen zu sein. Studien zeigen außerdem: Die meisten Übergriffe unter Jugendlichen gehen von männlichen Personen aus – doch sexualisierte Gewalt kann von allen ausgehen und tritt in ganz unterschiedlichen sozialen und geschlechtlichen Konstellationen auf.
Wer Hilfe bekommt – und wie
Laut Vorlage der Stadt besteht derzeit eine „Lücke im Hilfesystem“ – sowohl in Konstanz als auch im Landkreis. Zwar gebe es punktuelle Kooperationen, etwa mit der Forensischen Ambulanz in Frauenfeld (Schweiz), diese seien aber keine dauerhafte Lösung. Die geplante „Fachstelle Rückgrat“ soll deshalb drei Zielgruppen ansprechen: Jugendliche mit grenzverletzendem oder übergriffigem Verhalten, Eltern, die sich Sorgen machen und Fachkräfte aus der Schule, Jugendarbeit und Betreuungseinrichtungen.
Das Konzept wurde in enger Zusammenarbeit mit Fachstellen wie ProFamilia, der Diakonie sowie den Gleichstellungsbeauftragten von Stadt und Landkreis entwickelt. Es sieht sozialtherapeutische Angebote für Jugendliche, spezialisierte Elternberatung sowie Fortbildung und Coaching für Fachkräfte vor.
Digitale Räume: Risiko und Ressource zugleich
In der Beschlussvorlage wird der Einfluss digitaler Medien kritisch bewertet: Der nahezu uneingeschränkte Zugang zu sexuellen Inhalten könne zu einer verzerrten oder überfordernden Entwicklung der Sexualität beitragen. Doch diese Perspektive greift allein zu kurz. Gerade für queere Jugendliche bieten soziale Netzwerke auch wichtige Räume der Selbstvergewisserung, des Austauschs und der politischen Teilhabe – etwa zu Themen wie Aufklärung, Grenzsetzung oder Prävention.
Auch das Konstanzer Schülerparlament sprach sich für die Einrichtung der Fachstelle aus. Alena Dias Vieira, Vorständin und Vertreterin des Gremiums im Jugendhilfeausschuss und im Präventionsrat, betonte die Relevanz aus Sicht Jugendlicher:
„Viele junge Menschen kommen heute schon sehr früh und häufig mit pornografischen Inhalten in sozialen Medien in Kontakt. Es ist wichtig, dass die neue Fachstelle genau das in den Blick nimmt – um Kinder und Jugendliche auch voreinander zu schützen.“
Debatte und Beschluss im Gemeinderat
Am 29. April hat der Konstanzer Gemeinderat die Einrichtung der „Fachstelle Rückgrat“ mit einer Mehrheit beschlossen. 25 Ratsmitglieder stimmten dafür, elf votierten dagegen, vier enthielten sich.

In der Debatte wurde die Fachstelle von Vertreter:innen der FGL & Grünen, JFK, SPD und Linken Liste als wichtiger Baustein in der Präventionsarbeit gewürdigt. „Wenn wir jetzt präventiv handeln, fällt es uns später nicht auf die Füße“, sagte Stadträtin Petra Rietzler (SPD). Auch wurde die geplante Evaluation nach zwei Jahren als wichtiger Kontrollmechanismus hervorgehoben.
Swetlana Wiedenbeck von der JFK-Fraktion betonte: „Wir wurden gewählt, um diese Stadt lebenswert zu machen. Und das bedeutet: Wir kümmern uns um die Menschen – gerade um die Jüngsten. Wenn wir heute nicht positiv über diesen Antrag abstimmen, machen wir einen Fehler. “
Ähnlich äußerte sich Samuel Hofer (FGL & Grüne): „Im Jugendhilfeausschuss wurde klar, wie wichtig diese Fachstelle ist. Es geht nicht nur um Einzelfälle – an jeder Schule gibt es Jugendliche, die Unterstützung brauchen. Diese Stelle schafft externe Hilfe für die Schulsozialarbeit, Lehrer:innen und Eltern. Wer sagt, das sei ein Angebot nur für Einzelne, der irrt. Es kommt allen Kindern zugute.“

Der Jugendhilfeausschuss ist das zentrale Gremium für Jugendhilfethemen der Stadt Konstanz. Er setzt sich aus gewählten Stadträt:innen, Vertreter:innen von Jugendverbänden, freien Trägern und Fachleuten zusammen. Der Oberbürgermeister führt den Vorsitz. Der Ausschuss plant Angebote für junge Menschen und Familien, diskutiert soziale Problemlagen und entwickelt Grundsätze für die Jugendhilfe.
Skepsis kam vor allem aus den Reihen der CDU, FDP und der Freien Wähler. Sie kritisierten die zusätzliche finanzielle Belastung angesichts der angespannten Haushaltslage. „Wir unterstützen das Anliegen grundsätzlich – wir halten die Fachstelle für notwendig. Aber wir haben in der Haushaltsberatung gebeten, einen Gegenvorschlag zur Finanzierung zu entwickeln. Das ist nicht passiert. Deshalb können wir dem Antrag in dieser Form heute nicht zustimmen. Wenn die Finanzierung im Nachtragshaushalt geklärt ist, stimmen wir zu. Jetzt lehnen wir ab – aus Verantwortung für den städtischen Haushalt“, erklärte Joachim Filleböck von der CDU.

Statt einer festen Fachstelle plädierte die FDP für individuell vergebene Gutscheine für die Betreuung oder psychische Beratung „besonderer Fälle“. Weiter sagte Manfred Hensler von der FDP: „Der Staat darf sich nicht immer weiter in die Rolle eines Reparaturbetriebs drängen lassen.“
Roland Ballier von den Freien Wählern ordnete die Diskussion in einen größeren Zusammenhang ein: Er verwies auf die zunehmende Übertragung sozialer Aufgaben auf die Kommunen durch Bund und Land – ein Thema, das auch bundesweit kritisch diskutiert werde. Trotz der kontroversen Diskussion überwog im Gemeinderat die Ansicht, dass die Stärkung präventiver Strukturen vor Ort sinnvoll und notwendig sei.

Wie es weitergeht
Die „Fachstelle Rückgrat“ soll zeitnah ihre Arbeit aufnehmen. In den ersten zwei Jahren wird sie zunächst als Modellprojekt erprobt. Danach soll eine gemeinsame Evaluation von Stadt und Landkreis klären, ob das Angebot dauerhaft in die Hilfestruktur übernommen wird.
Entscheidend wird sein, ob Jugendliche, Eltern und Fachkräfte das Angebot annehmen – und ob es Konstanz gelingt, eine neue Kultur des Hinschauens zu etablieren: mit klaren Verantwortlichkeiten, belastbaren Hilfestrukturen und einem präventiven Blick auf sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen.
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