Was hat ein Adventskalender mit Medienkonsum zu tun?

Mit „Hinter verzauberten Fenstern“ von Cornelia Funke bringt das Theater Konstanz einen Klassiker auf die Bühne, der unterhaltsam und witzig inszeniert wird. Gleichzeitig lädt er zu ernsten Gesprächen mit Kindern ein, etwa über Geheimnisse und den Medienkonsum.
Auf gemeinsamer Mission in der magischen Welt: Jana Alexia Rödiger, Luise Hipp, Jasper Diedrichsen, Julius Engelbach und Sarah Siri Lee König. | Foto: Philipp Uricher

Die Geschichte von „Hin­ter ver­zau­ber­ten Fens­tern“ ist ein klas­si­sches Mär­chen mit al­lem, was da­zu­ge­hört. Wir tref­fen Ju­lia, ein neun­jäh­ri­ges Mäd­chen, das – abge­se­hen von ih­rem klei­nen Bru­der Oli­ver, der ihr auf die Ner­ven geht – ein klas­si­sches Bil­der­buch­le­ben in ei­ner in­tak­ten Klein­fa­mi­lie führt. Die­ses wird aber ordent­lich auf den Kopf ge­stellt, als sie ei­nen Ad­vents­ka­len­der be­kommt – zu ih­rer Ent­täu­schung nicht mit Scho­ko­la­de, son­dern mit Bil­dern, die sich hin­ter den 24 Tür­chen ver­ste­cken.

Lang­wei­lig fin­det sie das und ist rich­tig sau­er, aber der Frust ver­fliegt schon bald, als sie ent­deckt, dass es sich kei­nes­wegs um ei­nen nor­ma­len Ad­vents­ka­len­der han­delt, son­dern um ein ma­gi­sches Por­tal: Wenn sie lan­ge ge­nug auf die Bil­der blickt, kann sie in die­se hin­ein­stei­gen und ge­langt in ei­ne an­de­re Welt. Dort be­geg­nen ihr mär­chen­haf­te Ge­stal­ten und die Rei­se in ein Aben­teu­er be­ginnt.

Mark Harvey Mühlemann, Sarah Siri Lee König, Luise Hipp, Jasper Diedrichsen und Julius Engelbach in einer Szene aus „Hinter verzauberten Fenstern“ am Theater Konstanz. | Foto: Philipp Uricher

Die­se Ge­schich­te ist ein Klas­si­ker in der Kin­der­li­te­ra­tur. Cor­ne­lia Fun­ke ist ei­ne der be­kann­tes­ten und er­folg­reichs­ten deut­schen Kin­der­buch­au­torin­nen und hat mit Bü­chern wie „Die Wil­den Hüh­ner“ oder „Tin­ten­herz“ Wer­ke ge­schrie­ben, die seit Jahr­zehn­ten ein fes­ter Be­stand­teil vie­ler Kin­der­zim­mer sind. Es sind die Lieb­lings­bü­cher ei­ner Ge­ne­ra­ti­on, die jetzt selbst El­tern ist und sie mit ih­ren ei­ge­nen Kin­dern ein zwei­tes Mal er­le­ben kann. Das ist üb­ri­gens ei­ner der bes­ten Aspek­te am El­tern­sein: dass man noch­mal in all die Ge­schich­ten ab­taucht, die man als Kind selbst so ge­liebt hat, und den ei­ge­nen Kin­dern die­sen Zau­ber wei­ter­ge­ben darf.

Ein Kin­der­buch­klas­si­ker, neu in­ter­pre­tiert

„Hin­ter ver­zau­ber­ten Fens­tern“ ist bei vie­len Fa­mi­li­en seit der Erst­erschei­nung im Jahr 1989 ein fes­ter Be­stand­teil der Weih­nachts­zeit und wird al­le Jah­re wie­der ge­le­sen. Es macht auch ei­nen rie­si­gen Spaß, die ku­rio­sen Fi­gu­ren zu tref­fen. In der In­sze­nie­rung in Kon­stanz wird die Ge­schich­te un­ter der Re­gie von Ron­ny Ja­ku­b­aschk und der Dra­ma­tur­gie von Hau­ke Pock­randt mit viel Herz, Witz und Charme in­sze­niert.

Zwischen Staunen und Nachdenken: Jasper Diedrichsen, Sarah Siri Lee König und im Hintergrund Luise Hipp. | Foto: Philipp Uricher

Wir tref­fen Ja­ko­bus Jam­mer­nich, ei­nen et­was eigenbrötlerischen Er­fin­der, der mit der El­fe Me­lis­sa, Bru­no Hein­zel, dem Rie­sen Rie­sig und Prinz Har­ry in ei­ner ma­gi­schen Wohn­ge­mein­schaft lebt. Sie al­le freuen sich wie ir­re, als Ju­lia aus ih­rer Welt zu ih­nen zu Be­such kommt, und lösen mit ihr ge­mein­sam das große Pro­blem, das sie seit Jah­ren plagt: Der bö­se Fürst Leo tor­pe­diert näm­lich die Kö­ni­gin und ver­sucht, flä­chen­de­ckend Schokola­den­ad­vents­ka­len­der ein­zu­füh­ren, was da­zu führt, dass die Bil­der­ka­len­der aus­ster­ben und die ma­gi­sche Welt kaum mehr Kin­der er­reicht.

Die klas­si­sche Fa­mi­li­en­ver­tei­lung von Mut­ter–Va­ter–zwei Kin­der ist im Stück bei­be­hal­ten, aber an an­de­ren Stell­schrau­ben wur­de ge­dreht, um die Ge­schich­te gen­der­tech­nisch ein biss­chen zeitgemäßer zu ma­chen: Der ur­sprüng­li­che Kö­nig wird zur Kö­ni­gin, El­fe Me­lis­sa zu einem Elfen und der Er­fin­der Ja­ko­bus wird von Sa­rah Lee Kö­nig dar­ge­stellt. Ja­na Al­e­xia Rö­di­ger und Jas­per Di­ed­rich­sen spie­len ein gleichermaßen ge­stress­tes wie lie­be­vol­les El­tern­paar und Ju­li­us En­gel­bach zeigt den ty­pi­schen Kon­flikt ei­nes klei­nen Bru­ders, der sich zwi­schen ex­tre­mer Be­wun­de­rung und ve­he­men­ter Ab­leh­nung zu­recht­fin­den muss.

Aber auch hier en­det die Ge­schich­te ver­söhn­lich, denn den Ge­schwis­tern ge­lingt es ge­mein­sam, die Auf­ga­ben zu lö­sen und das Kö­nig­reich zu ret­ten. Die Haupt­fi­gur Ju­lia wird von Lui­se Hipp auf ei­ne ganz wun­der­ba­re pippilangstrumpf­ar­ti­ge Wei­se in­ter­pre­tiert und sie zeigt nicht zu­letzt durch ih­re be­ein­dru­cken­de akro­ba­ti­sche Leis­tung, wie stark und cool Mäd­chen sein kön­nen.

Luise Hipp spielt Julia – neugierig, mutig, voller Fantasie. | Foto: Philipp Uricher

Ein ab­so­lu­tes High­light des Stücks ist die Aus­stat­tung. Wäh­rend die „nor­ma­le Welt“ re­la­tiv karg und lang­wei­lig dar­ge­stellt wird, zeigt sich in der ma­gi­schen Welt ei­ne Fül­le von Far­ben und For­men. Hier hat sich das Aus­stat­tungs­kol­lek­tiv von De­ni­se Schnei­der und Cor­ne­li­us Reit­mayr selbst über­trof­fen und mit viel Lie­be zum De­tail ei­ne Welt ge­schaf­fen, in die man am liebs­ten selbst ein­tau­chen wür­de.

Kleine Dinge aus Julias Kinderzimmer, wie eine Ritterburg oder eine Plüschmaus, werden riesengroß und zum Leben erweckt. Die Theaterbühne gibt alles her, was sie zu bieten hat. Von doppelten Ebenen über Videoinstallationen bis zu Drehelementen ist alles dabei, was das Theaterherz begehrt, und so gelingt ein fliegender Wechsel zwischen den Welten mühe­los. Dabei wird es jedoch nie zu laut, wild oder gruselig, und der Theaternachmittag ist auch für kleinere Kinder sehr gut geeignet.

Magische Fahrt durchs Abenteuer: Luise Hipp, Jasper Diedrichsen und Sarah Siri Lee König. | Foto: Philipp Uricher

Gu­ter An­lass für wich­ti­ge Gesprä­che

Man kann es gut da­bei be­las­sen und ei­nen un­ter­halt­sa­men Nach­mit­tag im Thea­ter ver­brin­gen – man kann die­ses Stück aber auch als Sprung­brett für wich­ti­ge Ge­sprä­che mit den Kin­dern nut­zen. Die Ge­schich­te von Cor­ne­lia Fun­ke zeigt näm­lich auch ei­ne ge­wis­se Pro­ble­ma­tik. Neh­men wir al­le ma­gi­schen Ele­men­te weg, bleibt fol­gen­de Sto­ry­line üb­rig: Ein neun­jäh­ri­ges Mäd­chen ver­bringt heim­lich Zeit mit ei­nem frem­den Mann, der sie in sei­ne Welt lockt. Sie er­zählt nie­man­dem da­von und hü­tet ihr Ge­heim­nis. Al­lein das ist ein Punkt, über den man mit Kin­dern spre­chen muss.

Hin­zu kommt, dass die Kinder heut­zu­ta­ge gar kei­nen ma­gi­schen Ad­vents­ka­len­der brau­chen, um in ei­ne an­de­re Rea­li­tät ab­zu­tau­chen – ih­nen reicht ein ein­zi­ges Fens­ter: der Bild­schirm. Die meis­ten Kin­der ver­brin­gen Zeit vor me­dia­len End­ge­rä­ten, und ge­nau dort kann pas­sie­ren, was in der Ge­schich­te the­ma­ti­siert wird: Ein Aben­teu­er be­ginnt und nicht al­le, die dort auf­tau­chen, sind gu­te Ge­stal­ten. An­hand von Fürst Leo, der dem Mäd­chen Ju­lia Angst macht und sie be­droht, kann man sehr gut die Ge­fah­ren des In­ter­nets be­han­deln und dass es un­ab­ding­lich ist, Er­wach­se­ne mit­ein­zu­be­zie­hen – so wie es am En­de der Ge­schich­te ja auch ge­schieht.

Mark Harvey Mühlemann als Fürst Leo in einer düsteren Szene aus dem Stück „Hinter verzauberten Fenstern“. | Foto: Philipp Uricher

So ge­se­hen ist „Hin­ter ver­zau­ber­ten Fens­tern“ ein vielschichtiges Stück, das ei­nen leich­ten Ein­stieg in ernst­haf­te Ge­sprä­che er­mög­licht, und gleich­zei­tig ist es so un­ter­halt­sam und warm­her­zig, dass sich Kin­der wun­der­bar dar­über iden­ti­fi­zie­ren kön­nen.

Abschließend bleibt nur ei­ne Fra­ge: Was für ei­nen Ad­vents­ka­len­der wünscht ihr euch in die­sem Jahr? Scho­ko­la­de oder Bild­chen? Mei­ne Kinder sind sich un­ei­nig: Theo (5 Jah­re) will un­be­dingt ei­nen mit Bil­dern, Ar­thur (8 Jah­re) zeigt sich skep­tisch: „Das war al­les Fake! Ich neh­me lie­ber ei­nen mit Scho­ko­la­de.“ – Okay, das Gu­te siegt eben nicht im­mer, aber was wir al­le mit­neh­men, ist, dass wir die Ad­vents­zeit mit vie­len Ge­schich­ten und ge­mein­sa­men Er­leb­nis­sen fül­len möch­ten – und das ist viel wert­vol­ler als ein gut ge­füll­ter Ad­vents­ka­len­der.


Hin­ter ver­zau­ber­ten Fens­tern“ läuft bis zum 25. De­zem­ber im Stadt­thea­ter Kon­stanz. 


Dieser Text ist zuerst bei Saiten.ch erschienen.