Eigentlich ist es ganz einfach: Wer am Sinn von Kultur und Kulturpolitik zweifelt, der muss nur zweimal ein beliebiges Jugendtheater-Projekt besuchen. Einmal am Anfang, einmal am Ende. Oft liegen Monate dazwischen, aber was in dieser Zeit passiert, ist essentiell für unsere Gesellschaft. Weil die jungen Menschen dort lernen, sich auseinanderzusetzen. Mit Themen, Menschen, Herausforderungen. Weil viele hier oft zum ersten Mal so etwas wie Anerkennung erfahren und für sich neue Horizonte entdecken.
Wer dann, beim zweiten Besuch, erkennt, wie die jungen Menschen durch das Ausprobieren von Rollen, das Austesten von dem, was möglich sein könnte und in der Auseinandersetzung mit Themen innerlich gewachsen sind, der wird den Wert von kultureller Bildung nie wieder geringschätzen.
In der Debatte um die Trennung von der früheren Philharmonie-Intendantin Insa Pijanka hat das städtische Rechnungsprüfungsamt wesentliche, gegen Pijanka gerichtete, Vorwürfe ausgeräumt. Das erklärte die Stadt in einer Pressemitteilung.
In der Öffentlichkeit kursierten zeitweise falsche Zahlen zu dem finanziellen Betriebsergebnis des Orchesters. Die CDU hatte in einer Pressemitteilung behauptet, das Defizit bei der Philharmonie liege über 600.000 Euro. Der Südkurier hatte diese Zahl in seiner Berichterstattung ungeprüft übernommen. Dadurch hatte sich die Debatte um Insa Pijanka verschärft.
Das Rechnungsprüfungsamt stellt hierzu in einer Pressemitteilung der Stadt klar: „Fakt ist, dass die Philharmonie 2021 keinesfalls – wie in der Öffentlichkeit berichtet – mit einem hohen sechsstelligen Defizit abgeschlossen hat. Richtig ist, dass das Wirtschaftsjahr 2021 der Philharmonie mit Berücksichtigung aller Zuschüsse mit einem Überschuss von rund 43.000 Euro abgeschlossen hat.“
Auch die rund 60.000 Euro, die die Intendantin für Beratungsleistungen bei der Chefdirigentensuche eingesetzt hatte, seien satzungsgemäss gewesen: „Gemäß Betriebssatzung kann die Vergabe bis zu einem Betrag von 100.000 Euro in eigener Zuständigkeit erfolgen. Das Rechnungsprüfungsamt bemerkte allerdings, dass einige formale Anforderungen an ein Vergabeverfahren nicht eingehalten wurden. Diese sind in Zukunft zu beachten.“
Ein weiterer in der Berichterstattung des Südkurier erwähnter Vorwurf gegenüber Insa Pijanka betraf die Fahrtenbücher der Philharmonie. Zu den angeblichen Problemen hier, schreibt das Rechnungsprüfungsamt nun: „Bei der Führung von Fahrtenbüchern und Inventarlisten wurden Unregelmäßigkeiten beziehungsweise unzureichende Dokumentation festgestellt. Sie betrafen allerdings nicht die Intendantin. Die festgestellten Mängel sind durch bessere organisatorische Regelungen künftig zu vermeiden.“
karla hatte am 5. Februar darüber berichtet, dass die in der Öffentlichkeit kursierenden Vorwürfe nicht die wesentlichen Probleme des Orchesters sind. Und stattdessen fünf konstruktive Tipps gegeben, wie die Philharmonie aus der Krise kommen kann.
Und das ist nur eine von drei Ebenen auf der Kultur und Kulturpolitik wirken. Wenn man so will, könnte man dies die individuelle Ebene nennen. Also jene Ebene, in der kulturelle Bildung zur Menschwerdung jedes Einzelnen beitragen kann. Kulturpolitik macht solche Projekte wie die des Kinder- und Jugendtheater erst möglich, indem sie in so etwas wie einem Kulturkonzept definiert, welche inhaltliche Ausrichtung eine städtischen Kulturpolitik mit all ihren Schwerpunkten haben soll und wie das kulturelle Profil einer Stadt aussehen soll.
Wie Stadt und Gemeinschaft von Kultur profitieren
Die beiden anderen Ebenen haben eine über das Individuum hinausgehende gemeinschaftliche Wirkung: Kultur als Motor der Stadtentwicklung und Kultur als Ort, an dem gesellschaftliche Diskurse ermöglicht werden und Fortschritt verhandelt wird. Also jener Ort, an dem man gemeinhin darüber spricht, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen.
Starten wir mit dem Kapitel „Kultur & Stadtentwicklung“: Die UNESCO hat das Thema vor zwei Jahren erkannt und einen 300-seitigen Bericht über die Kultur als Faktor für die Entwicklung von Städten erarbeitet. Eine der Lehren daraus: «Kultur ist die DNA einer Stadt. Kulturelles Erbe trifft hier auf zeitgenössische Kunst und Kultur. Zusammen sind sie der Herzschlag urbaner Weiterentwicklung und Innovation. In Städten kommen Menschen zusammen, um sich auszutauschen, Neues zu kreieren und produktiv zu sein. Städte sind Treiber menschlicher Entwicklung. Kultur muss deshalb integraler Bestandteil von Stadtentwicklungsstrategien sein, um urbane Räume nachhaltig zu entwickeln und ihren Einwohnern eine bessere Lebensqualität zu ermöglichen», forderte damals Karin von Welck, Vorstandsmitglied der Deutschen UNESCO-Kommission, in einer Medienmitteilung. Ziel solle es sein, den Menschen in den Mittelpunkt aller planerischen Überlegungen zu stellen.
Städte sollten von sich aus ein hohes Eigeninteresse an einer solchen Politik haben. Denn: Städte mit einem pulsierenden Kulturleben werden in allen Rankings immer als besonders lebenswerte und attraktive Städte wahrgenommen. Wer im Wettbewerb der Städte und im Ringen um kluge Köpfe für Unternehmen und Verwaltung vor Ort vorne dabei sein will, der braucht eine gute Kultur-Infrastruktur mit der er punkten kann. Weiche Standortfaktoren nennen Ökonomen das. Dabei sind sie viel mehr: Wer will schon in einer Stadt leben, in der nichts los ist? Eben.
Was man von Brecht und Schiller auch heute noch lernen kann
Weniger konkret, aber nicht weniger wichtig ist eine andere Aufgabe, die Kultur für die Gesellschaft übernimmt: Die Ermöglichung des Selbstgesprächs der Gesellschaft darüber, wie wir eigentlich miteinander leben wollen und welche Werte uns wichtig sind. Künstlerinnen und Künstler verarbeiten aktuelle und gesellschaftlich relevante Themen in ihrer Arbeit. Durch ihre Herangehensweise eröffnen sie oft neue Perspektiven auf scheinbar altbekannte Themen.
Zwei Beispiele: Jede neue Aufführung eines Brecht-Klassikers kann uns dazu veranlassen, über den gesellschaftlichen Umgang mit Ungerechtigkeit neu nachzudenken. Jede neue Aufführung von Schiller oder Shakespeare kann dabei helfen, Machtfragen neu zu debattieren. Dazu kommen zeitgenössische Autor:innen und Künstler:innen, die auf alte Fragen vielleicht ganz neue Antworten finden – jenseits der Klassiker. Oder ganz neue Fragen unserer Zeit überhaupt erst aufwerfen.
All das eröffnet letztlich das gesellschaftliche Gespräch aufs Neue, es ermöglicht Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wie genau das ausgestaltet wird, ist Aufgabe der Kulturvermittlung. Aber die Leitplanken dafür kann Kulturpolitik im Zusammenspiel mit den Kulturinstitutionen setzen.
Die hehren Ziele der Kulturpolitik
Es gilt die inhaltliche Kunstfreiheit, das heisst die Kulturinstitutionen bestimmen autonom ihr Programm. Wenn aber in einem Betrieb etwas strukturell schiefläuft, wenn Bilanzen aus dem Ruder laufen oder Mitarbeiter:innen unzufrieden sind, muss Kulturpolitik so nah am Betrieb sein, dass sie entweder direkt eingreifen kann oder zumindest aus eigener Anschauung die Lage beurteilen kann, ohne auf Aussagen Dritter angewiesen zu sein.
Was Kulturpolitik manchmal so schwierig macht, ist, dass sie sich im Spannungsfeld von Staat, Markt und Gesellschaft bewegt. Wesentliche Anspruchsgruppen für Kulturpolitiker:innen sind Künstler:innen, die Kulturinstitutionen und die Bevölkerung, also das potenzielle Publikum. Interessen sind da nicht immer deckungsgleich, Kulturpolitik braucht oft langen Atem.
Allgemeine Ziele von Kulturpolitik sind Bildung, Kunstförderung, Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe und Integration. Zentrale Aufgabe von Kulturpolitik ist es zunächst, Kunst und Kultur zu fördern und zu ermöglichen. Es geht darum, infrastrukturelle Grundlagen für Kulturbetriebe, aber auch für Künstlerinnen und Künstler zu sichern und kulturfreundliche Rahmenbedingungen in Politik und Gesellschaft zu schaffen.
Philharmonie in der Krise: Alle Jahre wieder
Warum Kulturförderung ein so schwieriges Geschäft ist
Wichtigstes Instrument für Kulturpolitiker ist das der Kulturförderung. Es gibt unterschiedliche Modelle, unterschiedliche Ansätze. Als Grundsatz mag gelten: Kulturpolitik soll Projekte subventionieren, die die Bürger:innen zu üblichen Marktpreisen kaum nachfragen würden. Daraus ergibt sich auch der Bildungsauftrag, den geförderte Kulturinstitutionen übernehmen.
Daraus zu schliessen, dass nur gefördert werden kann, was eigentlich niemanden interessiert, wäre falsch. Kluge Kulturpolitik hält Nischen am Leben, verkriecht sich aber nicht in ihnen. Ohnehin ist das Feld von förderungswürdiger Kultur in den letzten Jahrzehnten immer unübersichtlicher geworden.
Der Kulturbegriff ist im Wandel. Der lange Zeit reflexhaft betonte Unterschied zwischen ernsthafter und unterhaltender Kultur, ist so heute kaum noch aufrechtzuerhalten. Im besten Fall sind Kulturprojekte heute ernsthaft und unterhaltsam. Auch Hochkultur und Populärkultur kann man heute nicht mehr so einfach trennen. In beiden Feldern gibt es spannende, innovative Projekte ebenso wie es langweilige und überholte Ansätze gibt.
Immer wichtiger: Nischenkultur und Populärkultur gemeinsam denken
Deshalb sollte Kulturpolitik immer beides im Blick haben: Nischenkultur und Populärkultur. Subventionsgerechtigkeit ist ein Schlagwort in dieser Debatte. Es meint, dass nicht nur Besucher einer bestimmten kulturellen Sparte in den Genuss staatlich vergünstigter Tickets kommt. Die Spielarten von Kultur sind so vielfältig und divers, wie es ihr Publikum ist. Kulturförderung muss das berücksichtigen, will sie kein Akzeptanzproblem bekommen.
Was heisst das nun alles unterm Strich? Aktive Kulturpolitik hat ein großes Potenzial unser Leben besser zu machen. In drei Schritten: Kulturelle Bildung stärkt den Einzelnen, ein pulsierendes Kulturleben stärkt Stadt und Region und der über Kultur ermöglichte Diskurs stärkt Gemeinschaft und Gesellschaft und macht Fortschritt erst möglich. Es sollte im Interesse eines jeden politischen Akteurs sein, dazu einen Teil beizutragen.
Hinweis: Dieser Text erschien zuerst im September 2020 auf thurgaukultur.ch