Diejenigen Pflanzen, für die sich Irene Strang interessiert, sind auf den ersten Blick eher unscheinbar. Es handelt sich um jenes Grün, das ganz vorne an der Spitze vom Hörnle auf den Kiesflächen wächst. Nicht die höheren Gräser, die einem sofort ins Auge fallen. Sondern die besonders kleinen Pflänzchen, die zwischen März und April blühen, wenn der Pegelstand niedrig ist und die Kiesflächen im Trockenen liegen. Das, was man – nun ja – für Gras halten könnte.
Strandrasen ist die korrekte Bezeichnung für diese Pflanzengesellschaft, erfahren wir von Irene Strang. Sie ist Biologin und beobachtet, was der Klimawandel mit der Ufervegetation des Bodensees macht.Zum Strandrasengehört der Ufer-Hahenfuß, eine kleine, zarte Pflanze mit gelber Blüte. Oder der Strandling, der etwas dickliche, fleischige Blätter hat. Seit 30 Jahren beobachtet Irene die Strandrasen. Sie zeigt uns die Infotafeln oben am Weg, die sie gemeinsam mit Forscherkolleg:innen hat aufstellen lassen. Warum? Weil einige der unscheinbaren Pflänzchen „endemisch“, also nur innerhalb einer eng umgrenzten Region zuhause sind, nämlich hier am Bodensee. Und das ist ziemlich besonders.
Was die Forscher:innen am Bodenseeufer beobachtet haben
Irene wird regelmäßig beauftragt, die Strandrasen zu untersuchen und den Bestand zu kontrollieren, zum Beispiel von den Regierungspräsidien in Freiburg und Tübingen oder vom Kanton Thurgau. Dann fährt sie mit ihren Kolleg:innen rund um den See und dokumentiert mit Messungen und Fotos ihre Schützlinge. Dabei konnte sie in den letzten fünfzehn Jahren deutliche Veränderungen beobachten: Die Strandrasen-Pflanzen sind in Bedrängnis. Eigentlich sind sie hochgradig angepasst an das Klima hier am Bodensee. Und sie kommen mit dem schwankenden Pegelstand des Bodensees prima zurecht. Eigentlich.
Denn eigentlich läuft das Kalenderjahr für den See immer gleich ab: Im Winter hat der Pegel des Sees seinen Tiefstand. Mit der Schneeschmelze in den Alpen kommt es dann im Frühling zum Anstieg des Pegels und schließlich im Sommer zum Hochstand. In dieser Zeit tauchen die Strandrasen quasi ab, sie sind dann unter Wasser. Im Schnitt liegen 1,70 Meter zwischen Tiefstand im Winter und Höchststand im Sommer.
Das Problem: Die hohen Wasserpegel im Winter
Doch der Klimawandel ändert das, sagt Irene: „Wir sehen in unseren Aufzeichnungen einen deutlichen Trend. Die Winter sind milder, der Niederschlag geht eher als Regen und nicht als Schnee runter. Dadurch kommt es auch häufiger im Winter zu Hochwasser am See.“
Mit den höheren Pegelständen im Winter kommen die Strandrasen nicht klar. Oft gibt es dann auch mehr Wellen, die den Kies abtragen und die Wurzeln der Pflanzen mit sich reißen. Das zweite Problem: „Wir können mitverfolgen, dass es im Sommer mehr Hitzetage gibt. Es kann dann passieren, dass die Strandrasen einfach vertrocknen. Oder dass die Flächen, die nun nicht mehr im Wasser liegen, für Sport und Freizeit genutzt werden. Auch das macht den Strandrasen Probleme.“
Entlang des Ufers vom Hörnle Richtung Fährhafen in Staad gibt es mittlerweile Hinweisschilder, die dazu auffordern, auf diesen Flächen nicht zu grillen. Auf den Schildern abgebildet ist das vermutlich schönste Pflänzchen, das zu den Strandrasen gehört: Das Bodensee-Vergissmeinnicht, das im April lilablau blüht. Es ist zusammen mit seinen Geschwistern der Strandrasen-Gesellschaft vom Aussterben bedroht.
Was es bedeutet, wenn Pflanzenarten für immer verschwinden
Wäre das schlimm, wollen wir von Irene wissen, wenn es das Bodensee-Vergissmeinnicht nicht mehr am Bodensee gäbe? Schließlich, mal ganz naiv gedacht: Es gibt ja noch genug andere Pflanzen am See.
Ja, sagt Irene, das könnte man so sehen. Das sei aber eine Sichtweise, die sich auf Dauer noch nie bewährt hat. Denn eine fehlende Art ist meist ein Indikator dafür, dass noch weitere Arten verloren gehen werden. Und, ganz wichtig: Ökosysteme sind umso robuster, je vielfältiger die Arten sind, die sich darin befinden.
Anders gesagt: Wer beim Thema „Artensterben“ an Orang-Utans auf Borneo denkt, also an etwas, das sehr, sehr weit weg passiert, der sollte zukünftig auch an das Bodensee-Vergissmeinnicht denken, das nur noch an wenigen Stellen am See existiert. Oder an die Purpur-Grasnelke. Die ist bereits ausgestorben, obwohl sie vor sechzig Jahren noch am Bodenseeufer blühte, in Rötlich-Pink.
Wie ein Versuch der Wiederansiedlung gescheitert ist
Irene und ihre Forscherkolleg:innen haben vor ein paar Jahren im Botanischen Garten in Basel ein paar letzte Exemplare der Purpur-Grasnelke entdeckt. Und haben den Versuch gestartet, die Pflanze zu vermehren und wieder am Bodensee anzusiedeln. Eine dauerhafte Wiederansiedlung hat jedoch nicht funktioniert. „Wir denken oft, es wäre alles machbar“, sagt Irene. „Dabei sind Ökosysteme einfach sehr komplex. Wir können den See nicht behandeln wie eine Petrischale in einem Labor. Wir haben eben sehr vieles nicht unter Kontrolle.“
Besorgt ist Irene deshalb auf jeden Fall. Und tut, was sie kann: Sie dokumentiert die Veränderungen und schreibt Maßnahmenkataloge für ihre Auftraggeber. Und sie ruft durchaus mal bei dem ein oder anderen Strandbad an, bei dem das Schwimmfloß im Winter auf jenem Kiesstreifen gelagert wird, auf dem Strandling und Bodenseeschmiele wachsen. Außerdem engagiert sie sich ehrenamtlich im Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), wie viele Menschen, denen gesunde Ökosysteme wichtig sind.
4 Millionen Menschen erhalten ihr Trinkwasser aus dem Bodensee
Es könnten aber mehr sein. Mehr Menschen, die sich hier vor Ort kümmern. Denn dass der Bodensee als Ökosystem unbedingt intakt bleiben muss, liegt auf der Hand, wenn man sich ansieht, was der See alles für uns leistet: Etwa 4 Millionen Menschen werden durch ihn mit Trinkwasser versorgt. Der Wasserkörper wirkt zudem regulierend auf ihre Umwelt – die Gemeinden rund um den See profitieren im Sommer von einem leicht kühlenden Effekt, die Winter fallen eher mild aus.
Davon mal abgesehen könnten Städte wie Kreuzlingen und Konstanz einpacken, wenn sie nicht mehr mit Freizeitaktivitäten im und am See werben könnten, sondern ihren Besucher:innen erklären müssten, dass Baden aktuell nicht möglich ist. Etwa, weil sich Krankheitserreger im Wasser befinden. Oder der Bodensee einfach austrocknet. Kann so etwas passieren?
Könnte der Bodensee eines Tages austrocknen?
Austrocknen wird der Bodensee nicht, sagt Irene, zumindest nicht absehbar in den nächsten Jahrhunderten. Dazu ist der See mit einer Fläche von rund 500 Quadratkilometern schlicht zu groß. Die Sache mit den Krankheitserregern dagegen ist nicht ganz so abwegig. Das Problem dabei sind die Temperaturen im See.
„In den Aufzeichnungen zeigt sich, dass die durchschnittliche Wassertemperatur im See in den letzten 30 Jahren gestiegen ist“, sagt Irene. Mit steigenden Temperaturen erhöht sich die Biomasse im See, weil Algen und Wasserpflanzen vermehrt wachsen. Damit einher geht ein sinkender Sauerstoffgehalt, was wiederum einigen Fischarten, zum Beispiel der Äsche, Probleme bereitet. Höhere Temperaturen führen auch tendenziell dazu, dass sich Mikroorganismen schneller verbreiten können. Dann könnten Fische massenhaft sterben.
Das Tempo des Klimawandels überfordert Pflanzen und Tiere
Veränderung, das weiß Irene als Biologin ganz genau, war immer schon Teil der Natur. Das ist schlicht das Prinzip der Evolution. Was Irene jedoch umtreibt: „Evolution ist eigentlich ein langsamer Prozess, bei dem Pflanzen und Tiere sich an veränderte Bedingungen anpassen können. Beim jetzigen, vom Menschen gemachten Klimawandel ist das anders, der geschieht in Turbogeschwindigkeit. In diesem Maße können sich Pflanzen und Tiere nicht anpassen. Und manche Folgen können wir jetzt noch gar nicht absehen.“
Ob Irene ein ganz persönliches Horrorszenario für die Zukunft hat? „Nein“, sagt sie, „Horrorszenarien male ich mir keine aus. Ich schaue lieber, was es zu tun gibt, und packe an.“
Die Autor:innen
Franziska Schramm ist Autorin und Spoken Word-Poetin. Seit eineinhalb Jahren ist sie glückliches Mitglied der FoodCoop Speisekammer Konstanz, über die man regional und bio einkaufen kann. Mehr: www.franziskaschramm.de
Florian Roth ist Politikwissenschaftler und beschäftigt sich beruflich und privat mit der Resilienz sozialer Systeme und dem Thema Nachhaltigkeit.
Die Idee für den gemeinsamen Artikel entstand an einem heißen Frühsommertag, als Franziska und Florian sich morgens um sieben auf dem Rad trafen und zufällig in dieselbe Richtung fuhren.
Kooperation mit dem NUN-Magazin
Dieser Artikel entstand in Kooperation mit dem NUN, Magazin, das die Grenzstädte Kreuzlingen und Konstanz sowie deren Menschen und Geschichten in einem Heft zusammenbringt. Der Artikel ist daher auch in der aktuellen Printausgabe (#11 Nass und Nackig) erschienen. Sie liegt an vielen Orten in Konstanz und Kreuzlingen aus. Wo genau, könnt ihr auf der Internetseite des NUN-Magazins nachschauen: www.nun-magazin.de/ch
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