Kristina Lotta Kahlert in ihrer Rolle aus Journalistin, Sarah Siri Lee König in ihrer Rolle als Stadtvermesserin und danebenstehend Dominik Puhl als Imperia.

Wie das Leben in Konstanz gender­gerechter werden kann

Auf einem szenischen Stadtspaziergang nimmt das Theater gemeinsam mit dem Publikum die Stadt unter die Lupe. Für wen ist unsere Stadt gebaut? Und was braucht es, um sie für alle Menschen lebenswert zu machen?
Wiebke ist Journalistin aus Leidenschaft. Gemeinsam mit Michael leitet…

Ein sonniger Nachmittag an der Seestraße in Konstanz, das Ensemble des Theaters Konstanz steckt mitten in der Probe: „Wir können schon sagen, dass Städte männlich sind“, begrüßt Sarah Siri Lee König in ihrer Rolle als Stadtvermesserin Rosa Wissert ihr noch imaginäres Publikum. Sie sagt: Städte wurden für Autos gebaut und wer fährt Auto? Männer! Gemeinsam mit dem Publikum will sie beim ersten öffentlichen „Konzilium“ deshalb der Frage auf den Grund gehen, wie Städte für alle lebenswert werden können. Das Motto: Mann ist nicht neutral. Auch die Rolle einer Journalistin ist im Stück dabei: Marla Saar gespielt von Kristina Lotta Kahlert. Rosa Wissert stellt sie als Gästin vor. Das will die Journalistin Marla nicht hören: „Wer aus einem Gast eine Gästin macht, kann auch gleich Vagina brüllen“, beschwert sie sich. Sie findet: Das Gendern legt den Fokus auf das Anderssein, schließt also eher aus statt ein. Und damit herzlich willkommen mitten in der Gender-Debatte!

Das Foto zeigt Sarah Siri Lee König bei der Probe des Theaters an der Seestraße.
Sarah Siri Lee König in ihrer Rolle als Stadtvermesserin.
Foto: Patricia Czerwinski

Schon während der Probe haben sich die ersten Schaulustigen auf der Rheinbrücke versammelt und beobachten gespannt die Probe des Theaters. Ganz offiziell zu sehen gibt es das Stück „:innen“ ab dem 8. Juli. Der von Regisseur Julius Max Ferstl zusammen mit Marie Knop und Meike Sasse inszenierte Stadtspaziergang rückt „Gender Data Gaps“ in den Vordergrund, also geschlechterspezifische Datenlücken. Die im Stück zitierten Fakten sprechen für sich: Der Konstanzer Gemeinderat hat 40 Mitglieder, nur 15 davon sind Frauen.

Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg unterscheidet bei seiner Datenerhebung nur zwischen „männlich“ und „sonstige“. Frauen am Bodensee verdienen 30 Prozent weniger. Für die Zulassung von Autos werden Crashtests nur mit männlichen Dummies durchgeführt, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau bei einem Unfall Verletzungen davon trägt, 37 Prozent höher ist als bei Männern. Die Raumtemperatur, die Kleidung, die Größe des Smartphones. Alles wird nach Männern ausgerichtet. „Das sind erstmal nur Fakten, die wir aufzeigen“, sagt Projektleiterin und Co-Regisseurin Marie Knop. Dramaturgin und Co-Regisseurin Meike Sasse ergänzt: „Es geht nicht um ein Männer-Bashing!“

14 Aufführungen mitten im Stadtraum

Das Stück ist inspiriert von dem Buch „Die unsichtbare Frau“. Die Autorin Caroline Criado-Perez legt darin geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Erhebung wissenschaftlicher Daten offen. Ein Werk, bei dem Meike Sasse schnell wusste: „Dazu müssen wir was machen!“ Zusammen mit dem Kollektiv tondlhaas, bestehend aus Claudia Tondl und Sarah Haas, haben sie die gemeinsame Arbeit an dem Stück begonnen. Das Kollektiv entwickelt ortsspezifische Erzählungen auf Basis von Beobachtungen und Datenerhebungen. Mit dem Ziel: konkrete Ideen für die Zukunft aufzeigen. Aufgrund gesundheitlicher Gründe war das Kollektiv aber nur in den ersten zwei Wochen dabei. 

Dann war das Team des Theaters Konstanz auf sich alleine gestellt. Die Frage: Können wir es auch alleine schaffen? Die Antwort lautete ja, aber „das geht nur als Team und wenn alle sagen, wir wollen das“, so Meike Sasse. In drei Wochen hat das Team den Text und die Inszenierung auf die Beine gestellt. Am Samstag, 8. Juli ist die Uraufführung, nach 14 Aufführungen ist am 20. Juli Schluss. Treffpunkt ist die Litfaßsäule Seestraße, Ecke Conrad-Gröber-Straße. „Wir sprechen über die Stadt, also macht es total Sinn, auch raus in den Stadtraum zu gehen“, sagt Marie Knop.

„Man wird viel sensibler dafür, welche Menschen sich wie durch die Stadt bewegen, wenn man mal drei Stunden in der Unterführung geprobt hat.“

Marie Knop

Kopfhörer auf, Perspektiv­wechsel an!

Wer sich „:innen“ anschauen möchte, der lässt sich damit auch auf eine andere Art von Theater-Erfahrung ein. Eine im Stadtraum und mit Kopfhörern. Denn nur darüber kann das von den Schauspieler:innen Gesprochene gehört werden. „Unsere Erfahrung ist, dass es in der Stadt viel Ablenkung gibt. Durch die Kopfhörer schaffen wir mehr Konzentration und eine intimere Kommunikation“, sagt Dramaturgin Meike Sasse. „Und natürlich gibt es eine Exklusivität.“ Die Plätze sind begrenzt. Wie bei einer richtigen Stadtführung können auch die szenische Stadtführung des Theaters maximal 15 Personen gleichzeitig besuchen.

Nach dem Intro der Stadtvermesserin kommt nun auch Schauspieler Dominik Puhl in der Rolle der Imperia am Spielort an. Etwas verspätet aufgrund vieler Tourist:innen. „Ich musste heute ein paar Extrarunden drehen.“ Sie sagt: „Unter uns: Als Frau bin ich ja doch nur eine Randerscheinung.“ „Ich will nicht nur am Rand stehen“, beschwert sich die Journalistin Marla Saar. Stadtvermesserin Rosa Wissert hingegen sieht darin eine Chance: „Vom Rand aus kann man die Perspektiven neu definieren!“ Gemeinsam mit ihr will das Konstanzer Wahrzeichen das eigene Jubiläum nutzen, um Frauen in der Stadt sichtbarer zu machen. „Zeiten gendern sich“, sagt die Imperia, gespielt von Dominik Puhl. 

Von links nach rechts: Dominik Puhl als Imperia, Kristina Lotta Kahlert als Journalistin und Sarah Siri Lee König als Stadtvermesserin. Foto: Patricia Czerwinski
Von links nach rechts: Dominik Puhl als Imperia, Kristina Lotta Kahlert als Journalistin und Sarah Siri Lee König als Stadtvermesserin.
Foto: Patricia Czerwinski

Räume für alle schaffen

Welche Infos braucht es, um diejenigen abzuholen, die noch nicht für gendergerechte Stadträume sensibilisiert sind? Und gleichzeitig diejenigen nicht zu langweilen, die sich schon auskennen? „Das ist immer ein Spagat“, sagt Meike Sasse. Ob dieser gelungen ist, wird sich erst nach den ersten Aufführungen zeigen. Im Hinblick auf das Publikum jedenfalls hat das Team immer wieder am Text gefeilt. Auch innerhalb des Teams sei man sich nicht immer einig gewesen, denn jede:r bringt seine:ihre eigenen Perspektiven mit. Deshalb wünschen sich Meike Sasse und Marie Knop auch, dass sie mit dem Stück viele verschiedene Menschen erreichen – über Generationen hinweg. Denn damit ändere sich auch die Argumentation.

„Wir wollen mit dem Stück ja auch raus aus unserer Blase und Menschen neugierig machen, sich mehr damit auseinanderzusetzen.“

Meike Sasse

Sie betont: „Wir wollen weg von diesem ‚Ich darf nichts mehr sagen‘. Wir können alle Meinungen anhören und dann darüber diskutieren“, sagt Meike Sasse. „Wir wollen keine Mauer aufbauen, sondern charmant und humorvoll die Dinge aufzeigen.“ Die Idee: konstruktiv Kritik üben. Denn weltweit gibt es schon Städte und Gemeinden, die Ideen haben wie Toiletten für obdachlose Frauen oder mobile Teams gegen häusliche Gewalt. Das Regie-Trio will mit dem Stück nun auch in Konstanz für das Thema sensibilisieren: „Wir brauchen Verbündete, es geht nicht allein“, sagt Meike Sasse. „Wir können alle nur gewinnen, wenn wir Räume für alle Menschen schaffen.“