- Dieser Artikel ist ein Auszug aus Michael Buchmüllers Buch „Stadtgesichter“. Es ist Michaels zweites Buch.
- 2022 erschien sein erstes Buch „Konstanzer Stadt(teil)-Geschichten“, in dem Konstanzer:innen davon erzählen, wo und wie sie wohnen und leben.
Aleida Assmann wurde 1947 in Bethel geboren. Über Göttingen kam sie mit ihrer Familie nach Heidelberg, da war sie gerade zwei. In ihrem Elternhaus lernte sie Weltoffenheit kennen. Mit fünf Geschwistern und den Studierenden des Vaters am Mittagstisch. Da erklärte ihr ein amerikanischer Student, dass Johann Sebastian Bach heute sicher Jazz-Musik machen würde, und ein koreanischer Student kochte etwas, das sie mit den Händen essen durften.
Und sie selbst, als Zweitjüngste, dachte sich Fantasiegeschichten aus, um die Aufmerksamkeit der Geschwister zu bekommen. „Ich hatte mir da einen Mann und eine Tochter erfunden!“ Und ein Pseudo-Ich, das sie zur Belustigung aller ausbreitete. Assmann atmete Bildung ein. Die Mutter Pfarrerin, der Vater begleitete sie auf dem Klavier, Kammermusik im Haus an vielen Wochenenden, jeder und jede spielte ein Instrument, sie die Querflöte. Und am Tisch Diskussionen über Gott und die Welt.
„Bei uns war immer etwas los, wir waren keine Familie, die sich abschottete!“
Mit 16 ging sie auf eigenen Wunsch für ein Jahr in die USA, leistete jeden Morgen den Eid auf die Fahne, staunte über den extremen Nationalstolz der Amerikaner:innen. Sie fühlte sich dennoch mit ihrem jungen „Ich“ ins große „Wir“ aufgenommen, lernte dort die Piccolo-Flöte spielen, marschierend, in der Halbzeitpause von Footballspielen. Sie kehrte zurück, reifer, noch weltoffener, machte ihr Abitur in Heidelberg an einer evangelischen Privatschule. Dort unterrichtete ein aus dem Osten geflüchteter Lehrkörper, der die Erinnerungen an die NS-Zeit und den Holocaust pflegte. Alles Erfahrungen, die sie prägten und die Einfluss nahmen auf ihr späteres Denken.
Akademische Reise
Danach Studium in Heidelberg, die 68er-Zeit. Statt in Seminare ging man in Lesekreise und auf Demonstrationen, nach zwei Semestern der Wechsel nach Tübingen, „wo das Klima noch erhitzter war.“ Sie studierte Englisch und weil sie da schon ihren späteren Mann Jan Assmann kennengelernt hatte, Ägyptologie – „aus Liebe zu ihm.“ Zwei völlig unterschiedliche Welten. „Ägyptologie war horrend anstrengend, ein absonderlicher Kreis von Außenseitern, sehr kleine Seminare, manchmal nur zu zweit, da musste man immer furchtbar gut vorbereitet sein, weil man ständig drankam.“ Und von der 68er-Revolution wollten diese Alt-Orientalisten auch wenig wissen.
Das Studium, immer wieder unterbrochen durch Semester, bei denen es zu Ausgrabungen nach Ägypten ging, auf der Westseite von Luxor, nahe der Königsgräber. „Während die anderen die 11. Dynastie ausgruben, buddelten wir zwei daneben eine hohe Beamtin aus, Mut-Irdis.“ Die Katalogisierungsnummer dieser Ägypterin findet sich im Nummernschild ihres Autos wieder: TT-410. An dem Heck des Golfs hängt eine grüne Schleife, die ihre Kinder 2009 aus Solidarität mit der iranischen Revolution hin gebunden hatten. Das Grün ist verblasst, aber das Symbol hat im Frühjahr 2023 wieder an Aktualität gewonnen.
1977 schließt sie ihre Doktorarbeit ab, da hat sie schon ihr erstes Kind, bis 1983 folgen vier weitere. Es schließen sich zwölf „Kinderjahre“ bis Ende der 80er an, mit denen Aleida Assmann auf die für sie typische Art umgeht: Um den „akademischen Anschluss“ nicht zu verlieren, organisiert sie mit ihrem Mann Tagungen zu Themen, die sie selbst interessieren. Alle zwei Jahre werden namhafte Professorinnen und Professoren eingeladen, oft nach Bad Homburg, und die Ergebnisse dann publiziert. Themen wie „Schrift und Gedächtnis“ (1979, Bielefeld) oder „Weisheit“ werden so erörtert und reflektiert, immer finanziert von unabhängigen Sponsor:innen.
Erinnerungsräume und kulturelles Gedächtnis
Dort stößt das Ehepaar, das die Süddeutsche Zeitung „das vielleicht berühmteste Geisteswissenschaftlerpaar Deutschlands“ nennt, auf ihr Thema: Wie gelingt es Kulturen, ihre Überlieferungen weiterzugeben? Welche „Erinnerungsräume“, so der Titel ihrer Habilitation, stehen dafür bereit? Welche Formen, schriftlicher und mündlicher Art, entwickeln Kulturen dafür? Der Satz eines malinesischen Philosophen hat sie zum Umdenken gezwungen:
„Mit jedem Greis, der stirbt, verbrennt eine Bibliothek!“
Ob man Überlieferung verkörpert oder in Bibliotheken auslagert – ein fundamentaler Unterschied! Aber auch: Ob man sich erinnern wollte oder lieber das zukunftsorientierte Fortschrittsdenken aus Amerika übernahm, das nach dem Krieg alle (westlichen) Gesellschaften beherrschte. Der amerikanische Traum der Einwanderer war klar: „Man gab seine Herkunft an der Garderobe ab und beteiligte sich am Wettbewerb.“ Aber was Assmann schon früh auffiel: Dieses „Narrativ“ war nur etwas für die weiße Einwanderungsgesellschaft, nicht aber für die schwarze Community, die als Sklaven eingeschleppt wurden und denen soziale Bande oft mehr bedeuteten als individueller Erfolg.
„Die Weißen erkennen immer noch nicht an, dass es in den USA vorwiegend mit Blick auf die Sklaverei zwei sehr unterschiedliche Herkunftsgeschichten zu erzählen gibt.“
Das Wort „Gedächtnis“ wurde für sie prägend. „Ein Artikel dazu fehlt bis heute im Wörterbuch historischer Grundbegriffe, das aus den 1970er Jahren stammt.“ Die Nachkriegszeit, von Aufbruch, Modernisierung und Neugründung geprägt, wollte sich von der Last der Vergangenheit befreien. Das galt für Adenauers „Politik des Schlussstrichs“ ebenso wie für die Gründung der Universität Konstanz. Eine Theorie des kulturellen Gedächtnisses hatte da keinen Platz. Das änderte sich erst in den 90er Jahren. „Die Vergangenheit kehrte plötzlich zurück.“
Plötzlich meldeten sich vermehrt Holocaustopfer zu Wort und erzählten als Zeitzeugen. Junge Oberärzte, wenn sie an Kliniken eine Stelle antraten, fragten nun öfter: Wer hat denn vor mir hier gewirkt? Und in der Psychologie tauchte der Begriff „Trauma“ auf. Man verstand besser, warum so viele geschwiegen hatten: Sie hatten Erlebnisse abgespalten, die nun erst mühsam und langsam, zum Beispiel durch Traumatherapie, wieder ins Bewusstsein zurückgeführt wurden.
Trauma als „Vergangenheit, die nicht vergeht“, die immer latent weiterwirkt. Theorien dazu, die Assmann bis in die Nullerjahre intensiv beschäftigt haben. Und die zeigen: Es gibt keine Zukunft ohne die Kenntnis von Vergangenheit, ohne „kulturelles Gedächtnis“. Was heute aktueller denn je ist:
„Die Vergangenheit, die früher verdrängt wurde, wird heute einfach schlichtweg verweigert. Es ist alles bekannt, aber ich will davon nichts wissen – das ist eine Haltung und gerade unter Populisten sehr beliebt!“
Der europäische Traum
Aleida Assmann hat viele Bücher geschrieben, darunter Titel wie: „Erinnerungsräume, Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses“ (ihre Habilitationsschrift), „Zeit und Tradition“, „Die Wiedererfindung der Nation, warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen“.
Zu ihrem 2018 erschienenen Buch „Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte“, merkt sie Folgendes an: „Dieses Buch ist mein Bekenntnis zur EU, die ja von vielen kritisiert wird. In diesem Buch erinnere ich an vier Lehren, die die Mitgliedstaaten aus ihrer Geschichte gezogen haben: 1. Die EU hat durch eine gemeinsame Wirtschaft den Frieden in Europa über lange Zeit sichern können. 2. Aus vielen Diktaturen in Europa wie Spanien sind Demokratien geworden. 3. Viele Nationen in Europa haben eine selbstkritische Erinnerungskultur entwickelt und erinnern sich nicht mehr nur an ihre Siege, sondern auch an die Leiden, die sie anderen Nationen oder Gruppen zugefügt haben. 4. Europa hat die Menschenrechte bewahrt und ihnen einen hohen Wert beigemessen.“
Der europäische Traum, so Assmann weiter, sei ein Gegenentwurf zum amerikanischen Traum und stelle etwas Einmaliges in der Geschichte dar: Eine Art Eidgenossenschaft von Nationen, die etwas von ihrer Souveränität abgeben, um gegenseitig ihre Rechtsstaatlichkeit zu sichern und gemeinsam handeln und Probleme lösen zu können.
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