Das Bild zeigt eine Silhouette vor Gefängnismauern.

Ein Leben nach der Straftat

Bei Cornelia Göpfert und ihrem Team der Bewährungshilfe stehen Neuanfänge täglich auf dem Plan. Hier werden Straftäter:innen bei der Auseinandersetzung mit ihrer Tat und dem Schritt in ein neues Leben begleitet. Wie gelingt ihnen der Neuanfang?
Wiebke ist Journalistin aus Leidenschaft. Gemeinsam mit Michael…

Cornelia Göpfert leitet die Bewährungshilfe in Konstanz. Sie hat Jura und Kriminologie studiert. Helena Mordvanjuk studiert Soziale Arbeit in Heidelberg und ist seit September als Praktikantin in der Bewährungshilfe Konstanz tätig. Die Bewährungshilfe in Konstanz arbeitet direkt mit den ortsansässigen Gerichten zusammen, kontrolliert, ob verordnete Weisungen und Auflagen von den verurteilten Straftätern und Straftäterinnen eingehalten werden, und unterstützt die Straftäter:innen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Hauptziel der Bewährungshilfe ist, dass der:die Klient:in keine neuen Straftaten begeht. Die Widerrufsquote der hiesigen Bewährungshilfe liegt bei nur 18 Prozent und damit unter dem bundesweiten Durchschnitt. Die Quote gibt an, wie viele der Bewährungsstrafen widerrufen wurden. Das passiert zum Beispiel, wenn während der Bewährungszeit eine neue Straftat begangen wird.

karla: Frau Göpfert, was ist für Sie ein Neuanfang?

Göpfert: Für mich ist ein Neuanfang, wenn es im Leben eine Veränderung gab, die dem vorausgeht – positiv oder negativ. Auf diese Veränderung muss man sich neu einstellen und vielleicht andere Wege beschreiten als vorher.

karla: Bei der Bewährungshilfe haben Sie ja täglich mit Neuanfängen von anderen Menschen zu tun. Was macht denn genau ein:e Bewährungshelfer:in?

Göpfert: Ein Bewährungshelfer wird vom Gericht bestellt, wenn jemand zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, die auf Bewährung ausgesetzt wird, oder wenn jemand frühzeitig aus der Justizvollzugsanstalt entlassen wird. Wir sind dafür da, die Auflagen und Weisungen aus dem Gerichtsbeschluss zu überprüfen und zu kontrollieren. Wir führen regelmäßig Gespräche mit unseren Klienten – wie wir sie nennen – und kontrollieren, ob sie sich an die Auflagen und Weisungen wie zum Beispiel gemeinnützige Arbeit halten. Neben diesem Kontrollaspekt haben wir auch eine unterstützende Funktion: Wir beraten und helfen den Klienten in jeglichen Lebenslagen – sei es bei Schulden, Drogenproblemen oder der Wohnungssuche.

karla: Wenn Sie es prozentual einordnen müssten, ist es mehr Unterstützung oder mehr Kontrolle?

Göpfert: Ich würde sagen 50:50. Man darf vor allem diesen Kontrollaspekt nicht vernachlässigen, schließlich ist das den Richtern wichtig, damit die Bewährung nicht widerrufen wird. Wir versuchen aber natürlich genauso viel zu unterstützen. Es hängt aber auch immer davon ab, was die Klienten möglich machen. Die Kontrolle müssen sie zulassen, aber wie viel Hilfe und Unterstützung sie darüber hinaus in Anspruch nehmen, hängt von ihnen ab. Manchmal bringt es auch nichts, muss man so sagen.

karla: Was ist das für eine Situation, in der man sagen kann, die Unterstützung bringt nichts?

Göpfert: Wir haben sehr viele Klienten, die wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz hier sind. Eine Weisung vom Gericht schreibt ihnen vor, dass sie zur Suchtberatung gehen und Urin-Kontrollen abgeben müssen. Meist ist auch der Wille da, aber das Umfeld und damit einhergehende alte Strukturen und Verhaltensweisen stehen dem entgegen. Manche sind es gar nicht gewohnt, Termine wahrzunehmen. Sie denken dann entweder gar nicht dran, kommen viel zu spät oder melden sich gar nicht mehr. Es gibt immer mal Klienten, bei denen der Kontakt wirklich total gut und zuverlässig ist und plötzlich bricht er komplett ab. Da weiß man meistens, dass sich in der Lebenswelt wieder etwas verändert hat. Wir können unsere Klienten hier vor Ort natürlich motivieren und unterstützen, aber wenn er hier zur Tür rausgeht und das nicht in seine Lebenswelt integriert, wird es schwierig.

Helena Mordvanjuk: Ich würde sagen, dass die meisten im Gespräch motiviert sind. Aber vieles davon wird im Alltag wieder vergessen. Manchmal ist die Umsetzung einfacher gesagt als getan. Vom Gericht gibt es viele Auflagen und Weisungen, die die Klienten überfordern. Wenn sie so viele Sachen zu regeln haben, dann schmeißen sie oft einfach alles hin, anstatt eins nach dem anderen anzugehen. Es ist einfach zu viel.

Göpfert: Der ganze Berg überfordert sie. Die haben Schulden, die Wohnung ist gekündigt, die haben keinen Job und dann ist es, glaube ich, oft für sie auch mit dem Neuanfang schwierig. Was mache ich jetzt zuerst? Ich habe keinen Job, dann kann ich das nicht bezahlen. Dann kriege ich die Mahnung, ich mache schon die Post gar nicht mehr auf. Jeder Schritt wäre erst mal ein Schritt nach vorne – das sehen sie vielleicht in ihrem Termin hier –, aber wenn sie nach Hause kommen, stürzt das alles wieder so auf sie ein. 

Das Bild zeigt Cornelia Göpfert und Helena Mordvanjuk von der Bewährungshilfe in Konstanz.
Cornelia Göpfert und Helena Mordvanjuk von der Bewährungshilfe in Konstanz.

karla: Sie haben ja schon angedeutet, dass das Umfeld, in dem sich die Klient:innen befinden, einen großen Einfluss darauf hat. Wie muss das aussehen, damit ein Neuanfang gelingen kann?

Göpfert: Das ist sehr individuell und hängt davon ab, was der Mensch schon erlebt hat und mitbringt. Bei einigen reicht ein Umzug, um zum Beispiel aus dem Drogenmilieu rauszukommen. Andere waren vielleicht länger inhaftiert und das hat sie nachhaltig beeindruckt, sodass sie wollen, dass das nicht nochmal passiert. Bei ganz vielen spielt auch das Alter eine Rolle. Auch aus kriminologischer Sicht ist es so, dass es bei Jugendlichen und Heranwachsenden im Alter bis 21 Jahren oft noch mehr zu Delikten kommt. Als ich in der Bewährungshilfe angefangen habe, wurde immer der Spruch propagiert: Der beste Bewährungshelfer ist eine prosoziale Freundin. Das ist tatsächlich ganz oft so: Wenn eine Partnerin kommt, funktionieren sie anders. Mit dieser Unterstützung kann sich wirklich etwas verändern.

karla: Sie haben gesagt, dass der Großteil Ihrer Klienten Männer sind. Welche Straftaten haben sie begangen, sodass sie nun hier in der Bewährungshilfe sind?

Göpfert: Wir haben hier alles, vom Dieb bis zum Mörder. Der Großteil – bestimmt 60 Prozent – hat gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen. Frauen werden häufiger wegen Diebstahls verurteilt. Bei einigen ist es so, dass sie, gepaart mit einer Zwangsstörung, Reinigungsmittel klauen. Das haben wir in letzter Zeit wirklich öfter. Diese Klientinnen sind dann den ganzen Tag mit Waschen beschäftigt – sich waschen, Wäsche waschen und die Wohnung putzen. Betrüger sind aus meiner Sicht immer sehr interessante Klienten, weil sie oft eine ganz interessante Persönlichkeit mit sich bringen. Sie haben ihre eigene Realität und Wahrheit und können sich echt gut verkaufen. 

karla: Welche Rolle spielt die Straftat bei Ihrer Arbeit? 

Göpfert: Wir arbeiten deliktorientiert, gehen also Fragen nach wie „Wie ist es an dem Tag in der Situation zur Deliktsbegehung gekommen? Auf was für Signale können sie achten, um zu verhindern, dass es in einer ähnlichen Situation nochmal passiert?“ Bei einigen denkt man am Anfang, dass es schwierig wird, und bei denen klappt es dann perfekt. Es geht genauso auch andersrum, dass manche wieder rückfällig werden. Wir können nun mal nicht Tag und Nacht bei ihnen sein. 

karla: Wie engmaschig ist die Betreuung? Wer legt fest, wie oft die Klienten zur Bewährungshilfe kommen müssen?

Göpfert: Wir haben sogenannte Betreuungsstufen, in die wir die Klienten, abhängig von ihrer Persönlichkeit, der Deliktsbegehung und ob es Wiederholungstäter sind, einstufen. Wir haben fünf Betreuungsstufen – von zweimal im Monat bis alle sechs Monate einen Termin. Der Idealfall ist, dass sie am Anfang eher hoch eingestuft werden, und wenn es gut läuft, werden die Termine seltener. In der Regel sind unsere Klienten drei Jahre lang bei uns. 

karla: Für mich klingt die Frequenz sehr selten. Passt das zum Bedarf oder braucht es mehr? 

Göpfert: Ein hauptamtlicher Bewährungshelfer in Vollzeit betreut um die 80 Klienten. Das heißt, es würde gar nicht anders gehen. Das Betreuungsstufenmodell erlaubt uns, dass diejenigen, die mehr Bedarf haben, auch öfter zu uns kommen. Und diejenigen, die eigentlich schon sehr selbstständig sind, nur noch alle paar Monate. Das lässt sich sehr individuell auf die Klienten einstellen.

Mordvanjuk: Wir können auch an Fachstellen weiterleiten.

Man sagt immer, Bewährungshelfer sind wie Allgemeinmediziner.

Helena Mordvanjuk

Wir sind Experten für die Tataufarbeitung und Rückfallverhinderung und arbeiten eng im Netzwerk mit Spezialisten wie der Suchtberatung und der Schuldnerberatung. 

karla: Wie schaffen Sie es, beim ersten Termin eine Vertrauensbasis aufzubauen? Ich stelle mir vor, derjenige war vorher beim Gericht und kommt ja nicht freiwillig zu Ihnen. 

Göpfert: Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie offen unsere Klienten sind. Am Anfang fragen wir sie komplett über ihr ganzes Leben aus. Wo sind sie zur Schule gegangen? Wie sind sie aufgewachsen? Was ist alles vorgefallen? Damit schaffen wir eine gute Basis für die gemeinsame Arbeit. Wir haben in letzter Zeit oftmals auch Studierende, die vielleicht aus einem gut aufgestellten Elternhaus kommen und niemandem etwas von ihrer Verurteilung erzählt haben, weil es für sie nochmal ganz anders mit Scham behaftet ist. Solche Klienten brauchen dann ein bisschen mehr Zeit, um warm zu werden. Wir unterliegen ja – außer dem Gericht gegenüber – der Verschwiegenheit. Viele sehen in uns daher auch jemanden, mit dem sie endlich mal darüber reden können. Ich denke, wir sind hier alle qualifiziert, dass wir so eine Vertrauensbasis von Anfang an schaffen können. 

karla: Wie finden Sie das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz? Nimmt man sowas dann auch mal mit nach Hause?

Göpfert: Wir hören hier natürlich sehr viele Lebensgeschichten, die teilweise wirklich dramatisch sind. Dadurch wird es nachvollziehbar, warum es zu bestimmten Straftaten gekommen ist. Es wäre nicht richtig, zu sagen, man stumpft ab – überhaupt nicht. Dennoch ist für mich ja klar: Wenn ich ins Büro komme, bin ich nicht die Privatperson, sondern in meiner Rolle als Bewährungshelferin. 

Mordvanjuk: Mir persönlich hilft es, dass wir die Klienten ziemlich gut kennen. Wir wissen, was in der Vergangenheit vorgefallen ist. Durch diesen Einblick in die Geschichte und das daraus entstehende Verständnis für den Klienten kann ich es auch dabei belassen und muss nicht zu Hause noch darüber nachdenken.

karla: Würden Sie eher sagen, dass eine Bewährungsstrafe für einen Neuanfang besser geeignet ist als eine Inhaftierung?

Der Strafvollzug ist erwiesenermaßen nicht geeignet für die Resozialisierung, weil die Inhaftierten in einer abgeschotteten Blase leben und sich nicht im realen Leben beweisen müssen.

Cornelia Göpfert

Göpfert: Ein Strafvollzug kann auch ein Vorteil sein, weil sie sich in dem Moment mit vielen Dingen nicht auseinandersetzen müssen, die im realen Leben Schwierigkeiten bereiten. Auf der anderen Seite ist es aber viel schwieriger, nach der Haft wieder zurück ins Leben zu finden. Dann stehe ich da, habe keine Wohnung und nichts mehr. Es gibt zum Beispiel auch noch die Möglichkeit, dass Straftäter nicht in Haft kommen, sondern in Therapie gehen. Das bringt viel, weil sie wirklich so lange dort sind, bis sie stabilisiert sind und sich bei einem Neuanfang gut behaupten können. Aber auch die Haft kann eine Chance sein: Einige machen dort eine Ausbildung, die sie vielleicht draußen nie geschafft hätten. Man kann nicht per se sagen, was besser ist, denn es kommt auf jeden Einzelnen an. Für den einen ist die Haft eine notwendige Erfahrung, um eine Strukturierung im Leben zu lernen, und für den anderen ist das der Untergang.

karla: Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Straftätern bei einem Neuanfang?

Göpfert: Wir tragen bei der Bewährungshilfe natürlich auch dazu bei, die Akzeptanz in der Gesellschaft zu verbessern. Auch Straftäter sind normale Menschen. Natürlich ist nicht in Ordnung, was sie getan haben. Für uns ist die Einbindung von Ehrenamtlichen eine wichtige Säule der Kriminalprävention. So wird Resozialisierung zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe – unsere Ehrenamtlichen sind hierbei wichtige Multiplikatoren. Inzwischen gibt es viele Arbeitgeber, die ihnen eine Chance geben möchten. Wir raten unseren Klienten immer dazu, offen mit ihrer Vergangenheit umzugehen und es einem potenziellen Arbeitgeber auch zu sagen, bevor er es im Führungszeugnis ohnehin liest. Es gibt aber natürlich auch Straftaten, bei denen man einfach sagen muss, das muss keiner wissen. Es ist ja auch das Recht der Straftäter, dass nicht jeder weiß, was man da falsch gemacht hat – um in der Gesellschaft weiter so existieren zu können. 

karla: Was ist die wichtigste Zutat für einen Neuanfang eines Straftäters oder einer Straftäterin in der Gesellschaft?

Mordvanjuk: Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn eine Person überhaupt keine Unterstützung annehmen kann oder möchte, bringt auch alles Drumherum nichts.

Göpfert: Die Eigenmotivation ist entscheidend. Erst, wenn jemand bereit ist, sich seine Tat wirklich einzugestehen und sich damit auseinanderzusetzen, kann sich überhaupt etwas ändern. Dabei braucht es soziale Unterstützung: sei es die Familie, sei das ein guter Freund, sei das eine betreute Wohnform.

Es braucht jemanden, der dem Klienten so viel gibt, dass er wieder genug Wertigkeit für sich selbst entwickelt, um sein Leben in geordneten Bahnen zu führen.

Cornelia Göpfert

karla: Vielen Dank für den spannenden Einblick.