Ein System am Limit

Die kinderärztliche Versorgung in Deutschland leidet unter überfüllten Praxen, langen Wartezeiten und einem Mangel an Fachkräften. Wie ist die Situation im Landkreis Konstanz?
Ein fieberndes Kind zu Hause zu betreuen, während man auf einen Termin beim Kinderarzt wartet – die Realität vieler Eltern angesichts überlasteter Praxen und lange Wartezeiten. | Foto: Kelly Sikkema / Unsplash

Das Wartezimmer unseres Kinderarztes ist so überfüllt, dass ich mir längst angewöhnt habe, die Wartezeit außerhalb der Praxis zu verbringen – sei es mit einem fiebernden Kind auf dem Arm oder für eine Impfung. Meist flüchten wir uns in die benachbarte Backstube, um die Zeit mit Kakao und Brötchen zu überbrücken. Die freundliche Sprechstundenhilfe sagt uns, wie lange wir in etwa warten müssen und dann sind wir rechtzeitig zurück. Doch die überfüllten Wartezimmer sind nur ein Symptom eines viel größeren Problems.

Einen Termin zu bekommen, kann inzwischen eine echte Geduldsprobe sein: Oft verbringe ich einen halben Tag damit, die Arzthelferin telefonisch zu erreichen. Wenn es kein akuter Notfall ist, lautet die Antwort oft: „Der nächste freie Termin ist in sechs Wochen.“ Ein Wechsel zu einem anderen Kinderarzt? Aussichtslos, denn viele Praxen nehmen keine neuen Patient:innen mehr auf. Das ist die Situation bei uns vor Ort. 

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In einem reichen Land wie Deutschland sollte die medizinische Versorgung unserer Kinder selbstverständlich sein. Stattdessen kämpfen Familien mit überfüllten Praxen, monatelangen Wartezeiten und einem alarmierenden Mangel an Kinderärzt:innen. Was läuft hier schief? Und leidet Konstanz auch darunter?

Ein Gespräch mit Till Reckert, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und engagierter Vertreter im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt:innen e.V., liefert Einblicke.

Zwischen Anspruch und Realität


„Die Versorgungs- oder Bedarfsplanung und das, wie man die Versorgung vor Ort erlebt, stimmen gar nicht immer überein“, erklärt Reckert. Während einige Landkreise wie Tuttlingen auf den ersten Blick gut versorgt wirken, können sich durch das Ausscheiden eines einzelnen Arztes massive Lücken auftun. „Wenn ein Kollege aufhört, wird der Landkreis ‚grün’ – das bedeutet, dass er offen ist für neue Niederlassungen. Doch das zeigt eigentlich, dass die Versorgung anfängt, prekär zu werden,“ erklärt er mir mit Blick auf die Grafik der Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg.

Ein Beispiel dafür ist Freudenstadt. Dort kündigte ein Kinderarzt an, seine Praxis aufzugeben und nur noch privat weiterzuarbeiten – ein Schritt, für den er sich aufgrund eines Burnouts entschied. „Dieser Kollege hat quasi den ganzen Landkreis Kalf mitversorgt. Jetzt stellt sich die Frage, wohin die Patienten gehen“, so Reckert.

Eine Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zeigt, dass bis 2035 fast jeder dritte Kinderarzt in den Ruhestand gehen wird. Gleichzeitig steigt die Zahl der Patient:innen durch höhere Geburtenraten und Migration. Besonders auf dem Land sind die Probleme gravierend: Eltern müssen oft weite Strecken zurücklegen, um überhaupt einen Kinderarzt zu finden.

Die kinderärztliche Versorgung in Deutschland steht unter Druck. | Foto: Vitolda Klein / Unsplash

So ist die Lage im Landkreis Konstanz


Konstanz steht demnach noch gut versorgt da. Aktuell ist im Landkreis die Übernahme eines Praxissitzes ausgeschrieben. Jedoch zeigt die Altersstruktur der niedergelassenen Ärzt:innen einen wachsenden Anteil älterer Ärzt:innen. Diese demografische Entwicklung könnte in den kommenden Jahren zu einem Mangel führen.

Prognosen für 2025 und 2030 deuten darauf hin, dass in der Region Konstanz und insbesondere für die Kinderärzt:innen Versorgungsengpässe auftreten könnten, wenn die Praxisabgaben zunehmen und keine Nachfolger:innen gefunden werden. Das geht aus einer kleinen Anfrage der Grünen Landtagsabgeordneten Nese Erikli aus dem Februar 2022 hervor.

Warum der Nachwuchs fehlt


Reckert selbst bezeichnet seinen Beruf dennoch als Traumjob – trotz der Herausforderungen. Doch warum bleibt die Kinder- und Jugendmedizin für viele Medizinstudierende unattraktiv?„Das Berufsbild hat sich über die Jahre gewandelt. Früher musste man sich regelrecht durchkämpfen, um in der Pädiatrie Fuß zu fassen“, erinnert sich Reckert. „Ich habe 50 Initiativbewerbungen geschrieben, um eine Weiterbildungsstelle zu finden und war währenddessen mit meiner Familie unter dem Sozialhilfesatz.“ Heute ist die Situation eine andere.

Der Nachwuchs in der Medizin ist knapp, und Arbeitgebende bewerben sich bei Arbeitnehmenden. „Die Generation der Selbstausbeutung stirbt aus“, fasst Reckert zusammen.

„Wir erleben eine hohe emotionale Belastung und kämpfen mit einem ständig steigenden Arbeitsaufwand – besonders durch Bürokratie. Die Zeit, die wir wirklich für unsere kleinen Patient:innen haben, wird immer knapper – weil wir uns mit Papierkram beschäftigen müssen“, so Reckert.

Zudem sei es wegen des Fachkräftemangels auch immer schwieriger, für die Praxen medizinische Fachangestellte (MFA) zu finden. „Also wenn wir vor 17 Jahren eine MFA-Bewerbungssuche hatten, dann lagen 30 Bewerbungen auf dem Tisch. Machen wir das jetzt, haben wir genau zwei und die sind nicht geeignet.“

Städte vs. Land – eine ungleiche Versorgung


Während Städte wie Stuttgart oder Konstanz oft eine gute Grundversorgung bieten, so sind dort trotzdem die Praxen häufig überlastet. Laut Gesundheitsatlas Baden-Württemberg warten Eltern im Durchschnitt zwei bis vier Wochen auf einen Termin – außer bei akuten Notfällen. „In der Erkältungssaison häufen sich die Anfragen so stark, dass wir nicht allen gerecht werden können“, erzählt Reckert.

„Das ist für uns genauso frustrierend wie für die Familien.“

Auf dem Land sieht die Lage noch düsterer aus: Hier fehlen oft ganze Praxen, und Eltern müssen lange Anfahrtswege in Kauf nehmen. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) versucht, mit hohen Förderbeträgen gegenzusteuern. „In manchen Regionen, wie im Kreis Calw, werden fünfstellige Summen für Niederlassungen angeboten“, erläutert Reckert. Doch die Anreize verpuffen oft. „Viele fürchten, dort überrannt zu werden und in ein Hamsterrad zu geraten.“

Was jetzt geschehen muss


Die Politik steht in der Verantwortung, die kinderärztliche Versorgung zu sichern. Till Reckert hätte ein paar Ideen, wie die Situation verbessert werden könnte und von denen alle Seiten profitieren würden.

  1. Attraktivere Arbeitsbedingungen: Flexiblere Arbeitszeitmodelle, besonders für junge Ärzt:innen mit Familie.
  2. Entbürokratisierung: Verschlankung der administrativen Prozesse, damit mehr Zeit für die Patient:innen bleibt.
  3. Mehr Ausbildungsplätze: Eine Reform des Medizinstudiums, um mehr Nachwuchs zu gewinnen.

„Präventive Maßnahmen sind der Schlüssel, um langfristig die Gesundheit der Kinder zu sichern. Doch die Realität ist oft, dass wir in der täglichen Praxis eher mit akuten Problemen beschäftigt sind“, so Reckert.

Es geht also nicht nur darum, die bestehenden Strukturen zu verbessern, sondern auch präventive Gesundheitsversorgung zu fördern, bevor die Kinder erkranken.

Gesundheit darf kein Glücksspiel sein


Unsere Kinder brauchen eine zuverlässige medizinische Versorgung – heute und in Zukunft. Doch aktuell erleben wir, wie Praxen überlaufen und Versorgungslücken immer größer werden. Die Situation erfordert innovative Ansätze. „Wir müssen sicherstellen, dass die ärztliche Versorgung nicht von der finanziellen Lage der Familien abhängt. Es darf nicht sein, dass der Zugang zur Gesundheit von der Geografie oder den finanziellen Möglichkeiten der Eltern abhängt“, mahnt Reckert.

Ich habe mir neulich überlegt, mit meinem Sohn einfach zu meiner Hausärztin zu gehen, weil unser Kinderarzt so überlastet ist. Doch auch hier sieht es nicht besser aus: Bis 2035 könnten bundesweit rund 11.000 Hausärzte fehlen.

Teilt Eure Erfahrungen mit uns: Wie steht es um die kinderärztliche Versorgung bei Euch vor Ort? Habt Ihr Probleme erlebt? Schreibt mir eine E-Mail an redaktion@karla-magazin.de.