Das Foto zeigt ein Kind, das mit Holzbausteinen spielt.

Kinderbetreu­ung: „Eine Altlast, die wir mit uns mit­schleppen.“

Jedes Jahr am 1. März, dem Stichtag zur Vormerkung für das Kindergartenjahr, melden viele Konstanzer Eltern ihre Kinder für einen Betreuungsplatz vor. Dann heißt es: Bangen und Hoffen. Wer hat gute Chancen auf einen Platz; wer nicht? Wir erklären die Kitaplatz-Vergabe in Konstanz.
Wiebke ist Journalistin aus Leidenschaft. Gemeinsam mit Michael leitet…

Die Frage nach der Betreuungssituation in Konstanz beantwortet Joachim Krieg nüchtern, aber ehrlich: „Es ist ziemlich dramatisch.“ Momentan kann die Stadt 774 Kindern keinen Betreuungsplatz bieten – davon sind 366 jünger als drei Jahre, 408 älter. Zwar liegt die tatsächliche Zahl der Kinder ohne Betreuung vermutlich darunter, da hier auch Kinder dabei sind, die nur die Einrichtung wechseln wollen – und jene, die mittlerweile keinen Bedarf mehr haben. Trotzdem ist eins ganz deutlich: Es gibt nicht genug Betreuungsplätze. Krieg, der beim Sozial- und Jugendamt für den Bereich Kitaplanung zuständig ist, sagt: „Einem Kind, das keinen Platz hat, können wir damit nicht gerecht werden.“

Das Thema Kinderbetreuung ist ein Dauerthema in Konstanz. Das Problem ist die die Zahl der unversorgten Kinder und die fehlenden Kapazitäten, um die Lage zu verbessern.

„Das ist eine Altlast, die wir mit uns mitschleppen – und es wird auch nicht besser.“

Joachim Krieg

Im Gegenteil: Die Problematik wird weiter verschärft. Gestiegene Geburtenraten erfordern immer mehr Plätze. Das Jahr 2021 war in Konstanz mit 809 Geburten das geburtenreichste Jahr der letzten zwei Jahrzehnte. Die Stadt baut zwar aus, doch viele geplante Gruppen können wegen fehlender Fachkräfte nicht oder nur als Kleingruppe eröffnet werden. Die Situation von Erzieher:innen ist prekär: Immer wieder stehen die Bezahlung, hohe Arbeitsbelastung und der fehlende Nachwuchs in der Diskussion. 58 Kindertageseinrichtungen stehen in Konstanz zur Verfügung; Träger sind neben der Stadt vor allem Kirchen, Vereine oder Elterninitiativen. Mehr als 80 Prozent der Kitas sind in freier Trägerschaft.

karla Wohnzimmer #2: Wie gelingt uns eine funktionierende Kinderbetreuung?

Am 28. Februar veranstalten wir unser karla Wohnzimmer zum Thema „Fehlende Infrastruktur, fehlendes Personal: Wie gelingt uns eine funktionierende Kinderbetreuung?“. Die Idee vom karla Wohnzimmer: Wir wollen mit Expert:innen nicht nur hinter verschlossenen Redaktionstüren ins Gespräch kommen, sondern die Teilnahme am Diskurs für alle Konstanzer:innen öffnen. Wir wollen Menschen in Konstanz miteinander ins Gespräch bringen und konstruktiv dazu beitragen, das Leben in der Stadt mitzugestalten. Ein lebendiger Diskurs auf Augenhöhe – das ist das karla Wohnzimmer. Los geht es um 19.30 Uhr in der Leica Galerie.

Die Grundlage: Der Rechtsanspruch

Für Kinder ab drei Jahren gibt es schon seit 1996 einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in einer Kindertageseinrichtung und damit auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung. Im August 2013 wurde dann auch der Anspruch für unter Dreijährige auf frühkindliche Bildung nach dem achten Sozialgesetzbuch Paragraph 24 festgelegt. „Seit der Einführung des Rechtsanspruchs für unter Dreijährige stehen viele Kommunen vor großen Herausforderungen“, sagt Joachim Krieg. Wer den Rechtsanspruch geltend machen will, muss das in Konstanz beim Sozial- und Jugendamt über die zentrale Vormerkung anmelden. 2022 lag die Versorgungsquote für die unter Dreijährigen bei 35,9 Prozent. Um den Rechtsanspruch zu gewährleisten, wären 405 weitere Betreuungsplätze für diese Altersgruppe notwendig. Bei den über Dreijährigen liegt die Versorgungsquote bei 97,6 Prozent. Trotzdem geht die Stadt davon aus, dass mittelfristig nicht genügend Plätze für alle Kinder ab drei Jahren zur Verfügung stehen werden.

Die Vormerkung

Rein rechtlich muss der Rechtsanspruch sechs Monate vor Inanspruchnahme angemeldet werden. In Konstanz findet dies gesammelt statt: Der Stichtag ist hier der 1. März für alle, die ihr Kind im neuen Kindergartenjahr in die Betreuung – dazu zählen die städtischen Kindertageseinrichtungen und die Kindertagespflege wie Tagesmütter – geben wollen. Dementsprechend viele Vormerkungen erreichen die Stadt im Januar und Februar. Dafür muss ein Onlineformular ausgefüllt und nötige Unterlagen abgegeben werden. Wenn es jedes Jahr zu wenig Plätze gibt, wie kann man sie dann am besten vergeben? Dafür wurden in Konstanz Vergabekriterien vom Gemeinderat beschlossen. Für Betreuungsplätze von unter dreijährigen Kindern sowie für Ganztagesplätze für Kinder über drei Jahren wird anhand unterschiedlicher Kriterien eine individuelle Punktzahl errechnet.

Je mehr Punkte, desto höher die Chance auf einen Kita-Platz. Besonders relevant dabei: das berufliche Pensum der Eltern. Ist ein Elternteil alleinerziehend? Wird gearbeitet? Erfolgt die Arbeit in Vollzeit oder in Teilzeit? Je mehr die Eltern arbeiten, desto höher ist die Punktzahl. Im vergangenen Jahr brauchte man in Konstanz für einen Ganztagesplatz für ein Kind über drei Jahren mindestens 15 Punkte. Bei den unter Dreijährigen waren es mindestens zwölf Punkte. Plätze mit verlängerten Öffnungszeiten – um die 6 Stunden pro Tag – werden nicht nach Punkten, sondern nach dem Alter des Kindes vergeben. Hier erhalten ältere Kinder vor jüngeren Kindern einen Platz. 

„Die Kriterien sind nicht unumstritten. Die Gerechtigkeitsdiskussion ist eine ganz große.“

Joachim Krieg

Durch die Kriterien werden vorrangig Kinder mit einer hohen Punktzahl einen Platz bekommen. Individuelle Lebensumstände, die eine frühkindliche Förderung wichtig erscheinen lassen, stehen nicht im Fokus. Ein unter dreijähriges Kind aus einer Familie, in der beide Elternteile beispielsweise nicht arbeiten, hat demnach kaum eine Chance auf einen Kita-Platz. „Auch wenn hier der Bedarf vielleicht höher sein kann“, sagt Krieg. Werden Arbeitsstunden angegeben, aber keine Arbeitgeberbescheinigung angehängt, kommt das Kind ohne Punkte in die Vergabe. Bei Selbstständigen ist die Kontrolle der Arbeitszeit enorm schwierig. Die Devise lautet hier dann: „Wenn es zu fantasievoll erscheint, schauen wir genauer hin.“ Ein Blick auf die Website gehört auf jeden Fall dazu. Jede einzelne Vormerkung wird ohnehin händisch geprüft. Mittlerweile, sagt Joachim Krieg, hätten die Mitarbeiter:innen „ein gutes Gespür dafür entwickelt, was stimmt und was nicht.“

Die Vergabe

Die Vergabe erfolgt in einer Vergabekonferenz. Daran nehmen neben der Kita-Stelle der Stadt auch die 58 Einrichtungsleitungen teil. Sie gehen die Vormerkungen mit den Namen der Kinder – geordnet nach der Punktzahl – systematisch durch. Das klingt dann zum Beispiel so: „Otto, 17 Punkte, möchte gerne in den Münsterkindergarten gehen. Habt ihr einen Platz?“ Grundsätzlich können Eltern bei der Vormerkung vier Wunschkitas angeben. Außerdem können sie ankreuzen, dass das Kind nur in eine der vier angegebenen Kitas gehen soll. Ist das Kind an der Reihe, die Wunschkitas aber schon voll, geht es leer aus. „Damit schränkt man sich selbst sehr ein“, sagt Krieg. Wenn in einer anderen Einrichtung ein Platz frei wird, wird er aufgrund der eingeschränkten Auswahl der Eltern jedoch nicht angeboten.

Alle freien Plätze werden bis Anfang Mai in einer ersten Vergaberunde vergeben. Sollten Eltern den zugeteilten Platz nicht annehmen, wird er im Nachrückverfahren wieder frei. Im vergangenen Jahr wurden nach der ersten Vergabe über 100 Plätze wieder als frei gemeldet. Die Herausforderungen der Vergabe und der angespannten Platzsituation werden auch an dem Beispiel sichtbar, dass eine eigentlich eingeplante Kitagruppe plötzlich, aufgrund des Ausfalls von drei Mitarbeiterinnen, nicht mehr belegt werden konnte. Das Nachrückverfahren zieht sich bis Ende Juli und dann sind auch die Restplätze belegt. Den genauen Termin für den Einstieg in die Kita machen die Eltern individuell mit der Einrichtung aus.

Kann man bei der Vergabe schummeln?

„Die Verlockung, bei der Vormerkung zu betrügen, ist groß“, weiß Joachim Krieg. Denn schon zwei Stunden mehr bei der Arbeitszeit können einen entscheidenden Unterschied bei der Punktezahl machen. Das Sozialgesetzbuch sieht bei der Vergabe eine Mitwirkungspflicht der Eltern vor. Sie müssen mit Unterschrift des Formulars die Richtigkeit ihrer Angaben bestätigen. Schwer zu kontrollieren, ob sie wirklich richtig sind, ist es trotzdem. Bei Unstimmigkeiten wird nachgehakt – zum Beispiel beim Arbeitgeber.

„Wir wissen, dass da immer mal wieder betrogen wird.“

Joachim Krieg

Manche Dinge kommen im Nachgang raus, solchen Hinweisen wird nachgegangen. Was auch gerne gemacht wird, ist, sich nebenher noch für ein Studium an der Uni einzuschreiben. Dann fragt die Stadt bei der Uni nach, ob dort auch wirklich Prüfungsleistungen erbracht werden. „Es ist ohnehin schwierig, Gerechtigkeit zu schaffen. Aber wenn die Eltern uns belügen, wird es unmöglich“, sagt Krieg. „Wir haben deswegen im Einzelfall auch schon Strafanzeige gestellt.“

Klage auf Betreuung

Auf der anderen Seite bekommt die Stadt auch selbst viele Anwaltsschreiben von Eltern, deren Kinder keinen Platz bekommen haben. Zur Klage kommt es Krieg zufolge allerdings selten. „Wo kein Platz ist, da kann man sich auch keinen einklagen“, sagt Krieg. Im Landkreis Böblingen hatten Eltern mit ihrer Klage vor kurzem Erfolg: Weil ihr dreijähriges Kind keinen Betreuungsplatz bekam, verklagten sie Mitte 2022 den Landkreis. Im Dezember entschied der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim: Fehlende Kapazitäten aufgrund von Personalmangel sind kein Grund, einen Platz zu verweigern. Das Gericht legte dem Landkreis eine zeitlich begrenzte Ausnahmegenehmigung zur Überbelegung im Einzelfall nahe. Mittlerweile hat das Kind einen Kita-Platz. In Konstanz sind solche Verfahren die Ausnahme. Nach Angaben des Sozial- und Jugendamts hat es erst zwei Verfahren gegeben. Das erste zielte auf eine Schadensersatzzahlung ab, doch der Schaden durch Verdienstausfall konnte nicht glaubhaft gemacht werden. Erst ein Mal sei es vorgekommen, dass ein Platz eingeklagt wurde. Im Laufe des Verfahrens konnte dem Kind im Rahmen der Vergabekriterien ein Platz angeboten werden. Den Platz haben die Eltern dann jedoch nicht angetreten.

Alternative: Platz in der Schweiz?

Wenn eine Kommune den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung nicht erfüllen kann, haben die Eltern das Recht, sich selbst einen Platz zu suchen. Auch dabei müssen allerdings Kriterien eingehalten werden und es handelt sich immer um eine Einzelfallentscheidung. Offenbar nehmen das Angebot nur wenige Konstanzer:innen in Anspruch: „Ganz einfach, weil die Kitas in der Schweiz auch voll sind“, sagt Krieg. Der Großteil der Kitas im Kanton Thurgau, wozu auch Kreuzlingen zählt, haben private Trägerschaften. Diese sind nicht subventioniert und finanzieren sich hauptsächlich über Elternbeiträge. Ein Kitaplatz kostet monatlich bis zu 2.800 Franken – also rund 2.800 Euro. Der Elternbeitrag für einen Ganztagesplatz in der Krippe inklusive Essen in einer Konstanzer Kita liegt bei rund 300 bis 350 Euro pro Monat. Konstanzer Eltern, die ihr Kind in eine Schweizer Kita schicken, zahlen den Platz zunächst selbst und erhalten die Differenz zwischen den Kitagebühren hier und denen in der Schweiz von der Stadt Konstanz zurückerstattet.