Wohnen, aber wie?

Wie will ich wohnen? Kann gemeinschaftliches Wohnen eine Lösung sein oder sind das Utopien? Wir haben Menschen getroffen, die gemeinschaftliche Wohnprojekte in Konstanz umsetzen wollen und mit ihnen über ihre Herausforderungen und Hoffnungen gesprochen.

Mitten in Petershausen steht ein Haus mit zehn Wohneinheiten auf dem ehemaligen Klosterareal. Dass dieser Teil von Petershausen einmal so hieß, wissen heute nicht mehr viele. Margot Stahl holt einen dicken Ordner aus dem Regal ihrer Fünf-Zimmer-Wohnung, die sie seit einigen Jahren mit ihrer Schwester und wechselnden Mitbewohner:innen oder Gästen teilt. Fein säuberlich und chronologisch hat sie alle Dokumente rund um die Planung, Entstehung und den Erhalt des Hauses gesammelt. Sie zeigt alte Zeitungsartikel und auf sie einem der vergilbten Fotos von 1988 ist Margot Stahl zu sehen.

Margot Stahl in ihrer Wohnung. | Fotos: Sophie Tichonenko

„65 neue Wohnungen auf dem Klosterareal sollten entstehen. Die Wohnungsnot war schon damals ein Thema.“

Zusammen mit neun weiteren Parteien steht Stahl vor dem Klosterareal. Heute, über 30 Jahre später, ist dieses Gebiet zwischen dem Treffpunkt Petershausen und dem Kulturkiosk Schranke vollständig bebaut. Unter anderem von der Baugemeinschaft, die sie damals mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten, dem Konstanzer Architekten Raimund Blödt, mitbegründete. Über Zeitungsanzeigen und persönliche Kontakte fanden sich schnell zehn Parteien, die Interesse daran hatten, Teil des Projekts zu werden. Sie waren damit eine der ersten Gruppen in Konstanz, die gemeinschaftlich gebaut hat.

Die Baugemeinschaft steht vor dem Klosterareal.

„Wir haben uns während der Bauzeit besser kennengelernt und gelernt, gemeinsam Entscheidungen zu treffen“, findet Stahl. Jede Familie konnte individuelle Entscheidungen wie bei Türen und Böden treffen, während bestimmte Aspekte, wie Fenster und Treppen, einheitlich gestaltet wurden, um Transportkosten und Ressourcen zu sparen.

Obwohl jede Familie ihre eigene Wohnung hat, war es der Gruppe beim Bau wichtig, einen großen, für alle nutzbaren Gemeinschaftsraum zu schaffen. Früher wurden dort vor allem Kindergeburtstage oder andere Feste gefeiert, heute wird der Raum meist für Yoga genutzt.

„Wir wollten hier immer auch ein Nachbarschafts-Café eröffnen. Ich hoffe, bei den aktuellen Wohnprojekten in Konstanz funktioniert es.“

Der Gemeinschaftsraum wird bis heute regelmäßig genutzt.

Genossenschaftliches Wohnen basiert auf dem Prinzip des gemeinschaftlichen Eigentums und der Selbstverwaltung. Mitglieder einer Wohnungsgenossenschaft erwerben Geschäftsanteile und erhalten im Gegenzug ein dauerhaftes Wohnrecht, ohne selbst Eigentümer:innen ihrer Wohnung zu werden. Die Genossenschaft ist in der Regel demokratisch organisiert: Jedes Mitglied hat unabhängig von der Anzahl seiner Anteile eine Stimme. Die Mieten werden kostendeckend und langfristig stabil gehalten, was besonders in Zeiten steigender Immobilienpreise Sicherheit bietet.

Genossenschaften fördern das soziale Miteinander, da Entscheidungen gemeinschaftlich getroffen und Rücklagen für Instandhaltungen genutzt werden. Zudem sind sie häufig in der Lage, Wohnraum auch für einkommensschwächere Haushalte bereitzustellen. Wohnungsgenossenschaften entstanden im 19. Jahrhundert als Reaktion auf Wohnungsnot und steigende Mieten. Heute tragen sie zu einem vielfältigen Wohnungsmarkt bei und bieten eine Alternative zu rein profitorientierten Wohnungsunternehmen. Durch ihren gemeinschaftlichen Charakter und die Verpflichtung zu sozialem Ausgleich gelten sie vielerorts als stabilisierendes Element im Wohnungsmarkt.

Gemeinschaft im Mittelpunkt

Eines dieser Projekte ist die Genossenschaft „Wohnprojekt Konstanz“. Die Gruppe stellt den Wunsch nach gemeinschaftlichem Wohnen in den Mittelpunkt ihres Engagements. Dabei sollen mehrere Generationen und verschiedene Lebensformen unter einem Dach vereint werden. Ziel ist es, ein soziales Miteinander zu fördern und gleichzeitig die Ressourcen effizient zu nutzen.

„Wohnen bedeutet mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Es geht darum, Gemeinschaft zu erleben und sich gegenseitig zu unterstützen“, erklärt Annabel Holtkamp.

Sie ist seit der Gründung 2015 Teil der Gruppe. Laura Grießinger stimmt nickend zu. Auch sie kam vor neun Jahren mit dem Wunsch nach einer anderen Wohnform dazu.

Annabel Holtkamp und Laura Grießinger erzählen vom Wohnprojekt Konstanz.

2015 gegründet, wurde die Gruppe 2017 zur offiziell eingetragenen Genossenschaft. Den Anstoß gab die Projektentwicklerin und -leiterin Sylvia Machler. Sie verleihe dem Projekt seine Struktur, was den Grundstein für dessen Fortbestand bis heute lege, erklären Holtkamp und Grießinger. Nach eigenen Angaben besteht das Wohnprojekt Konstanz eG aus 96 Mitgliedern und 30 Kindern, wobei die ältesten über 70 Jahre alt sind und die jüngsten gerade erst geboren wurden. Die Nachfrage nach gemeinschaftlichem Wohnen scheint zu steigen.

Annabel Holtkamp und Laura Grießinger gehören zum Kern der Gruppe. Sie haben schon viele Menschen kommen und gehen sehen und sind dennoch motiviert. „Manche Hürden erkennt man erst mit der Zeit“, erklärt Holtkamp. Nicht alle, die anfangs dabei waren, sind bis heute Teil der Gruppe. Familien, die gewachsen sind und sich schnell etwas anderes suchen mussten, oder Lebenssituationen, die sich durch Tod oder Trennung verändert haben, führten dazu, dass Mitglieder das Wohnprojekt verlassen haben.

Die „Wohnprojekt Konstanz eG” bei ihrem Sommerfest im Juli 2024. | Foto: Privat

Die Genossenschaft ist formal durch Vorstand und Aufsichtsrat strukturiert. Entscheidungen werden im Leitungskreis getroffen und anschließend vom Vorstand formal bestätigt. Der Leitungskreis besteht aus den Vorstandsmitgliedern, der Projektentwicklerin, den Leiter:innen der Arbeitskreise (AK) sowie je einer delegierten Person pro AK. Holtkamp und Grießinger erklären, dass jedes Mitglied von Anfang an einem AK angehört. Dabei können die Arbeitskreise Gemeinschaft, Kommunikation, Architektur und Finanzen gewählt werden. Im operativen Geschäft folgt die Organisation eigenen Angaben zufolge den Prinzipien der Soziokratie.

Die Soziokratie ist ein Organisationsmodell, das auf dem Prinzip des Konsents basiert. Im Gegensatz zum Konsens, bei dem alle Beteiligten zustimmen müssen, erfordert der Konsent, dass keine schwerwiegenden Einwände gegen eine Entscheidung bestehen. Entscheidungen werden in Kreisen getroffen, in denen alle Beteiligten gleichwertig sind. Jeder Kreis hat eine spezifische Aufgabe und Verantwortung und kann autonom handeln, solange kein Konsentbruch vorliegt.

Hoffnung trotz Durststrecke

Holtkamp erzählt, dass der Prozess, den die Gruppe seit 2015 durchläuft, wie ein ständiges Lernen sei – sowohl im Hinblick auf die bürokratischen Abläufe als auch privat und im Gruppenprozess. Die beiden erinnern sich an die Anfänge.

„Hätte ich am Anfang gewusst, dass wir erst zwölf Jahre später einziehen können, wäre ich vielleicht nicht dabei geblieben“, ergänzt Grießinger.

Auch wenn sich das gemeinsame Planen immer wieder nach einer Durststrecke angefühlt habe, sei sie dennoch geblieben. Vor allem das Gefühl, dass die Verwaltung nur langsam vorankomme, sei belastend gewesen. Gehalten habe sie jedoch die Aussicht auf ein gemeinschaftlich gestaltetes Zuhause und die kleinen Fortschritte hin zur nun greifbaren Realisierung der Pläne „Am Horn“.

Bis zum 15. November 2024 läuft die Bewerbungsfrist der Stadt Konstanz für das Ankergrundstück des Baugebiets „Am Horn“, zwischen Lorettowald und Therme. Im April dieses Jahres hat der Gemeinderat beschlossen, dass die Grundstücksvergabe im Rahmen einer Konzeptvergabe stattfinden wird. Ein solches Konzept möchte das Wohnprojekt Konstanz eG vorlegen. Sollte alles klappen, hoffen sie, in circa drei Jahren einziehen zu können.

Den Schlüsselanhänger mit dem Logo der Genossenschaft hat Annabel Holtkamp immer dabei.

Ihr Konzept sieht vor, dass die Bewohner:innen nicht nur ihre privaten Wohnungen, sondern auch Gemeinschaftsräume wie Dachterrassen oder auch Nutzungsgegenstände teilen. Diese Räume sollen Platz für gemeinsame Aktivitäten wie Kochen, Feiern oder Handwerksprojekte bieten. Zudem ist ein gemeinschaftlich bewirtschafteter Garten geplant. Damit hoffen sie auf eine enge Nachbarschaft, in der sich alle aktiv einbringen und voneinander profitieren. Innerhalb der Gruppe kommen jedoch immer wieder Fragen und Herausforderungen auf. Diese reichen von der Realisierung einer Pflege-WG bis zur Gestaltung der Waschküche. Klar ist aber: Für „Am Horn“ darf die durchschnittliche Wohnungsgröße von 35 Quadratmetern pro Person nicht überschritten werden.

Ein weiterer Kernaspekt des Projekts ist die Nachhaltigkeit. Von der Bauweise bis zur Energieversorgung will die Gruppe auf umweltfreundliche Lösungen setzen. Das Gebäude soll primär erneuerbare Energien nutzen und es wird auf eine ökologische Bauweise geachtet, die möglichst wenig Ressourcen verbraucht. „Wir wollen zeigen, dass nachhaltiges Wohnen und bezahlbare Mieten kein Widerspruch sein müssen“, betont Holtkamp.

Der lange Prozess, die Unsicherheit und die aufwändige Abstimmung innerhalb der Gruppe sind keine einfachen Voraussetzungen, um sich der Frage „Wie will ich wohnen?“ zu widmen. Angesichts aktueller Mietpreise, Spekulationen auf dem Wohnungsmarkt und zunehmender Vereinsamung scheint für die Mitglieder jedoch klar zu sein, dass es langfristig nur mit genossenschaftlichem Wohnen funktionieren kann.

Laura Grießinger sieht das Leben in Gemeinschaft als eine gute Wohnform für sich als alleinerziehende Mutter und ihren Sohn. „Wir wollen alle nicht alleine leben“, fasst auch Holtkamp ihre Motivation zusammen. Sie bleibt zuversichtlich, dass das Wohnprojekt Konstanz für viele Menschen in Zukunft zu einer neuen Heimat wird. Ganz ähnlich klingt auch die Motivation der Menschen, die Teil der „WohnWerkstatt Leben & Teilen“ sind.

Schritt für Schritt

Seit der Gründung im Jahr 2015 sind Cornelia Berthold und Kay Eppi Nölke Teil der „WohnWerkstatt Leben & Teilen“ – einer Gruppe, die gemeinschaftliches Wohnen und Leben anstrebt. Im Laufe der Zeit hat sich die Gruppe verkleinert und besteht derzeit aus etwa zehn bis zwölf aktiven Mitgliedern. Sie sehen sich als kleine, aber agile und freundschaftlich verbundene Gemeinschaft. Jede Person weiß, wo ihre Stärke liegt, und bringt diese gezielt ein. 

Das war nicht immer so. In der Vergangenheit gab es mehr Mitglieder und Arbeitsgruppen, doch Konflikte oder Veränderungen der Lebensumstände führten zu einer Umstrukturierung der Gruppe. Auch heute gibt es immer wieder Bedenken hinsichtlich der Belastung durch die anfallenden Aufgaben in einem gemeinschaftlichen Kontext und der Realisierbarkeit größerer Projekte.

„Diese To-Dos, die sich in einem solchen Gemeinschaftskontext ansammeln, sind enorm. Da brauchen wir eine gute Struktur“, erklärt Nölke.

Kay Eppi Nölke und Cornelia Berthold stehen in Nölkes Schmuckwerkstatt und erzählen von ihrem Wohnprojekt.

Die WohnWerkstatt scheint in den vergangenen Jahren als Gruppe viel gelernt zu haben. Nölke und Berthold betonen, dass es ihnen besonders wichtig sei, nicht nur organisatorische Themen zu bearbeiten. Auch persönliche Anliegen und Befindlichkeiten müssten regelmäßig besprochen werden. Berthold schildert: „Wir nutzen ‘Wie-geht-es-mir-Runden’ und andere Kommunikationsmethoden wie das Community-Building nach Scott Peck.“

Auch der Austausch mit anderen Wohnprojekten in Berlin, Zürich, Wien oder Winterthur hat diese Herangehensweise bestärkt.

„Wirklich ausnahmslos alle haben uns geraten, Wert auf die Kommunikation zu legen und ein Werkzeug zu nutzen“, erklärt Berthold.

Gleichzeitig sind sie als Verein Teil des Mietshäuser Syndikats, was ihnen noch mehr Raum für Austausch und die Möglichkeit bietet, voneinander zu lernen. Nölke berichtet von einem Coach, der ihnen regelmäßig bei juristischen und finanziellen Fragestellungen zur Seite steht oder dabei hilft, neue Fördermöglichkeiten zu erschließen.

Das Mietshäuser Syndikat ist ein Netzwerk selbstverwalteter Wohnprojekte in Deutschland, das sich zum Ziel gesetzt hat, bezahlbaren Wohnraum dauerhaft dem spekulativen Immobilienmarkt zu entziehen. Gegründet in den 1990er Jahren, unterstützt das Syndikat gemeinschaftliche Wohnprojekte, indem es beim Kauf von Immobilien hilft und rechtliche Strukturen schafft, die verhindern, dass die Häuser später verkauft oder in Profitobjekte umgewandelt werden.

Das Besondere: Die Häuser gehören nicht den Bewohner:innen selbst, sondern einer GmbH, die zusammen mit dem Mietshäuser Syndikat als Mitgesellschafter das Eigentum hält. Dadurch wird die Selbstverwaltung gesichert und Spekulation ausgeschlossen. Mit über 180 Projekten in Deutschland fördert das Syndikat gemeinschaftliches Wohnen und solidarische Strukturen und bietet eine alternative Antwort auf die kapitalorientierte Immobilienwirtschaft.

Für Cornelia Berthold ist klar, dass gemeinschaftliches Wohnen – in welcher Form auch immer – Lösungen für viele Herausforderungen bietet.

„Wir brauchen einander, egal wie alt wir sind“.

Sie betont, dass der WohnWerkstatt verschiedene Modelle des Zusammenlebens wichtig sind, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden. So planen sie beispielsweise Cluster-WGs, in denen jede Person ein Einzel-Apartment mit Teeküche hat und über den gemeinsamen Flur die Gemeinschaftsräume wie Küche, Wohn- oder Esszimmer erreicht. „Unser Konzept reicht von kleinen Einheiten bis zu 6er- und 7er-WGs und Familienwohnungen.“

Auch bei ihnen liegen die Anforderungen und Bewertungskriterien der Stadt für das neue Quartier „Am Horn“ auf dem Tisch. Sie wollen sich als Anlieger für das Projekt bewerben. Ob dies mit der kleinen Gruppe machbar ist, wissen sie noch nicht. Sie seien offen für mögliche Kooperationen. Trotz aller Unsicherheiten und Herausforderungen beschreiben beide den Prozess der gemeinschaftlichen Entwicklung als wertvoll.

„Schritt für Schritt entstehen die Dinge“, fasst Kay Eppi Nölke zusammen.

Ein Blick in die Werkstatt, in der an Schmuck und gemeinschaftlichem Wohnen gearbeitet wird.

Eine Zukunftsperspektive für gemeinschaftliches Wohnen

Ob Projekte wie die Wohnwerkstatt oder das Wohnprojekt Konstanz langfristig Erfolg haben, wird sich zeigen. Die Herausforderungen sind groß: langwierige bürokratische Verfahren, hohe finanzielle Hürden und die stetige Balance zwischen Individualität und Gemeinschaft. Klar ist jedoch: Gemeinschaftliches Wohnen bietet eine vielversprechende Alternative in Zeiten steigender Mieten und zunehmender sozialer Isolation. 

Für die Mitglieder der Projekte geht es längst nicht mehr nur um das Dach über dem Kopf. Es geht um die Schaffung von Räumen, in denen Solidarität und nachhaltiges Leben im Mittelpunkt stehen. Während immer mehr Menschen nach Alternativen zur klassischen Wohnform suchen, könnten diese Projekte als Modell für die Zukunft dienen. Auch wenn es ein langer Weg ist – die Bewohner:innen sind überzeugt, dass gemeinschaftliches Wohnen mehr als eine Utopie ist. Für sie ist es eine Chance, das Wohnen neu zu denken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.