Vier Kilometer liegen zwischen der Konstanzer Gemeinschaftsschule Gebhard und der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen, eine EU-Außengrenze, 17 Minuten mit dem Fahrrad. Zwei Länder, zwei Städte, zwei unterschiedliche Bildungssysteme. Aber eines haben beide Schulen gemeinsam: die Liebe zum Singen. Und die hat sie zusammengebracht. Oder besser gesagt: zwei Frauen: Meike Rudolph, Lehrerin an der Gemeinschaftsschule Gebhard, und Manuela Eichenlaub, Lehrerin an der Pädagogischen Maturitätsschule in Kreuzlingen.
Beide kommen aus der Pfalz und kennen sich daher. Eichenlaub ist seit 2008 in Kreuzlingen. Als Meike Rudolph ihre Stelle an der GMS in Petershausen antrat, trafen sich die beiden zum Austausch. „Dabei kam uns die Idee, ein gemeinsames offenes Singen mit unseren Chören zu veranstalten“, sagt Eichenlaub. Das erste offene Singen fand im vergangenen Jahr statt, am 12. Juni geht es in die zweite Runde mit verschiedenen Werken von der Klassik bis zur Moderne. Die Zusammenarbeit ist Eichenlaub wichtig.
„Wir sind Nachbarn, aber die Grenze wirkt stark und die Schüler:innen wissen sehr wenig über das jeweils andere Schulsystem und den Alltag der anderen“, sagt sie. „Musik kann eine Brücke sein, etwas, das wir gemeinsam tun und lieben.“
Unterschiede im Bildungssystem
Am Beispiel des Chors wird auch der Unterschied zwischen den Bildungssystemen deutlich: Die Pädagogische Maturitätsschule hat einen pädagogisch-musischen Schwerpunkt und umfasst die Klassen 10 bis 13. Die Schüler:innen können bereits während ihrer Gymnasialzeit Credits im Umfang eines ganzen Studienjahres an der Pädagogischen Hochschule sammeln, die sich auf dem gleichen Campus befindet.
Nach der Matura, dem Schweizer Abitur, brauchen sie dann nur noch vier statt sechs Semester bis zum Bachelor. „Sie sollen später selbst Musik unterrichten und Klassen leiten, das müssen sie so früh wie möglich durch eigenes Musizieren lernen. Deshalb hat die musikalische Ausbildung bei uns einen sehr hohen Stellenwert“, erklärt Manuela Eichenlaub, Hauptlehrerin für Schulmusik und Chor an der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen.
Dementsprechend ist der Chor mindestens in der ersten und zweiten Klasse obligatorisch, was in Deutschland der zehnten und elften Klasse am Gymnasium entspricht. In der dritten und vierten Klasse sowie während des Studiums an der PHTG kann Chor als Freifach belegt werden. Der Campus-Kammerchor, der am Treffen mit dem Chor der Gemeinschaftsschule teilnimmt, ist ein Freifach, in dem besonders interessierte und leistungsfähige Schüler:innen singen. Sie proben zusätzlich jeden Montagabend.
Anders sieht es an der Gebhard-Gemeinschaftsschule aus. Dort gab es lange Zeit überhaupt keinen Chor. Bis die Schüler:innen sich einen gewünscht haben – mit Meike Rudolph als Leiterin. Die Musiklehrerin hatte damals freitags um 13 Uhr noch eine Lücke im Stundenplan. Aber bekommt man 15 Schüler:innen bei diesem Termin zusammen? Die Antwort war ein klares Ja, als der Chor direkt auf eine Zahl von 25 Schüler:innen kam. Das war 2019.
Vier Jahre später ist der Chor, den Rudolph mittlerweile gemeinsam mit ihrer Kollegin Ellena Stadtherr leitet, auch in der Gemeinschaftsschule fest im Stundenplan verankert. Angeregt wurde dies durch die enge Zusammenarbeit mit Kreuzlingen. „Woanders zu sein, wo Chor Pflicht ist, ist etwas anderes“, sagt Rudolph.
„Es ist eine gute Möglichkeit, sich auch im Schweizer Schulsystem umzuschauen und zu erfahren: Wie können wir das machen?“
Meike Rudolph
Gesagt, getan. Jeden Mittwoch von 13:15 bis 14:30 Uhr haben die Schüler:innen der neunten, zehnten und elften Klassen nichts anderes im Stundenplan stehen und somit Zeit, am Chor teilzunehmen. Das erleichtert die Planung. Früher musste jedes Schuljahr neu geschaut werden, wann ein Termin möglich war – mit der Folge, dass immer wieder Schüler:innen zum gewählten Termin nicht kommen konnten. „Durch das feste Zeitfenster im Stundenplan ist die Wertigkeit höher“, sagt Rudolph.
Singen ohne Grenzen Vol. 2
Bei der ersten gemeinsamen Probe 2022 haben 60 Kreuzlinger:innen und sieben Schüler:innen aus Konstanz zusammen gesungen. „Wir sind aus der Probe rausgegangen und haben nur gesagt: Boah krass“, sagt Amelie, Schülerin an der Gebhard-Gemeinschaftsschule. „Das hat unserem Chor so viel gebracht, das hat echt was in uns verändert.“ Obwohl die 19-Jährige aufgrund des nahenden Abiturs nicht mehr im Chor ist, will sie das Singen mit den Kreuzlinger:innen nicht missen und ist deshalb auch dieses Jahr wieder dabei. „Es waren so viele und sie haben so präzise gesungen, das war wirklich beeindruckend“, beschreibt die Abiturientin ihre Erfahrungen.
Aufgrund der positiven Erfahrungen war schnell klar, dass es eine zweite Auflage geben sollte. „Ich fände es schön, wenn wir enger zusammenarbeiten und uns regelmäßig treffen würden, auch mit anderen Schulen“, sagt Manuela Eichenlaub. Zum diesjährigen Treffen hat sie deshalb auch Sebastian Ehm von der Kantonsschule Kreuzlingen mit seinem Chor eingeladen. Von 18 bis 20 Uhr werden 80 bis 100 Jugendliche im Alter von 15 bis 19 Jahren aus Konstanz und Kreuzlingen gemeinsam singen.
„Für viele Jugendliche ist das Neuland und damit eine ganz neue Erfahrung, die sie nachhaltig prägt“, sagt Meike Rudolph. Sie findet:
„Es unterstreicht die Selbstverständlichkeit, mit der wir hier an der Grenze leben. Dass wir nicht an der Grenze aufhören, sondern auch darüber hinausschauen.“
Meike Rudolph
Nach der letzten Probe haben die Schüler:innen ihre Fahrräder zurück nach Konstanz geschoben, um sich auf dem Rückweg noch über ihre Eindrücke auszutauschen. So wird es wohl auch dieses Mal sein. Vier Kilometer haben sie dafür Zeit.
Du willst mehr karla?
Werde jetzt Mitglied auf Steady und gestalte mit uns neuen Lokaljournalismus für Konstanz.
Oder unterstütze uns mit einer Spende über Paypal.