Jung, extrem und enttäuscht? 

Junge Menschen wählen zunehmend extrem. Expert:innen und Schüler:innen haben darüber im Wolkensteinsaal diskutiert – und wir waren dabei.
  • Junge Menschen wählen zunehmend extreme politische Positionen. Gründe dafür sind unter anderem soziale Ungleichheit und mangelnde Chancengleichheit im Bildungssystem.
  • Populistische Parteien bieten einfache Lösungen und emotionale Ansprache, was sie für junge, frustrierte Wähler:innen attraktiver macht.
  • Die Bildungsungleichheit verstärkt die politische Spaltung. Besser Gebildete neigen zu progressiven Parteien, weniger Gebildete zu extremen Positionen.
  • Expert:innen fordern Reformen im Bildungssystem, um langfristig die Ungleichheit zu reduzieren.
  • Politische Kommunikation muss junge Menschen emotional ansprechen und einbinden.
  • Soziale Bedingungen und reale Lebensumstände müssen verbessert werden, um extremen Tendenzen entgegenzuwirken.

Das Interesse war groß, als die knapp 200 Gäste im Wolkensteinsaal am Münsterplatz eintrafen. Der Abend drehte sich um die Frage, warum immer mehr junge Menschen extreme politische Positionen wählen. Organisiert von der Volkshochschule Landkreis Konstanz, dem Exzellenzcluster „Politics of Inequality“ der Universität Konstanz und moderiert von karla-Geschäftsführerin Pauline Tillmann. 

Philipp Manow spricht über politische Spaltungslinien in Europa. | Fotos: Sophie Tichonenko

Der Politikwissenschaftler Philipp Manow eröffnete den Abend mit einem Vortrag über die politischen Spaltungslinien in Europa. Er stellte fest, dass populistische Parteien neue Ansätze kombinieren: Viele von ihnen sind ökonomisch links, aber gesellschaftspolitisch rechts. Diese Mischung sorgt für Verwirrung in der politischen Landschaft. Auch unter jungen Wähler:innen.

Manow erklärte, dass die Hauptachse der politischen Diskussion nicht mehr von links nach rechts verlaufe. Stattdessen gebe es eine komplexe Struktur aus ökonomischen und kulturellen Positionen. Er nannte die polnische PiS-Partei als Beispiel: Diese erhöhte den Mindestlohn und führte soziale Wohlfahrtsmaßnahmen ein, die traditionell als links gelten. Für Deutschland zog er die AfD und das BSW als Beispiele heran. 

Abschließend beschrieb er die populistischen Parteien, die sich in den letzten Jahren ausgebildet haben, folgendermaßen: Die „neue Rechte“ sei sozio-ökonomisch links und sozio-kulturell rechts, während die „neue Linke“ sozio-ökonomisch rechts und sozio-kulturell links sei. 

Populismus schafft eine Trennung zwischen „dem Volk“ und einer als elitär empfundenen „Elite“. Populist:innen sehen sich oft als die wahre Vertretung des Volkes und kritisieren die etablierte Politik, weil sie glauben, dass die Interessen der Bürger:innen ignoriert werden.

Merkmale des Populismus:

  • Anti-Elitismus: Populist:innen wenden sich gegen die politische Elite und behaupten, die Stimme des einfachen Volkes zu sein.
  • Einfache Lösungen: Sie bieten unkomplizierte, oft unrealistische Antworten auf komplexe Probleme.
  • Emotionale Ansprache: Populist:innen sprechen direkt die Emotionen der Menschen an, häufig mit klaren und eindringlichen Worten.
Bei der Podiumsdiskussion kamen am 18. September knapp 200 Menschen.

Aktuelle Herausforderungen

Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zeigen alarmierende Trends: ein deutlicher Anstieg der Stimmen für die AfD und eine Zunahme extrem rechter Tendenzen. Während der Diskussion wurde die Frage behandelt, warum junge Menschen verstärkt extreme Ansichten vertreten.

Neben der Moderatorin Pauline Tillmann saßen drei Expert:innen auf dem Podium, die das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchteten: Marius Busemeyer, Bildungsforscher; Anna Albrecht, Journalistin und Kommunikationsexpertin und Philipp Manow, Politikwissenschaftler. Ihre vielfältigen Hintergründe eröffneten einen facettenreichen Blick auf die Herausforderungen, denen wir uns als Gesellschaft stellen müssen.

  • Marius Busemeyer ist Professor für Bildungsforschung an der Universität Konstanz und untersucht Bildungsungleichheiten und deren gesellschaftliche Auswirkungen. Er fordert eine Reform des Bildungssystems, um langfristige Ungleichheiten zu reduzieren.
  • Anna Albrecht ist Journalistin und Presenterin bei der Tagesschau. Sie beleuchtet, wie politische Botschaften jüngere Wähler:innen erreichen oder auch nicht. „Es reicht nicht aus, einfach nur Themen zu präsentieren. Parteien müssen es schaffen, junge Menschen emotional zu erreichen“, so Albrecht.
  • Philipp Manow ist seit April 2024 Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Universität Siegen. Seine Bücher zur Populismus-Forschung sind bedeutend, darunter „Die Politische Ökonomie des Populismus“ und „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“. Sein neues Werk „Unter Beobachtung“ (2024) thematisiert die Herausforderungen der liberalen Demokratie.

Warum wählen junge Menschen extreme Positionen?

Anna Albrecht hat beim NDR in Hamburg volontiert.

Für Marius Busemeyer scheint die Verantwortlichkeit klar zu sein. Er kritisiert gleich zu Beginn das deutsche Bildungssystem und den Trend, das gegliederte Schulsystem wieder einzuführen. „Das produziert Bildungsungleichheiten und Bildungsverlierer“, betonte er. Ein Bildungssystem, das Chancengleichheit ignoriert, verstärkt die Kluft in der Gesellschaft. Albrecht stellte fest, dass Populist:innen oft auf einfache Lösungen setzen, um die Frustrationen junger Wähler:innen aufzugreifen.

„Die einfache Sprache der AfD verschafft ihnen einen klaren Vorteil“, so Presenterin Anna Albrecht.

Etablierte Parteien dagegen scheitern häufig daran, einfache und emotionale Botschaften zu formulieren, die gerade bei überforderten Menschen gut ankommen. Die Diskussion beleuchtete auch die Dynamik zwischen Eliten und der breiten Bevölkerung. Busemeyer wies darauf hin, dass Oppositionsparteien wie die AfD unrealistische Forderungen aufstellen können, ohne sich um deren Umsetzung kümmern zu müssen. „Das ist ein struktureller Vorteil“, betonte er.

Diese Dynamik kann das politische System verzerren. Manow fügte hinzu, dass Oppositionsparteien ihre Botschaften oft vereinfachen können, was die Regierungsparteien vor Herausforderungen stellt: „Diese müssen komplexe Probleme lösen und gleichzeitig mit den übertriebenen Forderungen der Opposition umgehen.“

Die Rolle der Bildung

Ein zentraler Aspekt der Diskussion war die Rolle der Bildung bei der Wahlentscheidung. Der aktuelle OECD-Bericht zeigt: Die Bildungsschere in Deutschland wächst. Bildungsungleichheit beeinflusse die politischen Präferenzen und verstärke die Kluft zwischen den Wählergruppen. 

Anna Albrecht betonte die Notwendigkeit, politische Kommunikation so zu gestalten, dass sie junge Wähler:innen ansprechen und sie für demokratische Prozesse begeistert. „Es reicht nicht aus, Themen anzusprechen – wir müssen eine echte Verbindung zu den Wähler:innen aufbauen.“

Anmerkungen und Fragen aus dem Publikum geben neue Blickwinkel auf die Debatte.

Im letzten Teil der Veranstaltung motivierte Moderatorin Tillmann das Publikum zur aktiven Teilnahme. Eine Zuschauerin fragte: „Wie kann es sein, dass trotz steigender Zahlen von Abiturient:innen viele Menschen ohne Schulabschluss bleiben?“ Busemeyer erklärte, dass ein Hochschulabschluss in Deutschland nach wie vor eine Minderheit darstellt und Bildungsungleichheit weiterhin stark ausgeprägt ist.

Diese Ungleichheit spiegle sich auch in den politischen Präferenzen wider: Gut ausgebildete Menschen neigten eher zu progressiven Parteien, während weniger Gebildete oft extremere Positionen unterstützten. Manow merkte an, dass die Kluft zwischen gut und weniger gut ausgebildeten Wähler:innen wachse: „Das bedeutet, dass politische Bildung und Engagement in diesen Gruppen unterschiedlich stark ausgeprägt sind.“

Marius Busemeyer (links) ist Sprecher des Exzellenclusters „Politics of Inequality“.

Ein weiterer wichtiger Punkt für Manow: Die Verantwortung der politischen Elite. „Es reicht nicht, nur über politische Bildung zu reden. Die Elite muss verstehen, wie die Lebensrealität vieler Menschen aussieht“, sagte er. Um wirksam zu sein, müssten die realen sozialen Probleme angepackt werden.

„Wenn die Lebensrealität der Menschen nicht berücksichtigt wird, sind selbst die besten politischen Botschaften ineffektiv.“

Im Dialog mit Schüler:innen

Die Podiumsdiskussion bot auch Raum für Austausch. Pauline Tillmann betonte: „Wir wollen mit der Jugend diskutieren“ und ermutigte die vier anwesenden Schulklassen, aktiv an der Debatte teilzunehmen. Dabei wurde immer wieder die Corona-Pandemie als Auslöser für psychische und soziale Probleme genannt: Einsamkeit, Isolation, Ohnmacht waren nur einige der Gefühle, die vorgetragen wurden. Die Schüler:innen sehen darin einen der Gründe, warum populistische Botschaften und Ideologien vermeintlich Halt und Orientierung geben. 

Vier Schulklassen nahmen an der Veranstaltung teil und erzählten, was junge Menschen aktuell bewegt.

Welche Lösungen gibt es?

Was können wir also tun, um extremen Tendenzen entgegenzuwirken? „Politische Bildung ist ein zentraler Punkt, der mehr Aufmerksamkeit benötigt“, betonte Busemeyer. Albrecht ergänzte: „Es liegt an uns allen, uns einzubringen und uns für Themen zu begeistern.“ Manow stellte klar, dass es nicht nur um politische Bildung gehe. Die Gesellschaft müsse die strukturellen Probleme angehen, die zu Frustrationen und extremen politischen Orientierungen führen. „Die Verantwortung liegt bei uns, die Lebensbedingungen zu verbessern.“

Die Diskussion endete mit einem eindringlichen Appell: politische Bildung stärken, soziale Bedingungen verbessern und alle politischen Akteur:innen zum Handeln bewegen – auch die Zivilgesellschaft. 

Die Stühle im Wolkensteinsaal reichen an diesem Abend nicht aus für alle Interessierten.

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