Auf die Frage, ob sie für diesen Artikel auch ein Kinderbild zur Verfügung stellen könnte, überlegt Nina Röckelein kurz. „Von mir gibt es hauptsächlich Bilder im Schnee.“ Aufgewachsen in Wallhausen als einziges Kind von Eltern, beide gelernte Fernmeldetechniker:innen. Der Vater hatte die Kamera vor allem im Winter dabei: Nina auf dem Eis, auf dem Schlitten.
„Das macht mich nostalgisch: Diese Winter mit dickem Eis gibt es nicht mehr!“ Der Klimawandel. Aufwachsen vor den Toren von Konstanz bedeutete: „Kindergarten und Grundschule in diesem geschlossenen Ökosystem Dettingen-Wallhausen.“ Danach, während der Schulzeit auf dem Ellenrieder-Gymnasium, spielte sich das Leben mehr in der Stadt ab.
Heute steht sie kurz vor dem Abschluss ihres Informatikstudiums und wohnt in einer Siebener-WG in der Chérisy-Kaserne. Ob ihre Studienwahl damit zu tun hat, dass ihre Eltern nichts dabei fanden, auch einem Mädchen das Prinzip eines Lichtschalters zu erklären? Solche Zusammenhänge zu konstruieren, wäre ihr zu oberflächlich. „Und nichts mag ich weniger als Oberflächlichkeit.“
Röckelein denkt gerne in die Tiefe. Über den Zustand der Welt, den Klimawandel, die Mobilität im Landkreis, die Stellung der Frau in unserer Gesellschaft. Folgerichtig hat die heute 25-Jährige sich auf die Liste der Grünen für die Gemeinderatswahl 2019 setzen lassen. Und zwar auf Listenplatz 1. Damals noch mit Rastazöpfen. Als jüngste Gemeinderätin in Konstanz bekam sie genug Stimmen, um auch in den Kreistag einzuziehen. Denn auch auf dieser Liste stand sie.
Detektivarbeit für den Gemeinderat
Und so macht sie seit vier Jahren Kommunalpolitik, arbeitet sich durch 600-seitige Beschlussvorlagen und versucht, Einfluss auf das Geschehen in der Stadt zu nehmen. Das ist, wie es in der Natur der Sache liegt, nicht einfach. Aber der jungen Frau fehlt es nicht an Selbstvertrauen und intellektueller Klarheit, um sich dem zu stellen.
„Eine ältere und erfahrene Kreisrätin hat mir mal gesagt: Beschlussvorlagen lesen ist Detektivarbeit.“
Nina Röckelein
Man müsse immer wieder herausfinden, was nicht gesagt wird, worauf die Vorlage abzielt, in welche Richtung sie einen also „führen“ will und wo man Fakten findet, die auch eine andere Sichtweise beinhalten.
Da brauche es Durchblick. „Aber vor allem braucht man Kontakte zu Leuten, die in dem Thema schon lange tief drinnen sind.“ Und die könnten einen dann im besten Sinne „aufklären“. Denn sie setzt sich gerne mit Inhalten auseinander. Selbstdarstellung ist ihr dagegen unangenehm. Politiker wie der grüne Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel, die vor allem über Inhalte kommunizieren, ohne sich profilieren zu wollen, bewundert sie sehr. Nach fünf Jahren sei für sie aber ohnehin erst einmal Schluss mit der Politik. „Zwei Amtsperioden wären eine zu lange Zeit, zehn Jahre würden mich in meinem Alter unweigerlich sehr prägen.“
Nur Männer im Anzug
Doch zurück zu den Inhalten und wofür sie sich einsetzt. Als emanzipierte Frau stört sie sich schon daran, dass der Frauenanteil im Konstanzer Gemeinderat nur bei 33 Prozent liegt. Im Kreistag sogar nur bei 28 Prozent. „Und im Kreistag haben die Konservativen wie CDU und Freie Wähler derzeit gar keine Frau am Start!“ Die FDP habe gerade mal eine. „Da sitzen dann links von uns nur Herren im Anzug! Ein absurdes Bild!“ Das sei auch ihnen auf Nachfrage schon peinlich, aber geändert hätten sie bisher nichts. Im ganzen Landkreis gebe es nur eine Bürgermeisterin, in Büsingen, und auch in den Verwaltungsspitzen seien Frauen unterrepräsentiert.
„Es gibt noch viel zu tun!“
Nina Röckelein
Und wenn man an die Gesundheitsversorgung der Frauen denkt, sieht es nicht besser aus: Hebammenmangel, ein zeitweise geschlossener Kreißsaal, „und ich suche auch schon lange eine Gynäkologin für mich in der Stadt“. Bisher mit negativem Ergebnis. „Die meisten nehmen niemanden mehr.“ Ob das daran liegt, dass vor allem Männer Politik machen und ihren Fokus woanders haben? Das Thema Frauen und Gesundheit werde jedenfalls stiefmütterlich behandelt, so ihr Eindruck. Ein Eindruck, der auf zusammengetragenen Fakten beruht.
Durch Klimaschutz kam sie in die Politik
Ein weiteres, vielleicht das wichtigste Thema: Klimaschutz. „Das Thema hat mich in die Politik gebracht!“, was dabei am dringendsten sei:
„Klimaschutz, das heißt für mich, unsere gesellschaftliche Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu durchbrechen – und zwar schnell!“
Nina Röckelein
Heruntergebrochen auf die kommunalpolitische Ebene: Wenn es hier zum Beispiel um Bebauungspläne geht, tut es ihr manchmal weh, wie über den alten Bestand „hinweggefegt“ wird. „Ich bin für Nachverdichtung in der Stadt“, aber man müsse zum Beispiel auf vorhandene Bäume Rücksicht nehmen. Was nicht immer geschehe. „Das Seerheinufer an der Herosé ist schon sehr zubetoniert worden.“ Immerhin sei bei der Planung des (für sie viel zu großen) Parkhauses am Döbele wenigstens eine Straße so umgeplant worden, dass die Bäume stehen bleiben können.
„Politik ist manchmal sogar lernfähig.“
Und dabei lächelt sie nicht, der Satz hat keinen ironischen Unterton. Sie meint ernst, was sie sagt, eigentlich immer. Und deshalb ärgert sie sich auch oft über die Stadtverwaltung.
„Wir im Stadtrat haben das Problem, dass wir oft Dinge beschließen, die dann nicht umgesetzt werden.“
Nina Röckelein
Ein Beispiel: 2020 wurde beschlossen, dass die Bustickets vereinfacht und neu bepreist werden sollen: Einzelticket: zwei Euro, Tagesticket: vier Euro, Gruppenticket: acht Euro. Passiert ist nichts. Erst die Ausrede Corona (die für vieles herhalten musste), dann habe man das nicht „evaluieren“ können – und so weiter. „Es wäre besser, wenn sie einfach sagen würden: Hey, sorry, Leute, wir haben es einfach nicht geschafft.“ Das ist auch so ein Eindruck von ihr, dass niemand so richtig die Verantwortung übernimmt für Projekte, die beschlossen und auf den Weg gebracht werden müssen.
Und auch über das Thema „Verkehr und Mobilität“ könne man reden. Sie erzählt, dass sie oft von Wallhausen nach Ulm wollte, natürlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Was schwierig war. „Da war ich schon über eine Stunde unterwegs und konnte von Überlingen aus gerade mal unserem Haus gegenüber in Wallhausen zuwinken.“ Die Anbindung der Vororte an den Allensbacher Bahnhof wäre ein richtiger Schritt, dass man nicht erst in die Stadt fahren muss, um wegzukommen. Ist geplant. Kommt aber wohl erst 2030. „Das dauert alles viel zu lange.“
Viel zu viele Autos
Und überhaupt der Autoverkehr in den Innenstädten. „Nie ist der E-Mail-Verkehr so dramatisch, wie wenn mal fünf Parkplätze stillgelegt werden.“ Parken vor dem eigenen Haus, offenbar ein Grundbedürfnis der Konstanzer:innen. Im Februar war sie in Oslo, dort war die Innenstadt weitgehend autofrei. „Wie schön ruhig das war!“ Die Niederlande würde mittlerweile auch sehr stark auf das Fahrrad setzen. „Und alle Studien, wirklich alle, beweisen, dass der Handel im Innenstadtbereich davon profitiert! Fußgänger und Fahrradfahrer sind die besten Kunden.“ In Konstanz allerdings löse das Thema noch Abwehrreflexe aus.
Und auch der Gemeinderat sei noch zu konservativ, habe zwar auch umweltfreundliche Visionen, plane dann aber doch lieber für „viel zu viele Autos“. Oft wird auch argumentiert: Weniger Parkplätze oder weniger Fahrspuren sind schlecht für das Klima. Weil es dann mehr Parksuchverkehr oder mehr Staus gäbe. Aber auch hier gebe es eine klare Studienlage: „Wenn die Kosten einer Fahrt (Zeitaufwand + Geld) auch nur geringfügig steigen, fahren sehr schnell weniger Menschen mit dem Auto.“ Dadurch würden Räume für Fußgänger:innen und Radfahrer:innen frei, auch für den öffentlichen Verkehr wäre mehr Geld da. „Und man könnte Quartiere vor allem für Kinder sicherer machen, denn parkende Autos in jeder Straße machen die Stadt für sie gefährlich!“ Und aus der Sicht der Kleinsten denken – das wäre doch mal ein Ansatz.
„Unverantwortliches Verhalten gegenüber der Menschheit und dem Planeten“
Die Niederländer:innen haben es in den 70er Jahren mit ihrer Kampagne „Stoppt den Kindermord“ vorgemacht, ausgelöst durch zu viele von Autos überfahrene Kinder in ihrer Stadtbevölkerung … – ein Thema, das sich endlos fortsetzen ließe und zu dem es noch so viel zu sagen gäbe. Für das es einen Kulturwandel bräuchte, der jedoch noch nicht in Sicht sei. Und damit sei nicht die Bahn gemeint, nicht das neue Quartier im Hafner, von dem sie nur hoffen könne, dass dort wirklich alles umgesetzt werde, was „klimaneutral“ geplant worden sei. Nicht über den Konstanzer Klimafonds, der ihrer Meinung nach zu viel verspricht und damit verschleiert, dass „CO2-Kompensation“ viel teurer ist, als es die meisten Kompensationsrechnungen vorgaukeln.
Und man müsse anfangen, über den exzessiven Luxus auf Kosten des Klimas zu reden und ihn zu ächten: riesige SUVs, Motoryachten, Privatjets etc. „Das ist nicht mehr cool, sondern ein unverantwortliches Verhalten gegenüber der Menschheit und dem Planeten.“ Wie kann man die Emissionen der Reichen begrenzen, die sich von CO2-Steuern und höheren Energiepreisen nicht beeindrucken lassen? Über all das ließe sich trefflich streiten. Denn über all das hat Nina Röckelein gründlich nachgedacht. Und es wäre endlich anzugehen, wenn man begriffen hätte, wie es um unsere Welt steht. Dabei wirkt sie zielstrebig, gibt aber auch zu: „Häufig bin ich einfach nur verzweifelt!“ Und ihr Berufswunsch? Natürlich ihr Wissen als Informatikerin in Bereichen wie erneuerbare Energien oder Mobilität einbringen. „Das Studium ist oft sehr abstrakt.“ In der Anwendung seien die Algorithmen dann aber ganz konkret einsetzbar: zum Beispiel in der Biomedizin genauso wie in der Verkehrsplanung. Das sei faszinierend.
Eine klare Vision
„Am liebsten würde ich Energienetze koordinieren!“ Wie könnte man die Energiebilanzen vom einzelnen Haushalt über das Quartier, die Stadt und das Land ausgleichen?
„Wie toll wäre es, wenn man zum Beispiel für das Paradies genau sehen könnte, wie viel Energie gerade verbraucht und wie viel gerade produziert wird!“
Nina Röckelein
Und wie viele Solardächer noch nötig wären, damit der Stadtteil „autark“ wäre. Denkbar wären intelligente Autoladesäulen, die sich einschalten, wenn viel Strom da ist, und Strom zurück ins Netz einspeisen, wenn zu wenig da ist. Röckelein spricht von „zellularen Netzen“, die anders funktionieren als die „heutigen zentralistisch-monopolistischen Energieversorger“. Da wagt auch eine Nina Röckelein – für einen kurzen Moment – zu träumen. Um sich dann wieder den anstehenden Aufgaben und Inhalten zuzuwenden. Denn Politik, sagt die junge Gemeinderätin, ist eben Klein-Klein. Da helfe nichts. „Umso wichtiger ist es, dass eine klare Vision hinter dieser Arbeit steht!“
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