Wer bin ich? Und welche Rollen spiele ich in meinem Leben? Diesen Fragen hat Simon Diefenbach nicht nur sich, sondern auch anderen Konstanzer:innen gestellt. 2020 durchlief er beim Hospizverein den Kurs zum ehrenamtlichen Sterbe- und Trauerbegleiter. In den Räumen des Seniorenzentrums, wo der Kurs stattfand, hingen Portraits von Älteren an der Wand, die ihn inspirierten, sodass seine Gedanken „wild zu tanzen begannen“. Eigene Fragen zur Identität und wie man seinen Lebensweg gestalten könne, wie mit den Brüchen darin umzugehen sei und welche Auswirkungen diese auf die eigene Biografie haben könnten – all das „verschmolz miteinander“.
Und ein Projekt reifte in seinem Kopf. Ein fotografisches. Mit einer Mappe und seinem Entwurf ging er zu Markus Wintersig, dem Inhaber von „Lichtblick“ und der Leica-Galerie Blende 8, in der seit einigen Jahren Wechselausstellungen von Fotograf:innen zu sehen sind. „Mich hat die Idee gleich angesprochen, denn das war das erste rein Konstanzer Projekt: Der Künstler von hier, die portraitierten Personen von hier, das passte zu uns!“ Wintersig überließ Simon leihweise die Kameraausrüstung im Wert von 8.000 Euro und stellte ihm seine Mitarbeiterin Franziska Reichel als Beraterin und Koordinatorin an die Seite. Natürlich mit der Zusage: Wenn das Projekt fertig ist, darf Simon in den Räumen der Galerie ausstellen.
Die Ausstellung von Simon Diefenbach ist noch bis zum 24. Juni in der Leica-Galerie zu sehen. Die Galerie hat Montag bis Freitag von 10:00 bis 18:30 Uhr geöffnet, Samstag von 9:30 bis 17:00 Uhr.
Unterstützung vom Hospizverein
Was wollte Simon umsetzen? Nun, es ging ihm um die Frage nach dem Ich, nach den Rollen, die wir einnehmen. Und darum, das künstlerisch zu gestalten. Womit er beim Hospizverein und seiner Leiterin Petra Hinderer auf offene Ohren und Herzen stieß. „In der Hospizarbeit geht es ja immer auch um die Fragen: Wer bin ich? Was hat mich geprägt? Was will in der verbleibenden Zeit noch gelebt werden“, erklärt Hinderer ihre Motivation, bei dem Projekt als Kooperationspartnerin aufzutreten.
„Und in der Begleitung tauchen dann ja im Rückblick auf das Leben auch immer wieder diese Fragen auf: Wer war ich denn nun? Wer hätte ich noch sein wollen? Was habe ich verpasst, was erreicht?“
Petra Hinderer
Fragen, die sich auch die Ehrenamtlichen selbst stellen müssten. „Und da wir ja auch Bewusstseins- und Öffentlichkeitsarbeit leisten wollen, war schnell klar, dass wir dieses Projekt unterstützen möchten.“
Personen mit der Bereitschaft mitzumachen waren schnell gefunden. Vier der sechs sind selbst in der Hospizarbeit engagiert. Eine Dame wollte sich beteiligen, die eines der Appartements des Vereins bewohnte. Dort zieht man nur ein, wenn der Tod nicht mehr weit ist. „Sie ist leider verstorben, bevor wir die Arbeit abschließen konnten,“ bedauert Simon. Doch wo, wenn nicht im Hospiz, gehört der Tod zum Leben dazu?
„Jede, jeder ist so viel mehr, als man sehen kann“
Simon Diefenbach hat selbst eine sehr lange Phase von Krankheit erleben müssen, „in der ich aber sehr gut begleitet wurde“. Davon wolle er nun selbst etwas in der Hospizarbeit zurückgeben. Und er hat auch selbst mit seinen 36 Jahren schon viele Rollen durchlaufen, vor allem berufliche: Er schrieb für Videotexttafeln 16-zeilige Zusammenfassungen von Filmen, entwarf die Drehbücher für die Kindersendung „1,2 oder 3“, drehte Kulturbeiträge für Arte, war Ghostwriter für einen Kabarettisten, war beim Südkurier.
Aktuell ist er „Agile Coach“ in einer Digitalagentur und dafür zuständig, dass die zwanzig Mitarbeitenden sich verstehen und gut miteinander auskommen. Warum diese häufigen Wechsel? „Weil ich superneugierig auf das Leben bin!“ Eindrücke sammeln, unterschiedliche Perspektiven einnehmen, sich ausprobieren – immer neu, das reize ihn. Der eigene Weg, der zu der Fotoserie passt. „Jede, jeder ist so viel mehr, als man sehen kann.“ Diese Vielschichtigkeit offenzulegen, ein Aspekt der Arbeit.
Der perfekte Moment
Ein aufwändiges Projekt zudem. Nur ein Beispiel: Das Bild mit Henning Brockmann im Boot auf dem See war ursprünglich als Herbstbild mit Nebel und durchbrechender Sonne geplant. Von Radolfzell aus fuhr man hinaus. „Aber das passte einfach nicht!“ Man verlegte es auf den Sommer, startete in Allensbach, „mit einem zweiten Boot von Henning, das er auch selbst gebaut hat.“ Simon will zunächst nicht rausfahren, ein Gewitter zieht auf, Henning beruhigt ihn, er kenne sich mit dem Wetter aus. Drei Stunden sind sie auf dem Wasser, Simon im wackeligen Beiboot mit der teuren Kameraausrüstung, das Zeitfenster schmal, in dem die Sonne genau hinter dem Segel stehen würde, zwei- bis dreimal kann Henning das Boot wenden, um es für den optimalen Moment ins Bild gleiten zu lassen. „Und dann passte es perfekt!“ Im Buch zur Ausstellung ist von Henning zu diesem Bild zu lesen: „Ich finde Ruhe in mir, Frieden.(…) Pure Präsenz.“
Welche Rolle will man zeigen?
Simon reduzierte letztlich die Zahl der Protagonist:innen von acht auf sechs. Weil er merkte, dass es nicht auf Quantität ankommt. „Sondern auf Zeit, um in die Tiefe zu gehen.“ Dabei entschieden die Teilnehmer:innen selbst, wie weit sie gehen wollten. „Alles mündige Erwachsene, die wussten, was sie taten.“
Einer von ihnen ist Rainer Ruess. „Jetzt bin ich siebzig, da kann ich auch mal bei etwas Ungewöhnlichem mitmachen“, sagt er. In zwei seiner Bilder thematisiert er offen das Thema Alkohol: auf einem Parkplatz im Auto sitzend, auf dem Asphalt leere Flaschen. Ein zweites: in einer Bar am Tresen, Tee trinkend (Titel:„Alkohol“, „Alkohol II“). Der kalte Entzug 2007 nach Jahrzehnten des Trinkens. In den Begleittexten bekennt er sich dazu. „Am Anfang habe ich natürlich daran gedacht, mich in gefälligeren Rollen ablichten zu lassen: als Lehrer, der ich immer noch bin. Oder als Vorsitzender der AWO, was ich 25 Jahre lang war.“ Aber die sind es dann nicht geworden. Das Leben als trockener Alkoholiker, führt er aus, sei „unendlich schwer“. Entweder lebe man in der Lüge oder man müsse sich ständig outen, sei es beim Sektempfang in der Schule oder im Restaurant bei der Nachfrage, ob in der Soße Rotwein sei.
Die Fotos nun hätten vor allem im Bekanntenkreis geholfen und für Transparenz gesorgt. „Ich bekomme jetzt von niemandem mehr zum Geburtstag eine Flasche Rotwein geschenkt“ und Anerkennung für sein Auftreten gebe es noch obendrein. Auch er ist ehrenamtlicher Sterbegleiter beim Hospizverein geworden, was er in einem dritten Bild zeigt. Er nennt es „Begleiter II“, daneben er im Bademantel auf dunkler Straße mit seinem Hund Camilo, der ihm Trost gab nach dem Tod seiner Frau und seines ersten Hundes Buffy („Begleiter I“).
Darüber schreibt er ebenfalls im Begleitbuch: Wie es ihm oft schwerfiel, die leere Wohnung aufzuschließen, wie froh er war, wieder einen Hund zu haben. Der ihn begleitet. Den er begleitet. Weggefährten. „Und so geh ich eben nachts raus, wenn mein Hund mal muss.“ Und hofft, dass ihn keiner sieht. Jetzt können ihn alle sehen. Und dass sich nun ausgerechnet jemand dieses Foto für knapp 600 Euro ins Wohnzimmer hängen wird? „Kann ich mir nicht vorstellen“, sagt Ruess. Man wird sehen.
„Ich nenne das Selbstinventur“
Fest steht: Es war eine intensive Zeit für alle Beteiligten, die ihren Höhepunkt am Mittwoch vor der Ausstellungseröffnung am 14. April fand. Simon erinnert sich: „Ich habe mich in der Galerie mit allen Teilnehmenden getroffen, die Bilder aufgehängt … und dann gemerkt; jetzt ist es vorbei!“ Dann blieb ihm nur noch die Nervosität: Wie werden die Zuschauer:innen die Fotos aufnehmen? Zur Vernissage am Abend war die Galerie dann rappelvoll, das Interesse riesig, Simon steht das noch durch, merkt aber schon, dass er krank wird: Die Erschöpfung nach getaner Arbeit. Und dazu ein „überwältigendes Gefühl“, in dem sich alles vermischt und nichts identifizieren lässt. „Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, das alles zu reflektieren.“ Etwas, was er sich auch von den Besucher:innen wünscht. Dieses Innehalten und Nachdenken über das eigene Leben, über die Entwürfe von sich, die verwirklichten und die erträumten. „Ich nenne das Selbstinventur.“ Einen Workshop dazu wird es im Mai geben, im Angesicht der Bilder. Sich fragen, wer man ist. Und darüber staunen, wie viele man sein kann.
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