Der Plot von „Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse“ ist schnell erzählt: Berti Bartolotti, eine Textilkünstlerin mit Hang zum Homeshopping, erhält fälschlicherweise ein Paket mit einem Retortenkind: Konrad. Er wurde in einer Fabrik für perfekte Kinder produziert und ist der Traum eines jeden CDU-Fans. Er ist ordentlich, fleißig, reinlich, strebsam und leise. Apotheker Egon, der immer dienstags und samstags mit Berti Bartolotti ausgeht – an den anderen Tagen kann sie ihn nicht gebrauchen – ist entzückt! Wenn alle Kinder so wären wie dieser Konrad, hätte er schon längst selbst eines. Mit Freude geht er in seiner Vaterrolle auf und zaghaft entsteht eine kleine Familie. Doch die Fehllieferung bleibt nicht lange unbemerkt, die Fabrik will Konrad zurückholen. Für Berti Bartolotti ist das keine Option, sie hat ihr Kind bereits ins Herz geschlossen und so plant sie mit dem Nachbarsmädchen Kitty eine Umerziehungsaktion – und diese gelingt! Als die blauen Männer aus der Fabrik Konrad abholen wollen, ist er derart unartig und frech, dass sie schnell Reißaus nehmen und das Kind dort lassen, wo es ist: in seinem Zuhause.
Die literarische Grundlage des Stücks ist ein Buch von Christine Nöstlinger aus dem Jahr 1975, die damit – vollkommen zurecht – mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde. Der Text ist ein Lehrstück gegen Adultismus, das entstand, bevor man den Begriff überhaupt kannte. Adultismus ist eine Form der Diskriminierung, die Menschen aufgrund ihres Alters abwertet, also Kinder betrifft. Beschäftigt man sich mit den Ausmaßen, so wird klar, dass wir alle in einer streng adultistischen Welt aufgewachsen sind und auch unsere Kinder noch oft diskriminiert werden. Das fängt bei Kleinigkeiten an, wenn man zum Beispiel gezwungen wird, ein Kleidungsstück anzuziehen, das man nicht tragen will, oder etwas zu essen, das man nicht mag. Sätze wie „Das wird jetzt so gemacht, weil ich es sage!“ kennen wir alle aus unserer Kindheit – und sagen sie als Erwachsene vielleicht manchmal selbst. Der Adultismus ist in unserer Gesellschaft so fest verankert, dass man sehr achtsam sein muss, um die eigenen Verhaltensmuster zu reflektieren und zu durchbrechen.
Literarische Vorgabe taugt als Erziehungsratgeber
Und hierfür ist „Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse“ ein richtig gutes Handbuch. Im Grunde kann man die anderen Erziehungsratgeber getrost beiseitelegen: In dieser Geschichte findet sich alles, was es braucht. Berti Bartolotti verkörpert den Feminismus par excellence: Sie übt eine selbstbestimmte, künstlerische Tätigkeit aus, verdient damit ihr Geld und entspricht in keiner Weise den Anforderungen der Gesellschaft. Sie ist bunt, frei, wild, laut und schrill. Auch ihre Liebesbeziehung gestaltet sie, wie es ihr gefällt, abseits von gängigen Konventionen und Rollenbildern. Sie raucht Zigarillos und mehr als einmal trichtert sie Konrad ein, dass es vollkommen egal ist, was andere Leute denken, man müsse machen, was man will. Auch in ihrer Mutterrolle ist sie vollkommen frei.
Es gibt Eis zum Abendessen, schulische Leistungen sind ihr egal, auf Freundschaften hingegen legt sie viel Wert – Hauptsache, das Kind ist glücklich. Im Grunde ist sie eine erwachsengewordene Pippi Langstrumpf. Auf der Bühne zeigt Sabine Martin ihre Verkörperung von Berti Bartolotti mit einer solchen Portion Lebensfreude und Schwung, dass man am liebsten sofort selbst in ihre bunte Wohnung einziehen möchte. Überhaupt ist das Bühnenbild so liebevoll und kreativ gestaltet und auch die Kostüme zeigen viel Farbe. Verantwortlich ist Vinzenz Hegemann, der vor allem mit den fancy Perücken einen Volltreffer landet.
Die Zerrissenheit einer Kinderseele
Konrad wird von Jonas Pätzold gespielt, was im ersten Moment irgendwie absurd erscheint, da er das gesamte Ensemble um eine Kopflänge überragt, aber nach fünf Minuten überhaupt nicht mehr auffällt, weil er so einfühlsam in die Rolle geht. Er zeigt ganz wunderbar die Zerrissenheit einer Kinderseele, die zum einen Anerkennung sucht, gesellschaftlich akzeptiert sein will und sich daher leise, still und brav verhalten möchte, zum anderen aber auch wild, frech und bunt sein will – einfach, weil es Spaß macht und lebendig ist. Konrad fühlt sich also immer wieder verzweifelt und zwischen den Welten gefangen. Ein Gefühl, das vielen Patchworkkindern bekannt sein dürfte, wenn in den jeweiligen Haushalten unterschiedliche Werte gelebt werden. Und auch in Kindergärten und Schulen gibt es oftmals andere Regeln als zuhause, was Kinder in moralische Konflikte bringen kann.
In Konrads Fall wird seine Prägung aus der Fabrik durch den Apotheker Egon aufrechterhalten, der ein strukturiertes, minimalistisches und bürgerliches Leben führt. Seine Vaterrolle nimmt er mit Freuden und gegen den Willen von Berti Bartolotti an, es folgen einige Diskussionen über die richtige Erziehung. Egon wurde zur Premiere von Kristina Lotta Kahlert gespielt, die wunderbar steif und beige über die Bühne spießert und am Ende sogar ein kleines Tänzchen wagt. Zusätzlich schlüpft sie auch noch in andere Rollen. Ebenso zeigt Thomas Fritz Jung seinen Facettenreichtum und Humor in unterschiedlichen Posen – köstlich, wie sein Kopf im Fernseher steckt oder er mit Toni-Erdmann-Zähnen den Fabrikleiter mimt.
Das Stück endet mit einer Verfolgungsjagd, als die blauen Männer aus der Fabrik Konrad wieder zurückholen wollen (hier wird es für kleinere Kinder etwas gruselig!). Gemeinsam mit dem Nachbarsmädchen Kitty, die von Luise Harder auf eine anrührend warme und witzige Art gespielt wird, startet Berti Bartolotti die Umerziehung von Konrad. Obwohl es ihm körperliche Schmerzen bereitet, muss er lernen, Schimpfwörter zu formulieren, Wände zu bemalen und sich unangepasst zu verhalten. Hier bleibt die Inszenierung unter Regie von Elisabeth Gabriel und Dramaturgie von Carola von Gradulewski sehr nahe an der literarischen Vorgabe aus den 1970er Jahren. Was einerseits einen Retrocharme mitbringt, der durchaus schön anzusehen ist, verspielt auf der anderen Seite die Möglichkeit, die aktuelle Lebenswelt der Kinder zu öffnen. Stellenweise wird das angefangen, mit einem Nintendo, einem Hoodie und vereinzelten Vokabeln aus der Jugendsprache, aber davon wäre mehr schön gewesen. Konrad und Kitty hätten beispielsweise Graffitis sprayen können, statt die Wände mit Kreide zu bemalen und auch das mehrfach zitierte Mozart-Lied hätte man im Finale in einen zeitgemäßen Rapsong (Musikalische Leitung: Christoph Iancono) übersetzen können.
So hat das Stück das jugendliche Publikum nicht vom Hocker gehauen – für die vielen, vielen kleinen Gäste und auch die Erwachsenen ist es aber ein wunderbar warmherziger Theaternachmittag, an dem wir lernen dürfen, ein bisschen bartolottiger zu sein. Als auf der Bühne gesagt wurde, dass Kinder von ihren Eltern geküsst werden, wenn sie brav sind, rief aus dem Publikum eine Kinderstimme voller Entzücken „Ja!!!“ Und das ist der Vibe, den wir alle brauchen! Denn wie schon Astrid Lindgren sagte: „Gebt den Kindern Liebe, mehr Liebe und noch mehr Liebe, dann stellen sich die guten Manieren ganz von selbst ein.“
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