Frau Lichtensteiger, Sie haben vor fünf Jahren einen Museumsneubau eröffnet, seither viele Preise für das Konzept des neuen Stapferhaus’ bekommen. Ihr Haus gilt vielen Ausstellungsmacher:innen als Vorbild. Wie müssen sich Museen für die Zukunft aufstellen, um auch in 50 Jahren noch relevant zu sein?
Sibylle Lichtensteiger: Museen haben gegenüber anderen Kultursparten einen Mehrwert: Sie können Geschichten im Raum erzählen. Diesen Vorteil gilt es, clever zu nutzten. Gerade im digitalen Zeitalter glaube ich daran, dass der Raum als Erlebnis- und Begegnungsraum eine neue Bedeutung erhält.
Ganz grundsätzlich gefragt: Was sollte ein Museum im 21. Jahrhundert leisten?
Ich denke, das Museum des 21. Jahrhunderts leistet Orientierungshilfe in einer komplexen Welt – und zwar nicht, indem es erklärt, wie die Welt funktioniert, sondern indem es Zusammenhänge aufzeigt, Geschichten erzählt und sich auch traut, Fragen zu stellen und zur Diskussion anzuregen.
Müssen Ausstellungen in Zukunft anders konzipiert werden, um ein Publikum zu erreichen?
Eine Ausstellung ist dann gut, wenn sie auf allen Ebenen Perfektion anstrebt: von der inhaltlichen Stringenz bis zur spannenden Dramaturgie, von der eindrücklichen Inszenierung bis zum verständlich formulierten Text. Wichtig scheint mir auch, dass man sich von allen „Das-ist-bei-uns-immer-so“-Formulierungen löst. Die Ausstellung ist ein Format, das nebst der Inszenierung von Objekten alles kann, was andere Sparten und Künste können: Film und Ton, Theater und Musik, Gamedesign und 3D-Animationen, Innenarchitektur und Szenografie. Es gibt nichts, was nicht denkbar wäre.
Sibylle Lichtensteiger (53) leitet seit 2012 das Stapferhaus in Lenzburg, bereits 2002 übernahm sie die Co-Leitung des Ausstellungshauses. Sie verantwortet als Gesamtleiterin den Neubau, der dem Stapferhaus seit 2018 eine neue Heimat bietet. Neben den strategischen Entscheidungen ist sie auch für die Themensetzung und die Kuration verantwortlich. Vor ihrer Zeit im Museum hat Lichtensteiger als Journalistin bei Radio SRF gearbeitet. Während ihres Studiums der Geschichte und Germanistik in Zürich und Berlin unterrichtete sie an einer Grundschule in Aadorf. Lichtensteiger stammt ursprünglich aus dem Thurgau.
Sie sind mit Ihrem Stapferhaus sehr erfolgreich. 2020 wurden Ihr Haus zum besten europäischen Museum gekürt. Wie würden Sie das Konzept des Stapferhaus beschreiben?
Das Stapferhaus ist ein Raum, an dem man sich physisch begegnen kann, aber auch ein Ort an dem man Sachen ausprobieren und neue Denkweisen erleben kann. Wir wollen in unseren Ausstellungen verschiedene Positionen aufeinandertreffen lassen. Was die Besucher:innen dann damit machen, überlassen wir ihnen.
„Wir stellen Wertefragen unseres Zusammenlebens und wollen dabei aber in keine Polarisierung gehen.“
Sibylle Lichtensteiger, Museumsdirektorin
Blöde Frage vielleicht, aber: Ist das Stapferhaus überhaupt ein Museum?
Wir haben uns lange von Museumsbegriff abgegrenzt, aber inzwischen sehen wir, dass sich die Definition von Museen wandelt und mehr zu dem entwickelt, was auch wir tun: Geschichten im Raum zu erzählen. Insofern haben wir auch weniger Hemmungen, uns als Museum zu bezeichnen. Trotzdem sind wir nach wie vor kein klassisches Museum, weil wir beispielsweise keine eigene Sammlung im klassischen Sinn haben. Vielleicht trifft die Bezeichnung‚ „eine Bühne, die frei bespielbar ist“ eher zu dem, was wir hier tun.
Was macht das Stapferhaus anders als andere Museen?
Wir stellen Wertefragen unseres Zusammenlebens und wollen dabei aber in keine Polarisierung gehen. Uns geht es auch darum, dafür zu werben, in einer demokratischen Gesellschaft Unterschiede auszuhalten, und das im respektvollen Miteinander. Das Stapferhaus ist auch ein Ort des Empowerments. Unsere Besucher:innen sollen die Ausstellungen nicht frustriert verlassen, sondern das Gefühl haben, dass sie selbst etwas zur Lösung eines Problems beitragen können.
Wie schwer ist es da, die Balance zu halten: Zwischen einer Publikums-Orientierung einerseits und einer dadurch möglicherweise entstehenden Gefahr von inhaltlicher Beliebigkeit andererseits?
Im Stapferhaus begegnen wir dieser Herausforderung, indem wir bei jeder Ausstellung von neuem Ziele definieren und uns im Verlauf der Entwicklung der Ausstellung immer wieder an diesen orientieren. Jede Technik, die zum Einsatz kommt, jede Inszenierung und jegliche Unterhaltung muss im Dienste der Inhalte und deren Erzählung stehen.
„Unsere Besucher:innen sollen die Ausstellungen nicht frustriert verlassen, sondern das Gefühl haben, dass sie selbst etwas zur Lösung eines Problems beitragen können.“
Sibylle Lichtensteiger, Direktorin Stapferhaus Lenzburg
Wenn Sie eine neue Ausstellung vorbereiten, welche Frage stellen Sie sich da am Anfang?
Eine der wichtigsten Fragen für uns bei der Konzeptionierung neuer Ausstellungen lautet: Was können wir zum gesellschaftlichen Diskurs beitragen, das nicht schon in anderen Ausstellungen gesagt wurde?
Wie finden Sie die Themen für Ihre Ausstellungen?
Bei der Themenfindung unserer Ausstellungen sind wir sehr frei, das läuft je nach Thema verschieden ab. Wir überlegen gemeinsam, was relevant sein könnte, und am Ende entscheidet das Inhaltsteam über die Richtung. Allen Ausstellungen gemein ist, dass wir immer einen direkten Bezug zu den persönlichen Leben unserer Besucher:innen herstellen wollen. Die Menschen müssen das Gefühl bekommen, dass das Thema jetzt auch für sie relevant und wichtig ist – wenn es das nicht bereits ist.
Gibt es so etwas wie eine klare Haltung, mit der Sie an Themen gehen?
Ich glaube, was sich als Haltung durch alle unsere Ausstellungen zieht, ist der Gedanke, dass alles meistens komplizierter ist, als es auf den ersten Blick scheint, es sich aber trotzdem lohnt, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen.
Bestes europäisches Museum 2020. Die Jury des „European-Museum-of-the-Year-Awards“ lobt das Stapferhaus als „in allen Dimensionen exzellent und innovativ“. Der Hauptpreis 2020 gehe an „ein Museum, das schwierige Fragen stellt, große Ideen erforscht und eine Kultur der Debatte fördert. Durch seinen innovativen, kreativen und zukunftsorientierten Ansatz bietet es ein Modell für das Museum als Labor für die Lebenskunst – wie es alle Museen sein sollten“. (Quelle: https://www.europeanforum.museum/en/previous-editions/emya-twenty/stapferhaus/)
Die Besucher:innen mögen das Programm des Stapferhauses: Die letzte, abgeschlossene Ausstellung über „Geschlecht“ sahen zwischen November 2020 und Mai 2022 – also mitten in der Corona-Pandemie – mehr als 90.000 Besucher:innen. Aktuell zeigt das Ausstellungshaus noch bis Ende Oktober 2023 eine Schau zum Thema „Natur“. Eine Besprechung dieser Ausstellung gibt es hier.
Rund 24 Millionen Franken hat der Neubau (2018 eröffnet) direkt am Bahnhof Lenzburg gekostet, sieben Jahre lang wurde daran geplant (aufschlussreich: der Schlussbericht zum Neubauprojekt), im Schnitt beläuft sich der jährliche Aufwand auf rund drei Millionen Franken.
Eine Million davon stammt nach Angaben des Stapferhauses aus selbst erwirtschafteten Einnahmen durch Eintritte, Einnahmen im Bistro und Raumvermietung. Weitere Mittel stammen von der öffentlichen Hand. Laut Stapferhaus kommt über den Kanton Aargau so ein fixer Betriebsbeitrag von 450.000 Franken ins Haus. Es gibt zusätzlich auch eine Leistungsvereinbarung mit Pro Helvetia über 120.000 Franken pro Jahr.
Aber das allein reicht nicht: „Als Institution mit nationalem Anspruch ist das Stapferhaus, wenn es das attraktive Programm fortsetzen will, nebst öffentlichen Geldern und den selbst erwirtschafteten Einnahmen dringend auf die Unterstützung durch Stiftungen und private Partner:innen angewiesen“, heißt es auf der Website des Museums. Deshalb wirbt das Stapferhaus regelmäßig auf Projektbasis um weitere Unterstützer:innen. Wie wichtig das ist, unterstreicht eine andere Zahl: Laut Stapferhaus stammen rund 70 Prozent des 3-Millionen-Jahresbudgets aus Drittmitteln.
Welche Rolle spielen im Museum der Zukunft Partizipationsmodelle, wie sie gerade viele Museen ausprobieren?
Partizipation ist ein großes Wort, das unterschiedlich gedeutet und umgesetzt wird. Mir ist es wichtig, dass wir den Besucherinnen und Besuchern auf Augenhöhe begegnen, ihre Meinung und ihre Erlebnisse ernst nehmen und sie mit unseren Ausstellungen ansprechen. Ob die Partizipation – das aktive Teilnehmen – ein Geisteszustand, eine aktive Tätigkeit in der Ausstellung oder ein Mitprägen des Ausstellungskonzeptes ist, muss die Ausstellungsautorenschaft im Vorfeld klären.
„Man muss sich auch als Ausstellungsort ein gewisses Piratentum bewahren.“
Sibylle Lichtensteiger, Direktorin Stapferhaus Lenzburg
Wenn Sie jetzt nochmal ein neues Museum planen müssten, worauf würden Sie besonders achten?
Bei der Planung eines neuen Museums muss man sehr genau wissen, was man will. Und man muss das Glück haben, für das Gebäude Architekten und für die Ausstellungen ein Szenografie-Büro zu finden, die diese Idee genau umsetzen können.
Wenn der Start glückt – wie bleibt man als Museum erfolgreich?
Man muss sich auch als Ausstellungsort ein gewisses Piratentum bewahren. Das heißt zum Beispiel, über die klassischen Vorstellungen von Ausstellungen hinauszudenken. Und nicht in Grenzen, sondern in Möglichkeiten zu denken.
Dieses Interview ist die gekürzte Version eines Interviews, das zuerst bei thurgaukultur.ch erschienen ist.
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