Zum Einstieg ein paar Zahlen: Zur Jahresmitte 2023 lebten weltweit geschätzt 4,6 der insgesamt etwas mehr als 8 Milliarden Menschen in Städten. Das entsprach 57 Prozent der Weltbevölkerung, meldet das Statistische Bundesamt. 2050, so prognostizieren die Vereinten Nationen, leben fast 70 Prozent der Weltbevölkerung im urbanisierten Lebensraum.
In Deutschland leben bereits jetzt mehr als 77 Prozent der Bevölkerung in Städten. Städte sind seit jeher Treiber von neuen gesellschaftlichen Entwicklungen. In ihnen pulsiert das Leben, sie sind Knotenpunkt für unzählige Begegnungen, Ausgangspunkt für zahlreiche Romane, Filme, Kunstwerke und Sehnsuchtsort für alle, die von einem aufregenden Leben träumen.
2021 gab es den Landeslehrpreis für das Konzept
Insofern ist es keine schlechte Idee, wenn sich eine Ausstellung mit der Frage befasst, wie denn so eine ideale Stadt heute und in Zukunft aussehen könnte. Genau das macht „Youtopia“, die fünfte Ausstellung, die die Universität Konstanz, die HTWG Konstanz und die Hochschule für Musik Trossingen in Kooperation mit dem städtischen Kulturamt gemeinsam im Konstanzer Turm zur Katz erstellt haben. Das Konzept ist also bewährt und zudem hochdekoriert: 2021 erhielten die Initiator:innen den Landeslehrpreis des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK). Denn das Ganze ist nach wie vor ein Studierendenprojekt.
Auch das macht es logistisch fast zu einem Irrsinnsprojekt: Insgesamt 90 Studierende und sieben Professor:innen aus den Fachbereichen Architektur, Kommunikationsdesign, Geschichte, Informatik, und Musikdesign haben zusammengearbeitet, um ein innovatives und interaktives Ausstellungskonzept auf die Beine zu stellen.
Das griechische Wort Utopie bedeutet „nirgendwo“ oder „ohne Ort“ oder „guter Ort“. Wir gebrauchen Utopie in unserer Sprache als Bezeichnung für etwas, das zwar denkbar ist, aber nicht oder vielleicht auch noch nicht wahr werden kann. Als erste Utopie gilt der Roman „Utopia“ von Thomas Morus aus dem Jahr 1516: Utopia ist eine Insel, auf der alle Einwohner ein glückliches Leben führen.
Der Name für das literarische Genre der Dystopie kommt aus dem Griechischen: Dys heißt schlecht, Tópos ist der Ort, die Stelle*. Dystopien beschreiben eine ungünstige Entwicklung unserer Gesellschaft. Eine Dystopie ist also das Gegenteil der Utopie, die auf eine gute, schöne und friedfertige Zukunft verweist.
Den Landeslehrpreis gab es 2021 für eine Ausstellung zu unserem Umgang mit der Pandemie, in der aktuellen Ausgabe geht es raus aus dem Ausnahmezustand rein ins Stadtleben. Aus den Perspektiven von Gesellschaft, Politik und Wissenschaft blickt die Schau auf „Stadtutopien“.
Los geht es im Erdgeschoss auf Sitzwürfeln. Über drei Leinwände flimmern nacheinander fünf verschiedene historische Stadtutopien aus unterschiedlichen Epochen: Von der „Cité industrielle“ von Tony Garnier vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur Gründung von „Songdo“ in Südkorea 2001, die maßgeblich von dem IT-Konzern Cisco vorangetrieben wurde. In kurzen, wie Werbespots inszenierten Filmen werden die unterschiedlichen Ideen vorgestellt.
Die Besucher:innen können aktive Rolle übernehmen
Darauf aufbauend folgen in den weiteren drei Stockwerken die Themen „Geometrie und Stadtplanung“, „Menschen in Stadtutopien“ und schließlich ein Raum, der alle Aspekte im eigenen Stadtentwurf bündelt. Denn das ist stets der Clou dieser Ausstellungen – die Besucher:innen können eine aktive Rolle übernehmen. So ist es auch dieses Mal.
Beim Eintritt bekommt man einen Baustein mit einem aufgedruckten QR-Code, den man an verschiedenen Stationen der Ausstellung einsetzen kann. Immer dann, wenn man sich selbst zum Gezeigten positionieren kann. Welche der eingangs gezeigten Stadtutopien liegt den eigenen Vorstellungen am nächsten? In welcher geometrischen Form soll die eigene Stadt entstehen? Soll es kurze Wege zwischen Wohnung und Arbeitsplatz geben oder sollen Industrie und Arbeitsplätze an die Ränder der Stadt gedrängt werden? Wie soll politische und gesellschaftliche Teilhabe dort organisiert sein? Stück für Stück entsteht so der Bauplan für die eigene Zukunftsstadt.
Der Aufbau der Ausstellung ist ziemlich klug: Von allgemeinen Stadtutopien ausgehend rückt der Mensch Stockwerk um Stockwerk stärker in den Fokus. Wenn man so will, rücken einem die Inhalte immer näher, die Ausstellung fordert eine aktive Auseinandersetzung ein. Bis man irgendwann vor einer aufklappbaren Tafel mit der Aufschrift “Wer plant meine Stadt?” steht. Dahinter verbirgt sich ein Spiegel.
In diesen Momenten ist die Ausstellung am stärksten. Ihr gelingt es sehr gut zu zeigen: Stadtplanung ist nichts Abstraktes, das betrifft uns alle. Das spürt man vor allem im letzten Raum der Ausstellung.
Nicht alles, was man selbst erdacht hat, sieht schön aus
Denn dort wird einem die Konsequenz der eigenen Positionen vor Augen geführt. In einem wie eine Kommandozentrale gestalteten Raum mit riesigem Bildschirm wächst auf Tablets aber nicht nur der eigene Stadtplan. Man kann hier zusätzlich die eigenen Entwürfe mit den Ideen früherer Besucher:innen vergleichen. Mittels VR-Brille bekommt man als Krönung auch noch direkte Einblicke in das, was man in den vergangenen Stockwerken aufgebaut hat.
Lebendige Städte darf man da zwar nicht erwarten, die Grafiken gleichen eher menschenleeren Visualisierungen, wie sie Architekten zur Veranschaulichung von Projekten nutzen. Mein Stadtentwurf hat mich beispielsweise eher verstört, weil vor lauter Beton kaum Grün zu sehen war. Von Utopie zu Dystopie ist es eben manchmal nur ein kleiner Schritt.
Wie die Ausstellung den Perspektivwechsel erlebbar macht
Die Gründe dafür liegen in den eingeschränkten Möglichkeiten des Systems: Die eher eindimensionalen Antwortmöglichkeiten bei den Fragen zur eigenen Positionierung lassen Stadtgestaltung nur in groben Rastern zu. Trotzdem gelingt dieser Form der Vermittlung etwas ganz Grundsätzliches – jede:r spürt, wie kompliziert Stadtentwicklung ist. Und dass jede Handlung, jede Positionierung Einfluss auf das gesamte Gefüge hat.
Allein dafür hätten die Initiator:innen einen Preis verdient, weil das Instrument dabei helfen kann, gesellschaftliche Debatten zu versachlichen: Wer einmal erlebt hat, wie stadtplanerische Eingriffe ein Quartier verändern können, wird nicht mehr leichtfertig über Stadtentwicklung sprechen können.
In diesem erlebbaren Perspektivwechsel erkennt man auch die Nähe zu den Ausstellungen im Stapferhaus Lenzburg. Dem 2021 zum besten europäischen Museum gekürten Haus in der Nähe von Zürich gelingt es immer wieder, gesellschaftliche Diskurse aufzugreifen und neue Horizonte zu eröffnen. („Wir sind auch ein Ort des Empowerments!“: Zum Interview mit Stapferhaus-Direktorin Sibylls Lichtensteiger)
Mediale Ausstellungsgestaltung heißt das Studienangebot, in dem die Ausstellungen im Turm zur Katz realisiert werden. Die Veranstaltung ist Teil einer deutschlandweit einmaligen Kooperation verschiedener Hochschulen und Fachrichtungen: Architektur und Kommunikationsdesign (HTWG Konstanz), Informatik und Geschichte (Universität Konstanz) sowie Musikdesign (Staatliche Hochschule für Musik Trossingen). In dem viersemestrigen Studienangebot lernen Studierende die Grundlagen moderner Ausstellungsgestaltung und entwerfen daraufhin in interdisziplinären Teams neuartige Ausstellungskonzepte, welche in eigenen Ausstellungen umgesetzt werden.
Vor der aktuellen Ausstellung über Stadtutopien wurden bereits vier andere Ausstellungen realisiert: „Tell Genderes – 20 Meter Menschheitsgeschichte“ (2015/2016), „Rebuild Palmyra? Zukunft eines umkämpften Welterbes“ (2017), „LINK – Zur Künstlichen Intelligenz“ (2019), „Stayin‘ Alive! Mit Seuchen leben“ (2021).
Die Tücken der Technik
Das Problem der Ausstellung in Konstanz: So großartig die digitale Wissensvermittlung in der Ausstellung ist, so fehleranfällig ist das System allerdings auch. In der ersten Woche nach der Eröffnung funktionierte die Technik nach einem Systemabsturz nicht, Besucher:innen mussten auf die digitale Vermittlung verzichten.
Inzwischen haben die Informatiker:innen im Team die Probleme weitgehend in den Griff bekommen, dennoch werden daran auch die Grenzen dieser Vermittlungsform sichtbar. Die Methode scheint ausgereizt, die technischen Möglichkeiten eines Lehrprojektes sind bis ans Limit ausgeschöpft.
Nicht alles ist überzeugend gelöst
Manchmal merkt man das auch an den Inhalten der Ausstellung. Während in den Vermittlungsformen und im Ausstellungsdesign ein Feuerwerk nach dem anderen gezündet wird, kratzen die Inhalte bisweilen nur an der Oberfläche. Allein die Themen erneuerbare Energien, alternative Mobilitätskonzepte und ökologisches Bauen in Zukunftsstädten böten noch viel tiefergehende Ansätze in der Auseinandersetzung.
Oder anderer Fall: So klug es ist, die Ausstellung vom abstrakten Thema ausgehend hin zu persönlichen Eindrücken zu erzählen, so fragwürdig ist es, wenn all diese dargestellten Biografien entweder komplett fiktiv oder maximal auf der Basis von Medienberichten zusammen recherchiert sind. Kann man schon machen, sollte man dann aber auch entsprechend kennzeichnen.
Trotz einiger Schwächen immer noch herausragend
In früheren Ausstellungen aus der Reihe gab es solche inhaltlichen Schwächen nicht. Vielleicht auch das ein Zeichen dafür, dass das Konzept für eine (hoffentlich) sechste Ausstellung überarbeitet werden sollte.
Denn zur Wahrheit gehört ja auch – trotz der beschriebenen Mängel ist das, was man bis zum 22. Oktober im Turm zur Katz sehen kann, immer noch herausragend, im Vergleich zu allem, was man sonst in der Region museal sehen kann. An keinem anderen Ort in der Stadt werden drängende Fragen unserer Zeit so inspirierend behandelt wie hier.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag von 10 Uhr bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag von 10 Uhr bis 17 Uhr; Eintritt: 3 Euro. Aktuelle Informationen: https://youtopia-konstanz.de bzw. www.turmzurkatz.de
Wie baut man eine Stadt?
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