Das Spiel um Grenzen, das keines ist

Am Samstag haben sich Konstanzer:innen nach Lützerath aufgemacht, um vor Ort ihre Solidarität mit dem rheinischen Braunkohledorf zu zeigen. Unser Autor war mittendrin – am Rande der Braunkohlegrube, in den Auseinandersetzungen mit der Polizei. Seine Eindrücke des Tages hat er für uns festgehalten.
karla vereint vieles von dem, was Moritz begeistert: das Lokale, das…

Für das karla Magazin habe ich an diesem Wochenende die Stadtgrenzen verlassen. Ich durfte die Menschen der Klimabewegung rund um Fridays for Future Konstanz, Amnesty International Konstanz, Parents for Future Singen-Radolfzell und einige weitere Einzelpersonen auf ihrem Weg zur Großdemonstration bei Lützerath begleiten. Dabei hat mich „Das Spiel um Grenzen, das keines ist“ − wie ich es nennen möchte − in den Bann gezogen. So habe ich meine eigenen Eindrücke an der Konfrontationslinie zwischen exekutiver Staatsgewalt und aktivistischem Widerstand gewinnen dürfen, von denen ich im Folgenden berichten möchte.


Wie soll ich all das, was über Lützerath berichtet wurde, all die Perspektiven, Kommentare und Erzählungen in das einbetten, was ich am Samstag vor Ort erlebt habe?

Dieser Beitrag ist ein Versuch, genau das zu tun. Ein Versuch, das, was ich erfahren, gesehen und gespürt habe, in den Kontext der übergeordneten Aspekte und Bedeutungen der Proteste in Lützerath einzuordnen.


Die Anfahrt

4:30 Uhr

Seit einer halben Stunde sind wir von Konstanz aus unterwegs. Nachdem die restlichen Mitfahrer:innen in Singen dazu steigen, sind wir komplett. Insgesamt 47 Menschen haben sich für diesen beinahe 24 Stunden langen Trip entschieden, um die Proteste in Lützerath zu unterstützen. Zwei davon bleiben vor Ort und übernachten in einem Camp. 67 weitere Menschen standen auf der Warteliste.

Im Bus wird über die Besetzung in Lützerath und die Berichterstattung gesprochen. Wir erinnern an gelungene Geschichten des Protests. Im bayerischen Wackersdorf zum Beispiel kam es in einem Zeitraum von vier Jahren (1985–1989) zu sehr starken Ausschreitungen zwischen Polizei und Protestierenden. „Dass Wackersdorf geblieben ist, haben wir damals nur geschafft, weil wir so viele waren“ erzählt Anita, die mit im Bus sitzt und damals selbst lange Zeit jedes Wochenende nach Wackersdorf gefahren ist.  

10:30 Uhr

Langsam kommen wir dem Kohlerevier näher. Windkraftanlagen, Kohlekraftwerke und dann auch die riesige Kohlegruben Garzweiler I und II sind durch die Scheiben zu sehen. Eine gigantische Wunde in der Erdoberfläche. Neben mir zoomt Mark auf der Karte raus: eine Wunde, die sogar aus dem All zu sehen ist. Es ist keine Überraschung, dass das Rheinische Braunkohlerevier die größte CO2-Quelle Europas ist, wenn dieser enorme Aushub in die Luft verbrannt wurde – und weiterhin wird.

Ein Blick in das riesige Loch der Kohlegrube. Foto: Moritz Schneider

All das für die Energie, die wir für unsere Lebensqualität im Wohlstand brauchen, denke ich mir. Auf der Seite der Befürworter:innen der Räumung Lützeraths wird die unter dem Ort vorhandene Braunkohle als Notwendigkeit für die Versorgungssicherheit Deutschlands bezeichnet. Verschiedene Rechnungen und Szenarien unterfüttern sowohl die Pro- als auch die Kontra-Argumentationen in Hinblick auf diese Behauptung.

“Wenn wir weniger Krise haben wollen, müssen wir mit der Zerstörung aufhören.”

Klimaschutz-Aktivistin Luisa Neubauer

Der Protest gegen die Räumung Lützeraths kommuniziert dabei eine klare Haltung: Jede weitere Tonne verbrannter Braunkohle bringt uns den Kipppunkten näher und entfernt uns immer weiter von den selbstgesetzten Klimaschutzzielen des Pariser Klimaschutzabkommens. „Wenn wir weniger Krise in der Welt haben wollen, dann müssen wir mit der Zerstörung irgendwann vollständig aufhören, dann muss man Linien ziehen, dann muss man Grenzen ziehen und man muss sie vor allem einhalten“, wie Luisa Neubauer in einem Video auf Instagram am Abend nach der Demo sagen wird.

Grenzen, das wird mir im Laufe des Tages noch bewusst werden, um diese geht es – und das in vielfacher Form.

11:30 Uhr

„Ein Bus nach dem anderen, das ist ja Wahnsinn“, klingt es vor mir mit Blick auf den Stau kurz vor Ankunft. Langsam wird es ernst. Die Organisator:innen von Fridays for Future geben noch wichtige Informationen durch. Denn: so eine Demonstration verlangt Vorsicht und gute Vorbereitung.

Damit keine Person auf sich allein gestellt ist, werden innerhalb der Gruppe sogenannte „Buddies“ – also Bezugspersonen – zusammengeführt. Im besten Fall bleiben die Buddies zusammen und kümmern sich umeinander.

Aber auch rechtliche Fragen werden geklärt. Um im juristischen Dschungel nicht alleine zu sein, gibt es sogenannte EA-Nummern (EA: Ermittlungsausschuss). Diese können Aktivist:innen während einer Demonstration kontaktieren, wenn Personen in Gewahrsam genommen oder unrechtmäßige Übergriffe durch die Polizei beobachtet werden. Im nächsten Schritt steht der EA beratend und unterstützend zur Seite.

Allgemein herrscht untereinander eine große Fürsorge: In Gruppenchats werden Kontakte zu Awareness-Personen versandt. Mark fährt zum dritten Mal nach Lützerath und erzählt mir von der Selbstorganisation und Arbeit zur gegenseitigen Unterstützung der Aktivist:innen. Neben klassischen Gemeinschaftsarbeiten wie Klo- und Küchendienst gibt es auch so etwas wie den GeSa-Support. „GeSa“ ist das Kürzel für die Gefangenen-Sammelstelle der Polizei. Dort werden abtransportierte Aktivist:innen hingebracht und festgehalten. Der GeSa-Support kümmert sich um warmen Tee, Kekse und eine Umarmung beim Empfang der wieder freigelassenen Aktivist:innen.

Awareness bedeutet übersetzt „Bewusstsein“ oder „Achtsamkeit“. Der Begriff hat sich in den letzten Jahren zu einem Konzept für bewussten und achtsamen Umgang im sozialen Miteinander entwickelt. Dabei geht es vor allem um das Wohlbefinden jeder einzelnen Person und das Wahren von persönlichen sowie kollektiven Grenzen.

Der Zusammenhalt und die Fürsorge unter den Aktivist:innen ist groß. Foto: Andreas Blauth

Das Netzwerk der Aktivist:innen zeichnet sich auch durch „Skillsharing“ aus. Was die Einen gut können, kann Anderen gezeigt werden. Die Hingabe für das Engagement in der Klimabewegung der Menschen, die in den letzten zweieinhalb Jahren die Besetzung von Lützerath organisiert haben, ist beeindruckend. Die Video-Dokumentation des Journalisten Andreas Blauth gibt hierzu einen detaillierteren Einblick. Auch er war am Samstag in Lützerath und Bilder von ihm begleiten diesen Artikel.

Um kurz nach Zwölf sind wir da. Jetzt können sich die Menschen, die zum ersten Mal hier sind, vor Ort einen eigenen Eindruck verschaffen.


Der Fluss des Geschehens vor Ort

Wir steigen aus und reihen uns in den Strom der Menschen ein. Musik. Sprechchöre. Verkleidungen. Wir laufen Richtung Süden, in Richtung Lützerath. Auf unserer linken Seite, im Osten, die tiefe Grube, der wir Stück für Stück näher kommen.

Mark und ich sind Buddies und ich frage ihn, wie wichtig es ihm ist, eng zusammen zu bleiben. „Wenn wir in Aktion treten würden, wäre es mir sehr wichtig; im Zug der großen Demo ist es mir nicht so wichtig“, antwortet er mir. Ich fühle mich frei hier draußen, möchte ausprobieren, schieße Fotos, beobachte Menschen und Landschaft. Der Sog der Bewegung hat mich erwischt – ich bin mittendrin.

Ich spreche mit einer Polizistin und frage sie, ob sie hinter ihrer Rolle auch eine persönliche Perspektive zum Thema hat. „Klar“, sagt sie, „aber zuerst die Rolle, die berufliche Verpflichtung und dann meine persönliche Einstellung“. Ob unter den Polizist:innen auch ein Gemeinschaftsgefühl, eine Art Community entsteht, frage ich weiter. Immerhin sind aus 14 Bundesländern über 1000 Polizist:innen über eine unbestimmte Anzahl an Tagen zusammen im Einsatz. Auch diese Frage bejaht sie.

Es fühlt sich an wie ein Spiel, ist aber keins

Mit festem Schuhwerk, wasserfester Kleidung und Proviant stapfe ich im Matsch voran. Immer wieder Reihen von Polizist:innen, die mit einer deutlich professionelleren Ausrüstung Wege versperren und damit Grenzen setzen. Ich kann nicht anders und muss an Live-Action-Role-Playing (LARP) denken. Rollenspiele, bei welchen Menschen sich in ihrer Freizeit verkleiden, eine Spielfigur darstellen und in Interaktion miteinander treten. Nur, dass das hier kein Spiel ist! Dort wo die Grenzen verlaufen, erhöht das die Spannung enorm – sie ist deutlich zu spüren.

An der Konfrontationslinie vibriert die Luft vor Spannung. Foto: Andreas Blauth

Aber stecken wir hier gerade nicht auch einfach in Rollen, die wir uns im spezifischen Verlauf unseres Lebens angeeignet haben? Und weil wir Menschen so oft einfach gut sein wollen, in dem, was wir machen, versuchen wir, diese Rolle eben möglichst gut auszuüben. Dahinter verbirgt sich eine entscheidende Frage: Was heißt es eigentlich, in dieser Welt eine gute Polizistin, ein guter Polizist zu sein? Und was heißt es, eine gute Aktivistin, ein guter Aktivist zu sein?

An diesem Tag geht es neben der Unterstützung der Klimabewegung und dem Zeichensetzen im Sinne eines Protests gegen die Ausbeutung der Erde für Konzernprofite auch ganz konkret um den Zugang zum physischen Raum.

Lützerath ist das Ziel

„Wir sind heute nicht zum Spaß hier, wir sind hier, um die Aktivist:innen in Lützerath zu unterstützen, damit die Besetzung weitergehen kann und die Braunkohle unter Lützerath da bleibt, wo sie ist“, schallt es aus einem Megafon. „Keep it in the ground, just keep it in the ground – clap, clap.“ Und: „Auf nach Lützerath, auf nach Lützerath – clap, clap.“

Die Demonstrierenden spüren, dass heute mit der Kraft der Masse mehr möglich ist, als die Polizei geplant hat. Mir wird das bewusst, als wir zu hunderten, tausenden an der Kante stehen und auf den Kohlebagger direkt vor Lützerath blicken. Unten in der Grube ist Sicherheitspersonal von RWE in gelben Westen aufgereiht. Ich blicke hinunter und denke mir, dass – zumindest in Ruhe und ohne Hektik – die abgegrabenen Stufen ohne Probleme hinabgestiegen werden könnte. Was würde passieren, wenn sich Demonstrierende für diesen Weg entschieden? Meistens, wenn eine Grenze eingerissen wird, fließt es alsdann fortlaufend, angetrieben von dem zuvor aufgestauten Druck. Nicht weit von uns geht ein Demonstrant tatsächlich einige Meter in den Hang hinein, er tut sich schwer wieder hochzukommen und es kommen ein paar Menschen hinterher, um ihm zu helfen. Aber es entsteht kein Menschenfluss, der sich auf den Weg nach unten in die Grube macht.

Wir stellen uns der klimaschädlichen Energiegewinnung in den Weg.

Stattdessen ist der Anblick der Szenerie eines der eindrücklichsten Bilder des Tages für mich. Ein Lied einer Trompete schallt in das Loch, den RWE-Mitarbeitenden entgegen, die unten in der Grube vor dem Bagger stehen. Der Klang verbreitet sich auch entlang der Kante, an welcher sich in alle Richtungen Protestierende an die Grenze stellen. Dieses Bild geht tief und ich bin emotional berührt. Hier sind die vielfachen Motive und Beweggründe an diesem Tag, gegen die Räumung Lützeraths zu protestieren, vereint: Wir stellen uns der klimaschädlichen Energiegewinnung in den Weg, stellen uns an die Kante und wollen dem Kohlebaggern eine Grenze setzen.

Menschen stellen sich an die Grenze der Kohlegrube und zeigen Kante. Foto: Moritz Schneider

So vereint dieses Bild ist, so unterschiedlich ist der weitere Verlauf des Tages für die Protestierenden. Während einige – darunter auch wir, Jessi, Immanuel Irmtraud, Mark und ich, – sich vom Strom der Chöre und Massen in Richtung Lützerath ziehen lassen, sind andere auf dem Weg zur Bühne und den Kundgebungen – wo unter anderem auch Greta Thunberg auftreten wird, von der wir aber nichts mitbekommen. Insgesamt verläuft die Demonstration eher unstrukturiert und einige erleben es als chaotisch. Ich glaube, dass das vor allem daran liegt, dass Lützerath immer noch besetzt ist und es einigen, wie oben erwähnt, um die ganz konkrete Unterstützung dieser Besetzung geht. Das heißt, es geht darum, nach Lützerath zu kommen und den Weg zu bahnen für eine Weiterführung der Besetzung. Andere solidarisieren sich mit der Besetzung, wollen ein Zeichen setzen, wollen ihrer Hilflosigkeit einen Ausdruck verleihen: „Wie können wir denn nun endlich eine Wende einleiten, endlich mit der Ausbeutung der Natur aufhören und als Menschheit regenerativ auf die von uns verursachte Zerstörung des Lebendigen wirken“, fragt sich eine Gruppe von Aktivist:innen vor Ort.

Falls das wie eine Spaltung zwischen konfrontationsbereiten Aktivist:innen und der organisierten Großdemonstration klingt, dann habe ich mich schlecht ausgedrückt. Das ist nicht die Grenze, die sich an diesem Tag aufgetan hat. Zwischen Demo und Aktion verschwimmen die Grenzen und viele, die der Kundgebung zuhören, begeben sich nach vorne und unterstützten die Aktivist:innen.

Mittendrin im Geschehen

Inzwischen ist es 14 Uhr und auf dem Weg Richtung Lützerath verliere ich Mark und die Anderen. Etwas unbedacht haben wir uns auf diesen Fall nicht vorbereitet. Wir versuchen uns telefonisch zu verständigen und wiederzufinden, aber es gelingt uns nicht. Das Feld ist einfach zu unübersichtlich, trotz strahlender orangener Jacke und Mobilfunkaustausch.

Vorne wird eine Polizeikette durchbrochen, Jubel breitet sich aus, Feuerwerk am Himmel und Menschen strömen Richtung Lützerath.

Ist die Linie durchbrochen? Gelingt es dem Protest, nach Lützerath vorzudringen? Es ist auch diese Frage, die einige Menschen motiviert, weiter nach vorne zu gehen. Vielleicht sind wir heute Teil von etwas Historischem? Ein Mann steht auf einem Stromkasten und blickt nach vorne: „Die erste Kette ist durchbrochen, dahinter die Zäune und dann noch die Wasserwerfer, dann sind wir da!“

Lützerath ist das Ziel vieler. Der besetzte „Gigapod“ ist von Weitem zu sehen. Foto: Moritz Schneider

Mark und ich einigen uns am Telefon darauf, erst einmal jeweils Richtung Lützerath zu gehen und uns später noch einmal zu suchen.

Ich gehe weiter nach vorne. Ab jetzt befinde ich mich auf dem Gelände, das zum Areal der Allgemeinverfügung von RWE zur Räumung von Lützerath gehört. Es ist spannend zu beobachten, wie mit jedem weiteren Meter hin zur Konfrontationslinie zwischen Aktivist:innen und Polizei die Vermummung der Personen zunimmt. Ganz vorne werden Ketten gebildet. Hinter der Polizeilinie sind Fotojournalist:innen ganz nah am Geschehen, aber auch inmitten der Aktivist:innen befindet sich die Presse. Eine Gruppe, die eine Sonderrolle einnimmt und durch diese Sonderrolle auch zum verbindenden Element zwischen den Fronten wird. Aber auch Journalist:innen wurden angegangen und die Pressefreiheit immer wieder verletzt. Von hinten fliegt immer wieder Schlamm durch die Luft in Richtung Polizei. Von vorne mehren sich die Rufe: „Hört auf zu werfen!“ Es wirkt, als wüssten die Aktivist:innen an vorderster Stelle, dass diese „Schlammschneebälle“ medial als Steinwürfe gedeutet werden.

„Hört auf zu werfen!“ Ein Audio-Eindruck von ganz vorne.

Es ist auch das, was die beiden Seiten voneinander unterscheidet. Auf der einen Seite steht die exekutive Staatsgewalt mit hierarchischen Entscheidungsstrukturen, mit klar ausformulierten Regeln. Auf der anderen Seite steht der aktive Klimaprotest mit verschiedenen selbstorganisierten Gruppen und natürlich gibt es auch hier Regeln – eine darf ich etwas später lernen in Hinblick auf das Fotografieren – aber diese werden im Kollektiv ausgehandelt und sind flexibel.

Matsch, Stillstand, Musik und Pfefferspray

Nach der Euphorie des Durchbruchs der ersten Linie der Polizei herrscht Stillstand. Die Polizei hat sich wieder formiert. Der Protest ist deutlich näher an Lützerath, aber Polizeiketten, Doppelzaun und Wasserwerfer machen einen mächtigen Eindruck. Parallel lässt der stete Regen und das kontinuierliche Treten auf den durchnässten Feldern an mancher Stelle den Boden treibsandähnlich werden. Manche stecken plötzlich so tief im Schlamm, dass ihre Schuhe beim Versuch sie rauszuziehen von der Erde verschluckt werden. Auch den Polizist:innen macht der Untergrund zu schaffen, die immer wieder stecken bleiben und auch umkippen.

„Ich verstehʼ auch nicht, warum die da hinten nur rumstehen?“

Ein unbekannter Klimaschutz-Aktivist in Lützerath

Auf dem Weg zu einer Konfrontationslinie weiter rechts schnappe ich von einem Aktivisten einen Satz auf: „Ich verstehʼ auch nicht, warum die da hinten nur rumstehen?“ Gemeint sind die vielen Menschen, die weiter hinten in Richtung Kundgebung zu sehen sind. Tatsächlich ist der Protest über ein großes Areal, vergleichbar mit etwa 100 Fußballfeldern, verstreut und oft ist unklar, wohin und was tun. Die, die da hinten „rumstehen“, sind all die Menschen, die für die Demonstration gekommen sind und nicht aktiv bis ins Dorf durchdringen wollen. Der Frust angesichts der Übermacht der Polizei verhindert das Verständnis für diese Perspektive wohl.

Dann, plötzlich, musikalische Unterstützung. Es ist 15:10 Uhr und von hinten kommt eine Trommelgruppe in Pink nach vorne. Sie positioniert sich nicht weit der Konfrontationslinie und spielt und spielt und spielt. Immer wieder frage ich mich, was außer Gewalt die rigide Erfüllung der Dienstvorschriften der Polizei durchbrechen könnte. Na klar, Musik, aber wie?

Neben der Trommelgruppe kommt mir das Bild einer schick gekleideten Philharmonie, die musizierend auf die Polizeiketten zuläuft und einfach nicht stoppt. Sesam, öffne dich! Vermutlich würde auch das nicht funktionieren, aber ich möchte kreativ denken. Ich möchte in großen Bildern und langfristig denken. Was bringt uns denn wirklich einen Wandel?

Immer wieder stürmt die Polizei in die Massen der Protestierenden. Foto: Andreas Blauth

Das ist nicht gut, denke ich mir beim Anblick der Geschwindigkeit des Geschehens und der vielen Verletzten.

Dann absorbiert mich wieder die Spannung am Erdwall 20 Meter weiter. Ich gehe nach vorne. Hinter dem Erdwall erstreckt sich ein offenes Feld. Von einer anderen Seite wird dieses unter Jubelrufen gestürmt. Die direkten Auswirkungen auf die Menschen ein paar Meter vor mir, direkt vor den Polizist:innen auf dem Erdwall, ist faszinierend. Mut wird geschöpft und eine erste Person durchbricht die Polizeikette. Es folgen weitere. Pfefferspray erwischt die Vordersten am heftigsten. Ich drehe mich schnell um und komme glimpflich davon. So fühlt sich Pfefferspray also an. Atemwege und Augen brennen. Fotografieren und beobachten wird nichtig. Hier wird erlebt und ertragen. Ich packe meine Wasserflasche aus und helfe Einem der Vielen, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Augen halten. „Meine Nase ist gebrochen, ich brauchʼ Wasser für die Augen.“ Zwei weitere helfen beim Helfen. Ich erkläre mich bereit, mich um die Person zu kümmern, damit die anderen beiden weiterkönnen. Es wird hektisch. Er sagt, er habe Atemnot. Ich frage ihn, ob er klarkommt. Er sagt, er müsse hier raus. Neben uns rennt die Polizei wieder in Richtung des eben durchbrochenen Walls. Das ist nicht gut, denke ich mir beim Anblick der Geschwindigkeit des Geschehens und der vielen Verletzten, die teilweise noch auf dem Boden liegen. Ich bediene mich der Kommunikation, die ich schon ein paar Mal gehört habe und rufe laut „Sani“ (Sanitäter:in). Sofort erklingt das Echo um mich herum: „Sani“. Es ist keine Sani in Sicht. Wir gehen auf eine kleine Gruppe zu, bei welcher ein Aktivist mit einer mit Wasser gefüllten Kontaktlinsenflasche gezielt die Augen der Geschädigten auswäscht. Es kommt nochmal die Frage: „Brauchst du einen Sani?“ Stück für Stück klingt die Atemnot ab. „Nein, es geht, die werden woanders dringender gebraucht“ lautet die Antwort.

Machtdemon­s­­tration

Danach ziehe ich mich aus dem Geschehen der Auseinandersetzungen an vorderster Linie zurück und gehe rund um das umzäunte Areal entlang der Hundertschaften. An einer Stelle mache ich Halt, ich habe einen guten Blick auf die Konfrontationslinie, um ein paar Fotos zu machen. Ich stehe alleine da und gerade so nah genug an den Polizist:innen entlang des Zauns, dass ich folgende Szene miterleben darf. Ein Polizist begrüßt zwei, drei Kolleg:innen mit der Faust und fragt: „Na, kommt ihr auf den Geschmack?“ Die Antwort ist leider zu leise, aber der Machtprotz ist weiterhin laut genug: „Da vorne ist etwas mehr Action, da ist mehr Druck.“ Im Angesicht all der Verletzung und all der Gewalt ist diese Aussage eklig. Aber klar, manche Polizist:innen haben auch richtig Lust auf die Ausübung von Zwang. Endlich mal draufhauen können. Es ist kein Geheimnis, dass es sogenannte „Demo-Cops“ gibt, die bei Demonstrationen genau das tun, was manch andere Polizist:innen vielleicht nicht gerne tun: zuschlagen.

„Na, kommt ihr auf den Geschmack?“

Ein Polizist zu seinen Kolleg:innen in Lützerath

Die Euphorie nach dem Durchbruch der vordersten Polizeikette ist längst abgeebbt. Wut und Frustration macht sich unter den Demonstrierenden breit: „Ihr solltet eigentlich uns schützen – und nicht die Konzerne“, ruft jemand hinauf auf den Erdwall voller Polizist:innen vor den Zäunen und Wasserwerfern. Es folgen Ausführungen, Beschreibungen und Erklärungen der Ungerechtigkeit der Geschehnisse. Und immer wieder die Chöre: „Es gibt – ein Recht – auf Dienstverweigerung!“

Direkt vor dem Bauzaun von RWE gibt es kein Durchkommen. Foto: Moritz Schneider

Langsam wird es dunkel, noch einmal kommt ein Strom Aktivist:innen auf die andere Seite des Zauns, doch zeitgleich rücken Hundertschaften der Polizei von verschiedenen Seiten an. Die Übermacht ist zu groß. Zwei größere Polizei-Gruppen rennen in die Massen der Protestierenden, mitunter mit irritierendem Schlachtgebrüll. Ich stehe in einer Ecke zweier Erdwälle direkt vor den Polizeiketten. Ich suche Blickkontakt mit einem Polizisten, suche die Verbindung im Menschlichen. Ein kurzer Kontakt, rasch blickt er wieder weg. Daraufhin wird links und rechts an mir vorbeigeschaut. Es ist fast halb sechs und ich weiß, dass ich mich jetzt losreißen muss, um rechtzeitig am Bus zu sein. Mit schnellen Schritten lasse ich das Geschehen hinter mir und komme nach Umwegen zu spät am Bus an, gerade noch rechtzeitig, bevor dieser abfährt.


Die Rückfahrt

Im Bus finden Mark und ich wieder zusammen. Er begrüßt mich und stichelt lächelnd, dass ich der schlechteste Buddy aller Zeiten sei. In jedem Fall gibt es erstmal viel zu erzählen, einzuordnen und zu reflektieren. Ein so ereignisreicher Tag ist voller Lernmomente. Welche es auch immer sein mögen, es sind wertvolle Schätze, denn wir alle haben an diesem Tag einen intensiven Aspekt der Realität unserer Gesellschaft erlebt. Später erzählen mir Lara und Louis, zwei Aktivist:innen aus Konstanz, die zwei Nächte vor Ort verbracht haben, wie die Polizei nach dem Ende der Proteste noch nachtritt: „Auf dem Weg zurück ins Camp halten auf einmal fünf Polizeiwagen kurz vor uns, zwanzig Polizist:innen steigen aus und packen sich unvermittelt zwei Aktivist:innen aus den Gruppen und transportieren sie ab.“ Auch die Bilder aus den Nachrichten schockieren. Immer wieder wird argumentiert, dass die Polizei als exekutive Staatsgewalt keine Wahl habe und geltendes Recht der Legislative und Judikative durchsetzen müsse. Und ja, Polizist:innen sind immer wieder mit Provokationen und Beleidigungen konfrontiert. Aber nichts davon rechtfertigt die schamlose Ausnutzung des Gewaltmonopols. Und auch die Frage danach, wie und mit welcher Verhältnismäßigkeit geltendes Recht umgesetzt wird, sollte stets ethischer Standard bleiben.

Bei all dem bleibt eines klar: Wandel impliziert immer auch eine Verschiebung oder Veränderung von Grenzen. Am Samstag, den 14. Januar wurde beim Protest in Lützerath zwischen Matsch und Bauzaun um die Grenze der Kohleverbrennung gerungen. Ob und inwiefern sich diese durch die Proteste und die vorangegangene Besetzung verschoben hat, bleibt abzuwarten.

„Die Bewegung muss breiter werden, dann können wir auch solche Zäune durchbrechen.“

Klimaschutz-Aktivistin Irmtraud (70 Jahre jung)

Irmtraud, 70 Jahre jung, schenkt mir noch ein passendes Zitat für den Abschluss dieses Berichts und erweiterten Tagebucheintrags. Den Anblick der Kohlegrube kann sie kaum aushalten, so dystopisch wirkt er auf sie. Bei den Protesten hingegen stand sie mitunter in den vordersten Reihen. Ihr Résumé mobilisiert und klingt hoffnungsvoll: „Die Bewegung muss breiter werden, dann können wir auch solche Zäune durchbrechen.“