- Der Dokumentarfilm „20 Tage in Mariupol“ zeigt die Schrecken des Angriffskrieges gegen die Ukraine.
- Wir haben den eineinhalbstündigen Film im Apollo Kulturhaus am 12. September 2024 auf Englisch gezeigt.
- Anschließend haben wir auf Deutsch und Russisch über die Filmaufnahmen und Themen diskutiert, die die ukrainische Community umtreiben.
- Bei der Diskussion ging es auch darum, warum so viele Menschen in Russland Putin immer noch bedingungslos unterstützen.
- Dabei wurde klar: Die Ukraine kämpft für die europäische Freiheit, nicht nur für ihr Land.
- Insgesamt wünschten sich die anwesenden Ukrainer:innen mehr mediale Aufmerksamkeit und Unterstützung.
- In unserem nächsten Schwerpunkt bei karla wollen wir ihnen genau diese Aufmerksamkeit zuteil werden lassen
Draußen vor dem Apollo Kulturhaus dämmert es. Die Fensterscheiben leuchten in Neonfarben. Und doch ist etwas anders an diesem Abend des 12. September: Vor der Tür steht die Beachflag von karla. Sie weist auf die Kooperation der beiden Institutionen hin. Etwa 40 Zuschauer:innen haben sich im ehemaligen Kinosaal versammelt. Sie sind gekommen, um den Film „20 Tage in Mariupol“ zu sehen. Wir zeigen ihn an diesem Abend in der Originalfassung: auf Englisch, mit der Stimme des Reporters, der die Aufnahmen gemacht hat, und mit ukrainischen Stimmen, die frei stehen. Die für sich stehen.
Die Bilder sind beeindruckend, packend, berührend, manchmal verstörend. Sie zeigen die Brutalität, mit der der russische Präsident Wladimir Putin gegen das ukrainische Volk vorgeht. Man sieht eine von einer Rakete getroffene Entbindungsstation, aus der eine blutüberströmte schwangere Frau auf einer Trage ins Freie getragen wird. Man sieht Massengräber. Man sieht Menschen, die nicht wissen, wohin. Man sieht, wie der Reporter in letzter Sekunde mit Hilfe des Roten Kreuzes flieht und das Filmmaterial in Sicherheit bringt. Der Film wurde im Frühjahr 2024 als bester Dokumentar mit dem Oscar ausgezeichnet.
Eine Begegnung in Perugia
Ich habe Mystlav Chernov vor anderthalb Jahren beim Internationalen Journalistenfestival in Perugia, Italien, kennengelernt. Ich saß in der ersten Reihe einer Kirche, wo er mit einer ukrainischen Kollegin über den Krieg sprach und erste Ausschnitte des Films zeigte. Als ich sie sah, kamen mir, wie vielen anderen im Publikum, die Tränen. Ich habe als freie Auslandskorrespondentin mit Sitz in St. Petersburg regelmäßig aus der Ukraine berichtet, vor allem zwischen 2011 und 2015. Ich war dabei, als die Proteste auf dem Maidan in vollem Gange waren.
Ich war in vielen Städten jenseits von Kiew – in Charkiw, Donezk, Odessa, Lemberg. Sogar auf der Krim, als sie noch nicht besetzt war. Ich war nie in Mariupol, aber die Bilder der Zerstörung stehen stellvertretend für die vielen Toten, die vielen Verletzten und die unzähligen zerstörten Häuser in diesem Land. Ich habe eine besondere Beziehung zur Ukraine: Ich war oft und gerne da, ich mag die Menschen, die Kultur, die Sprache. Aber auch Menschen, die noch nie dort waren, werden von diesem Film berührt. Wenn sie es nicht werden, dann haben sie kein Herz.
Mystlav Chernov hat in der Diskussion in Perugia gesagt, dass er diesen Film am liebsten nie gemacht hätte. Aber dass es ihm wichtig war, alle Momente dieser 20 Tage der Besetzung festzuhalten, weil es ein Zeitdokument ist. Etwas, das auch seine Kinder und Kindeskinder sehen können und das für immer bleibt. Auch wenn der Krieg irgendwann vorbei sein wird und das Land wieder aufgebaut wird, werden tiefe Wunden in den Seelen der Menschen bleiben. Und dieser Film zeigt, warum.
Es ist keine Lösung, wegzuschauen
Als ich Barbara Haller vom Apollo Kulturhaus erzählte, dass ich den Film gerne zeigen würde, sagte sie sofort: „Machen wir, machen wir!“ Auch wenn es ein schwieriges Thema ist, ist es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Sich diesen Bildern auszusetzen. Das ist nicht immer möglich und man ist nicht immer in der Stimmung dazu. Aber es ist auch keine Lösung, wegzuschauen und so zu tun, als ginge uns das alles nichts an. Oder als ob das so weit weg wäre: Mit dem Flugzeug ist man in zwei Stunden in Kiew. Mehr als 1.500 Menschen aus der Ukraine leben inzwischen in Konstanz. Es ist die größte Gruppe unter den Geflüchteten.
Meine Kollegin Katrin Eigendorf, Sonderreporterin beim ZDF, die ich sehr schätze, hat vor einem Jahr das Buch „Putins Krieg – Wie die Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit kämpfen“ geschrieben. Sie sagt, dass die Ukrainer:innen nicht nur für sich selbst kämpfen, sondern auch für uns und für ein freies Europa. Und dass, wenn wir Putin nicht stoppen, er sich andere Länder einverleiben könnte. Ich persönlich teile diese Ansicht nicht, weil wir im NATO-Bündnis sind und die Bündnispartner dafür sorgen würden, dass Putin nicht weit kommt.
Aber das unterscheidet uns von der Ukraine: Wir sind nicht allein. Ein junger Mann aus dem Publikum sagte, dass die Ukrainer:innen sich nur auf sich selbst verlassen könnten und dass sie kämpfen müssten, weil es sonst keiner für sie tut. Recht hat er. Und ehrlich gesagt: Auch Putin hat wohl nicht damit gerechnet, dass das ukrainische Volk einen solchen Widerstandswillen entwickelt, dass der Krieg jetzt schon zweieinhalb Jahre andauert. Am Anfang dachte man: Da kämpft David gegen Goliath. Es ist völlig klar, wie dieser Krieg ausgehen wird.
Aber durch die Unterstützung der USA und Europas dauert der Krieg viel länger als gedacht. Und klar ist auch: Wenn morgen die Waffenlieferungen an die Ukraine gestoppt würden, wäre alles Blutvergießen umsonst und Putin würde sich das Land widerrechtlich einverleiben. Das gilt es zu verhindern. Gleichzeitig wird der Ruf nach einer diplomatischen Lösung immer lauter. Die Menschen, auch in der Ukraine, sind kriegsmüde und wollen endlich wieder in Frieden leben.
Warum ist Putins Rückhalt in der Bevölkerung so groß?
In der Diskussion kam die Frage, die immer kommt, bei dem Thema: Warum unterstützen die Menschen in Russland Putin? Die Frage ist komplex, aber es gibt einige Antworten.
- Viele Russinnen und Russen informieren sich über das Fernsehen, vor allem in ländlichen Gebieten, wo es keinen Internetanschluss gibt. Im Fernsehen wird oft gelogen und es werden Geschichten verbreitet, die der Kreml gezielt platzieren will. Letztlich wird dort vor allem Propaganda und Brainwashing betrieben.
- Viele Menschen, die mit der Politik nicht einverstanden sind, haben das Land inzwischen verlassen. Hunderttausende sind nach Georgien geflohen, und auch in Berlin leben viele Exil-Russ:innen. Dieser „Brainbrain“ hat aber nicht erst mit dem Krieg begonnen. Schon vorher haben viele Intellektuelle das Land verlassen.
- Die russische Wirtschaft profitiert vom Krieg. Das hat Ina Ruck, Russland-Korrespondentin der ARD, im Sommer bei einer Diskussion in Hamburg bestätigt. Der Krieg sichert Arbeitsplätze und sorgt für Umsatz, so makaber das klingt. Das heißt, die Menschen in Russland spüren keine unmittelbaren negativen Folgen.
- Negative Folgen sind natürlich die vielen tausend Männer, die aus dem Krieg nicht zurückkehren. Und es werden in Zukunft noch mehr werden. Aber das ist nach meiner Einschätzung keine kritische Masse, dass die Stimmung kippt oder die Menschen das System stürzen.
- Viele Menschen in Russland wollen es auch nicht so genau wissen. Sie ziehen sich ins Private zurück, machen Urlaub in Sotschi und sagen „Politik ist ein schmutziges Geschäft“, mit dem sie nichts zu tun haben wollen. Ob man die Ukraine vom Faschismus befreien muss – so die Erzählung des Kremls – oder nicht, ist ihnen mitunter egal.
- Die Spaltung geht manchmal mitten durch die Familien: Wenn Jugendliche sich über soziale Medien und unabhängige Medien wie Meduza und Doschd informieren und ihre Eltern fernsehen, entstehen Gräben, die unüberwindbar scheinen. Übrigens nicht selten auch zwischen Verwandten, die in der Ukraine und in Russland leben.
- Und: Es gibt nicht den Russen, so wenig wie es den Deutschen oder den Europäer gibt. Russland ist ein Land mit mehr als 140 Millionen Einwohner:innen, so komplex und vielschichtig wie nur wenige Länder. Die Menschen in Wladiwostok ticken anders als in St. Petersburg oder Rostow am Don.
- Menschen, die gegen den Krieg sind, die dagegen demonstrieren, die Plakate auf offener Straße hochhalten, werden verhaftet und zu drakonischen Strafen bis zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Sie sollen abschreckende Beispiele dafür sein, sich nicht mit dem System anzulegen.
- Es unterstützen ihn auch deshalb so viele weil es keine Alternative gibt. Alexej Nawalny war für viele ein Hoffnungsträger. Wir alle wissen, was aus ihm geworden ist. Gleichzeitig versteht es Putin, seine Erfolge geschickt zu verkaufen und so dafür zu sorgen, dass die Menschen ihn gut finden.
- Und selbst wenn Putin nicht mehr im Amt wäre, indem er beispielsweise durch ein Attentat ums Leben käme, gäbe es nicht sofort Demokratie im Land. Putin hat in den 24 Jahren seiner Amtszeit ein System von Vasallen aufgebaut, die von ihm profitieren, ihm treu ergeben sind und im Zweifelsfall seinen Weg weitergehen würden.
Bei der Diskussion im Apollo Kulturhaus in Kreuzlingen kam deutlich zum Ausdruck, dass sich die anwesenden Ukrainer:innen wünschen, dass der Angriffskrieg nicht in Vergessenheit gerät. Dass mehr über ihre Sorgen und Nöte berichtet wird, über das, was sie bewegt. Auch über das, was ihnen Hoffnung gibt in dieser krisengeschüttelten Zeit.
Darum werden wir uns beim karla Magazin in den nächsten Wochen und Monaten kümmern. Wer Ideen oder Anregungen für mögliche Themen hat, kann uns jederzeit schreiben: redaktion@karla-magazin.de