Wer nicht weiß, was in seiner Heimat passiert, kann nie ganz richtig ankommen. Ohne dieses Wissen bleibt man ein Durchreisender ohne Bindung zu Stadt, Region oder Dorf. Heimatgefühl entsteht erst, wenn man mitreden kann. Wohl auch deshalb hat der Lokaljournalismus für so viele Menschen eine so große Bedeutung. Zahlreiche Studien belegen, dass der Lokalteil für viele Menschen der wichtigste Teil ihrer Zeitung ist.
Neben der Information erwarten die Leser:innen von ihrer Lokalzeitung, dass sie Orientierung bietet, Kontrolle der kommunalen Politik ausübt, Teilhabe am täglichen Leben ermöglicht und soziale Identifikation schafft. Regionale Nähe ist für viele Leser:innen der entscheidende Faktor, wenn es darum geht, ob sie einen Artikel lesen oder nicht.
Eigentlich müsste der Lokaljournalismus in Deutschland also geradezu blühen. Tut er aber nicht. „Der Lokaljournalismus wird zu einem raren Gut“, hat der Medienwissenschaftler Horst Röper in seiner Analyse zur Medienkonzentration in Deutschland festgestellt. Die Vielfalt im Lokaljournalismus geht durch Redaktionsschließungen und Kooperationen zwischen ehemaligen Wettbewerbern zurück.
„Der Lokaljournalismus wird zu einem raren Gut.“
Horst Röper, Medienwisssenschaftler
Das führt unter anderem zu so schrägen Modellen, dass Verlage ihre Lokalausgaben weiterführen – ohne eigene Lokalredaktion. Die Inhalte werden dann schlicht vom früheren Konkurrenten übernommen. Solche Zombie-Lokalteile sind nicht nur Leser-Verarsche. Sie verringern auch die publizistische Vielfalt und mit ihr stirbt die Meinungsvielfalt vor Ort. In immer mehr Kreisen und Städten in Deutschland gibt es nur noch eine Zeitung, die regelmäßig über das lokale Geschehen berichtet.
Das wird auch zum Problem für unsere Demokratie. Eine Langzeitstudie aus den USA aus dem Jahr 2018 zeigte: Mit geringer werdender lokaler Berichterstattung sinkt der Grad an politischem Wissen und politischer Partizipation in der Bevölkerung. Einerseits.
US-Wissenschaftler haben aber noch einen weiteren Effekt verschwindender lokaler Berichterstattung gefunden: Kommunen agieren offenbar verschwenderischer, wenn es kein kontrollierendes Korrektiv mehr gibt.
„Der Verlust der Kontrolle über die Regierung infolge einer Zeitungsschließung sei mit höheren Löhnen der Staatsbediensteten und größeren Haushaltsdefiziten sowie einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von kostspieligen vorzeitigen Rückzahlungen und verhandelten Verkäufe verbunden“, schrieben drei Wirtschaftswissenschaftler im „Journal of Financial Economics“ im Februar 2020.
Die Wahlbeteiligung in den Gemeinden sinkt umso stärker, je weniger die Medien über lokale Politik berichten.
Nicht nur in den USA ist das so: Eine Studie aus der Schweiz zeigte 2018 ganz ähnliche Ergebnisse. Demnach sinkt die Wahlbeteiligung in den Gemeinden umso stärker, je weniger die Medien über lokale Politik berichten. „Der Medienschwund bedroht die Demokratie“, folgert der Zürcher Politikwissenschaftler Daniel Kübler aus seiner Untersuchung.
Insbesondere Fusionen von Zeitungen haben demnach dazu geführt, dass Medien mehr über übergeordnete und weniger über lokale Themen berichteten: „Es findet eine eigentliche De-Lokalisierung der Berichterstattung statt“, sagt Kübler. Das hat natürlich Konsequenzen. Fehlt die lokale Berichterstattung, ergeben sich Defizite bei der Transparenz und Legitimation.
Aber nicht nur das. Es gibt ein weiteres Problem: Je geringer die Wahlbeteiligung, desto leichter fällt es Gruppierungen mit extremen Positionen zu mobilisieren und ihre Anliegen durchzusetzen. Sie bekommen mehr Gewicht, als sie eigentlich haben. Die Gesellschaft driftet weiter auseinander, das Diskurs-Klima wird schwieriger.
Je geringer die Wahlbeteiligung, umso stärker werden Extrempositionen.
Lokaljournalismus hat also eine große Verantwortung. Gelingt es ihm nicht, die Funktionsweisen der kommunalen Demokratie transparent zu erklären, Missstände aufzuklären und Kontexte aufzuzeigen, schleicht sich eine gefährliche Demokratie-Skepsis ein, die früher oder später auch Land und Bund treffen.
Denn, das hatte der französische Politiker Alexis de Tocqueville (1805 – 1859) schon vor 200 Jahren erkannt, die Gemeinde ist die Schule der Demokratie: „Die Gemeindeinstitutionen sind für die Freiheit, was die Volksschulen für die Wissenschaften sind; sie machen sie dem Volke zugänglich; sie wecken in ihm den Geschmack an ihrem friedlichen Gebrauch und gewöhnen es daran“, schrieb Tocqueville in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“. Schließt diese Schule, droht eine Systemkrise.
Wie konnte es also so weit gekommen? Was ist schiefgelaufen im Lokaljournalismus?
Verleger haben sehr lange sehr gut verdient mit ihren Zeitungen. In vielen Verlagen waren die Regionalzeitungen die Cash cows, es gab sagenhafte Renditen, die jahrelang Jobs sicherte, aber letztlich die Innovationslust bremste: Warum sollte man auch was ändern? Es lief ja!
Blöd war dann nur, dass das Erste, was den Verlagsmanagern einfiel, als die Renditen etwas schmaler wurden, beim Inhalt und den Redaktionen zu sparen. Als würde weniger und schlechterer Inhalt zu mehr Leser:innen führen.
Das Geschäft ist aus vielerlei Gründen heute schwieriger geworden, aber in diese Lage haben sich die Verleger zu einem großen Teil selbst manövriert.
Damit war die Abwärtsspirale in Gang gesetzt, die Spielräume wurden enger und seit Jahren melden Verlage und Medienunternehmen anhaltende Auflagenverluste und rückläufige Werbeumsätze. Klar, das Geschäft ist aus vielerlei Gründen heute schwieriger geworden, aber in diese Lage haben sich die Verleger zu einem großen Teil selbst manövriert.
Redaktionsschließungen, Stellenstreichungen, Budgetkürzungen – all das veränderte natürlich auch die Inhalte. Zugegeben: Manche Redaktion war auch schon davor zu bequem für ordentliche Recherchen, aber nach den finanziellen Einschnitten wurde es noch dramatischer. Weil weniger Geld für professionellen Lokaljournalismus zur Verfügung stand, wurde auch die Berichterstattung über die lokale Politik reduziert oder weniger aufwändig betrieben.
Seither sind viele Regional- und Lokalzeitungen verzweifelt auf der Suche nach dem, was ihre Leser:innen wollen. Sie flüchten sich dabei in Quoten und vertrauen auf Algorithmen anstatt auf einen klassischen journalistischen Wert wie Relevanz. Das Ergebnis ist erwartbar: Viele Lokalteile sind beliebig geworden, setzen auf leicht klickbaren Content, stundenlange Gemeinderatssitzungen werden als antiquiert wahrgenommen. Dabei liegt genau da die Aufgabe für engagierten Lokaljournalismus: Da zu sein, wo sonst keine andere Kontrollinstanz ist.
Welchen Lokaljournalismus wir heute brauchen
Die große Frage ist nun: Wie kommen wir aus dem Schlamassel wieder raus?
Wir brauchen einen neuen, einen aktiveren, einen digitaleren Lokaljournalismus. Einen Journalismus, der offen ist und sich mit seinen Leser:innen verbündet. Ein Journalismus, der partizipativ und kollaborativ arbeitet. Ein Journalismus, der intensiver recherchiert, kritischer hinschaut, in der Sache streitet, dabei aber im Umgang immer fair bleibt.
Dazu braucht es Journalist:innen, die Hintergründe erklären und Zusammenhänge aufzeigen können. Ein moderner Lokaljournalismus verabschiedet sich vom Besserwisser-Journalismus, er will Dinge wirklich verstehen. Er schwingt nicht den moralischen Zeigefinger, sondern versucht Lösungen aufzuzeigen, die jenseits von Ideologien liegen.
Moderner Lokaljournalismus ist politisch unabhängig, hat aber eine klare Haltung: für Menschlichkeit, für Gerechtigkeit, für mehr Chancengleichheit. Ziel wäre ein Journalismus, der seine Profession ernst nimmt, ohne verbissen zu sein. Und lustig sollte er obendrein sein. Und unterhaltsam.
Gemeinnützigkeit als Hoffnungszeichen für einen anderen Journalismus
Aber wie das alles finanzieren, wenn die Lage am Markt ist, wie sie gerade ist?
Das Mainzer Medieninstitut hat für die Grünen im Januar 2021 ein Gutachten erstellt, das sich mit einer möglichen öffentlichen Förderung für Lokal- und Regionaljournalismus beschäftigt. Ihr Fazit: Wenn der Markt versagt und ein Gut nicht so nachgefragt wird, wie es gesellschaftlich wünschenswert wäre, kann der Staat mit einer Förderung eingreifen.
Dafür haben sie ein Modell entwickelt, das einerseits staatsfern ist und die journalistische Unabhängigkeit wahrt, andererseits die Produktion journalistischer Inhalte vor Ort direkt unterstützt. Eine andere Lösung wäre: Journalismus als gemeinnützig anerkennen. Denn: Anders als Schach und Modellbau fehlt dem Journalismus bislang die steuerrechtliche Anerkennung der Gemeinnützigkeit. Die Ampel-Koalition will das ändern: „Wir schaffen Rechtssicherheit für gemeinnützigen Journalismus“, steht im Koalitionsvertrag.
Eine Bewegung entsteht
Die gute Nachricht ist: Ein neuer Lokaljournalismus entsteht bereits jetzt. Sogar ohne öffentliche Förderung. Deutschlandweit gibt es ambitionierte Projekte, die den Lokaljournalismus wieder zur Königsdisziplin des Journalismus machen wollen: RUMS in Münster, die Relevanzreporter in Nürnberg, Viernull in Düsseldorf, Katapult in Mecklenburg-Vorpommern und ja, auch wir von karla zählen uns zu dieser Bewegung.
Dauerhaft werden diese Projekte aber nur überleben, wenn die Leser:innen jetzt auch ihr Versprechen einlösen: Für guten Lokaljournalismus zahlen zu wollen. Dann stünde einer echten Blüte des Lokaljournalismus nichts mehr im Weg. Alexis de Tocqueville würde das gefallen.
Der Deutsche Journalisten Verband (DJV) kommt am Freitag, 2. Dezember, für seine Tagung „Journalismus im Hinterland” nach Konstanz. Ziel der Veranstaltungsreihe ist es, darüber zu diskutieren, wie guter Journalismus fernab der großen Medienmetropolen in Zukunft aussehen kann. Das Projekt wird von der EU unterstützt. Bei der Tagung im Bodenseeforum am 2. Dezember stellen wir uns von karla vor. Am Nachmittag geht es um den Journalismus im Dreiländereck. Mit dabei sind dann auch die Kolleg:innen von tsri.ch, KONTEXT:Wochenzeitung, Seemoz und Proton. Mehr zur Tagung gibt es hier.
Der Text oben ist im Mai 2022 im DEMOS Mag erschienen. Anlässlich der Tagung publizieren wir ihn auch bei uns.