Freunde aus anderen Teilen Deutschlands fragen mich manchmal: Und, wie ist es so, das Leben an der Grenze? Meistens antworte ich dann: Wer in Kreuzlingen oder Konstanz lebt, der merkt die existierende Ländergrenze zwischen den beiden Städten gar nicht. Man pendelt hin und her. Zum Arbeiten, zum Einkaufen, um Kultur zu erleben oder Freizeit zu verbringen. Einerseits. Andererseits ist diese Grenze oft aber auch ganz schön präsent. In manchen Köpfen. In bürokratischen Hürden. Und in Extremsituationen wie der Pandemie, als die Grenze doppelt gesichert wurde.
Ich lebe seit 2006 in Konstanz, seit 2016 arbeite ich in der Schweiz. Ich kaufe hüben wie drüben ein, ich nutze Kulturangebote in beiden Städten und als mein Sohn noch jünger war, haben wir selbstverständlich fast jeden Sonntag auf dem fantastischen Spielplatz im Kreuzlinger Seeburgpark verbracht. Ich bilde mir also ein, einen ganz guten Einblick in das grenzübergreifende Miteinander entlang dieser EU-Außengrenze zu haben. Mein Eindruck ist: Es gibt noch zu viele Einbahnstraßen in unserem Verhältnis.
Gemeinsam könnten beide Städte mehr erreichen
Um nicht immer auf dem Einkaufstourismus herumzureiten, blicken wir lieber auf die Kultur. Viele Thurgauer:innen kommen regelmäßig für Theater, Philharmonie oder Campus-Festival nach Konstanz. Aber wie viele Konstanzer:innen kennen das Kreuzlinger Kulturzentrum Kult-X oder den fabelhaften Kunstraum Kreuzlingen?
Das Interesse endet da leider oft vor der Grenze. Dabei hat Kreuzlingen manches, was Konstanz fehlt – interessante, junge und zeitgenössische Kunst beispielsweise. Zwischen einzelnen Institutionen gibt es zwar einen grenzüberschreitenden Austausch, aber richtig strukturiert erscheint mir der Dialog nicht.
Stell dir vor: Ein Ort, der Kultur & Stadtentwicklung zusammen denkt!
Was ich zum Beispiel nie verstanden habe – warum engagiert sich die Stadt Konstanz nicht stärker für den Kunstraum Kreuzlingen? Gemeinsam könnten die beiden Städte ein grenzübergreifendes Leuchtturmprojekt schaffen, das Kunst auch als wichtige Inspirationsquelle für Stadtentwicklung versteht. Das Potenzial dahinter hat die UNESCO erkannt: „Städte sind Treiber menschlicher Entwicklung. Kultur muss deshalb integraler Bestandteil von Stadtentwicklungsstrategien sein, um urbane Räume nachhaltig zu entwickeln und ihren Einwohnern eine bessere Lebensqualität zu ermöglichen“, schrieb die Organisation in einem Bericht bereits vor sieben Jahren.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Manchmal sind es auch bürokratische Hürden, die Kooperationen erschweren. Bühnenbilder, Requisiten und Arbeitskräfte über die Grenze zu transportieren klingt oft einfacher, als es ist. Der Zoll redet halt auch noch mit.
Die Tücken der Bürokratie
Die Bürokratie macht es auch in anderen Bereichen kompliziert. Erst recht an einer EU-Außengrenze. Das betrifft insbesondere Grenzgänger:innen wie mich, die in Deutschland leben, aber in der Schweiz arbeiten. Bis mal geklärt ist, welche Finanzbehörde für welche Besteuerung zuständig ist, können etliche Monate vergehen.
Auch deswegen habe ich seit meinem Dienstantritt in der Schweiz eine Steuerberaterin. Ohne sie fühlte ich mich verloren im internationalen Paragrafendschungel.
Immer noch lost im Schweizerdeutsch
Verloren fühle ich mich nach sieben Jahren im schweizerischen Arbeitsumfeld manchmal immer noch im Schweizerdeutsch. Nicht unbedingt im Arbeitsalltag, aber wenn ich mit Kolleg:innen mal auf ein Abendessen verabredet bin, merke ich im lockeren Gespräch gelegentlich, dass mir manche Vokabeln einfach fehlen.
Dazu kommt: Ich spreche selbst keinen Dialekt. Aus Prinzip. Es käme mir unangemessen anbiedernd vor. Und hey, ich komme aus Westfalen! Wie albern wäre das, wenn ich jetzt Schweizerdeutsch spräche? Eben. Die Konsequenz daraus: Sprache schafft für mich hier manchmal mehr Grenzen als Verständigung.
Große Offenheit im Thurgau
Abgesehen davon habe ich aber von Anfang an eine große Offenheit und Freundlichkeit im Thurgau erlebt. Mit der viel zitierten, angeblichen „Deutschenfeindlichkeit“ in der Schweiz war ich in sieben Jahren genau einmal konfrontiert.
Nachdem ich einen kritischen Kommentar zu einer rassistischen Äußerung eines Stadtpräsidenten geschrieben hatte, erklärte mir ein SVP-Politiker, dass ich als Deutscher eigentlich kein Recht habe, einen gewählten Schweizer Volksvertreter zu kritisieren. Nun ja.
Was ich von der Schweizer Politik halte
Mein Verhältnis zur Schweizer Politik ist insgesamt ambivalent. Das ewige Streben nach einem Konsens kann einen verrückt machen, wirkt am Ende aber eben oft doch integrierend. Ich beneide unsere Nachbar:innen um ihre direktdemokratischen Elemente. Gleichzeitig bin ich immer wieder entsetzt über die stockkonservative Familienpolitik, die in der Schweiz vorherrscht. Eine Elternzeit, wie es sie in Deutschland gibt, existiert in der Schweiz nicht.
Bei der Geburt eines Kindes hat die Mutter in der Schweiz Anspruch auf einen bezahlten Urlaub von 14 Wochen, der Vater auf einen bezahlten Urlaub von 2 Wochen. Nicht vorgesehen ist ein Elternurlaub, den sich Mutter und Vater frei aufteilen können. Alte Rollenbilder erscheinen mir hier noch erstarrter als in Deutschland.
Was Konstanz vom Thurgau lernen kann
Was ich an der Schweiz und am Thurgau mag, ist, dass es einen größeren gesellschaftlichen Konsens über die Bedeutung von Bildung und Kultur für die Gesellschaft gibt. Und dass sich das nicht nur in Sonntagsreden zeigt, sondern sich auch im Alltag und an den Finanzbudgets von Kanton und Bund ablesen lässt.
Selbst in einem ländlich geprägten Kanton wie dem Thurgau gibt es in fast jedem Dorf irgendeine Kulturinitiative. Weil es den Menschen wichtig ist. Diese Macher-Qualität wünschte ich mir auch für Konstanz. Während hier eher darüber lamentiert wird, was warum nicht geht, wird im Thurgau oft einfach mal gemacht.
Wie wir das Gute durch das Bessere ersetzen
So gesehen ist die Grenzlage eigentlich ein großes Geschenk. Sie gibt uns die Chance voneinander zu lernen. Wir können in Echtzeit verfolgen, welche Dinge jenseits der Grenze besser laufen. Und uns dann überlegen, wie wir das diesseits der Grenze für uns übernehmen könnten, um das Gute durch das Bessere zu ersetzen. Ich frage mich, warum wir die Chance bislang nicht besser nutzen.
Darum: Zwei Schwerpunktmonate bei karla
karla wäre nicht karla, wenn wir nicht auch hier versuchen würden, im konstruktiven Dialog Dinge besser zu machen. Deshalb widmen wir uns im Juni und Juli zwei Monate lang dem Miteinander an der Grenze. In vielen verschiedenen Texten, Audios und Videos versuchen wir die Besonderheit der Grenzlage zu erfassen. Höhepunkt wird der 1. Juli sein, wenn wir Konstanzer:innen und Kreuzlinger:innen zu gemeinsamen Gesprächen ins Apollo Kreuzlingen bitten. Vielleicht lernen wir uns ja nochmal ganz neu kennen.
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