- Genossenschaftliche Wohnprojekte bieten günstigen Wohnraum und fördern sozialen Zusammenhalt, im Gegensatz zum gewinnorientierten Wohnungsmarkt.
- Mieter:innen wie beim Q-Hof in Bern beteiligen sich aktiv an Entscheidungen und Gemeinschaftsarbeiten.
- Gemeinschaftsräume und -flächen stärken das Miteinander und bieten mehr Mitbestimmung als konventionelle Wohnformen.
- Trotz niedriger Mieten bleibt die Vielfalt der Bewohner:innen durch Quotensysteme gewährleistet.
- Das Prinzip der Eigenverantwortung senkt Kosten, zum Beispiel bei Reparaturen, was zu mehr Zufriedenheit führt.
- Herausforderungen wie die Verwaltung durch Ehrenamtliche erfordern neue Lösungen für zukünftige Projekte.
Kaum hat der Zug Konstanz und Kreuzlingen mit Ausblick auf die mittelalterliche Altstadt und die Neubaugebiete des letzten Jahrhunderts verlassen, mäandert er zwischen Luxuswohnungen mit schaufenstergroßen Glasfronten und Bauernhäusern durch die Schweiz. Vor dem Fenster zieht das ganze Spektrum von Wohnformen vorbei. Wir besuchen in Bern zwei Initiativen, in denen Mieter:innen den Zollstock selbst in die Hand genommen und günstigen Wohnraum geschaffen haben.
Paul Wyss, genannt Pole, begrüßt im Innenhof des Quartierhofes. Gleich hinter einem Durchgang, in dem aktuelle und längst vergangene Veranstaltungsplakate sich teilweise überdecken, sitzt er auf einer kleinen Bühne im Innenhof. Die kommt nur zum jährlichen Sommerfest zum Einsatz, bespielt wird sie kaum, „aber die Leute sitzen gerne darauf.“ Um uns und einen Kirschbaum das U-förmige Gebäude, überlebender Teil einer alten Arbeitersiedlung, erklärt er. Im Hintergrund stehen zusammengewürfelte Gartenmöbel, eine Schaukel wartet auf Gäste. Alles ist ein bisschen bunt und ein bisschen nicht so bunt, weil die Farbe abblättert.
Das Gebäude sollte einmal abgerissen werden. Mit Unterstützung der Stadt Bern gelang es den Kaufenden, die zu einem Vorläufer der Genossenschaft wurden, das alte Gebäude zu retten und die Wohnungen günstig zu vermieten. Seitdem regiert hier die Genossenschaftsversammlung, das oberste Organ im Q-Hof, wie das Gebäude in Bern meist genannt wird.
Genossenschaftliches Wohnen basiert auf dem Prinzip des gemeinschaftlichen Eigentums und der Selbstverwaltung. Mitglieder einer Wohnungsgenossenschaft erwerben Geschäftsanteile und erhalten im Gegenzug ein dauerhaftes Wohnrecht, ohne selbst Eigentümer:innen ihrer Wohnung zu werden. Die Genossenschaft ist in der Regel demokratisch organisiert: Jedes Mitglied hat unabhängig von der Anzahl seiner Anteile eine Stimme. Die Mieten werden kostendeckend und langfristig stabil gehalten, was besonders in Zeiten steigender Immobilienpreise Sicherheit bietet.
Genossenschaften fördern das soziale Miteinander, da Entscheidungen gemeinschaftlich getroffen und Rücklagen für Instandhaltungen genutzt werden. Zudem sind sie häufig in der Lage, Wohnraum auch für einkommensschwächere Haushalte bereitzustellen.
Wohnungsgenossenschaften entstanden im 19. Jahrhundert als Reaktion auf Wohnungsnot und steigende Mieten. Heute tragen sie zu einem vielfältigen Wohnungsmarkt bei und bieten eine Alternative zu rein profitorientierten Wohnungsunternehmen. Durch ihren gemeinschaftlichen Charakter und die Verpflichtung zu sozialem Ausgleich gelten sie vielerorts als stabilisierendes Element im Wohnungsmarkt.
Bewohnende müssen Genossenschafter:in sein, um hier einzuziehen, die Beteiligung an Arbeitsgemeinschaften ist Teil des Mietvertrags und jede:r sollte zu den Versammlungen kommen, so sind hier die Regeln. Dafür erhalten Mietende äußerst günstige Mieten und das Versprechen auf viel Mitbestimmung.
„Das ist mein Innenhof, das gehört zu meiner Stube. Wenn ich den Tisch da rüber stellen möchte, dann muss ich nicht fragen. Aber wenn ich etwas anders haben möchte, dann kann und muss ich eben fragen“, sagt Pole.
Die niedrigen Mieten sind ihm selbstverständlich auch wichtig: „Ich habe hier die Möglichkeit, nicht irgendeinen kapitalistischen Gewinn jemanden ins F*dle zu schieben“, erklärt er in tiefem Berndütsch.
Wie es sonst in der Stadt läuft, erlebt er selbst regelmäßig. Als Bauleiter ist er an vielen Sanierungen beteiligt. Er stockt, als er von manchen Gewissenskonflikten berichtet. Mietsteigerungen in Höhe von mehreren hundert Franken und jahrzehntelang aufgeschobene Sanierungen mit desolaten Wohnzuständen in der Folge fallen ihm ein. „Wenn ich ein bisschen Einfluss habe, versuche ich mich schon da einzusetzen“, aber die Entscheidungen lägen letzten Endes nicht bei ihm.
Dagegen ist er eine feste Größe im Q-Hof. Mit den meisten Passant:innen tauscht er einige Worte aus, kennt die Gewohnheiten und oft auch die Pläne der Mitbewohnenden. Die Abläufe sind nicht nur Pflichtprogramm im Gegenzug zu günstigem Wohnraum, sondern tiefe Überzeugung.
Da sind die Hausversammlungen, in denen sich die Subeinheiten, die Häuser über Alltägliches austauschen, „Manchmal auch nur etwas, wie meine Katze läuft immer zu mir“, so Pole. Anders die Genossenschaftsversammlungen, wo es um Grundsätzliches geht:
„Wie man da mitreden kann, ist wertvoll, das gibt Identität. Die Versammlungen sind manchmal mühsam, aber dafür kann eben auch jede und jeder seine Meinung einbringen. Manchmal hat man auch Krach miteinander, aber dann redet man auch wieder miteinander, und wenn es ein Jahr dauert. Das Haus zwingt einen fast dazu.“
Eher beiläufig erwähnt er, dass viele der Zimmer Duschen oder sogar Toiletten auf dem Gang hätten. Ganz an die Wohntandards anpassen wollte und konnte sich der Q-Hof auch sonst nicht. Das Prinzip der kaum stiegenden Mieten wäre sonst nicht durchzuhalten gewesen.
44 Personen haben sich entschieden, in dieses Wohnprojekt zu ziehen. Es gibt eine Quote, um Gerechtigkeit bezüglich des Geschlechts, der sexuellen Orientierung und des Migrationshintergrundes herzustellen. Ansonsten sind die Genossenschaftsmitlgieder weitgehend offen, die Versammlung entscheidet über neue Mietverhältnisse: „Eine ganz rechtskonservative Person hätte hier wohl keine Chance.“
So ist es eine eher kreative und alternative Gruppe, die nach und nach aus den Häusern kommt und an den Stühlen und Bankgruppen Platz nimmt. Es wird Zeit für das Mittagessen. Wir treffen Serge, der zum Essen keine Zeit hat. Mit einer halb verdeckten Skulptur aus roten, wild wippenden Tentakeln balanciert er aus einem der Keller. Er ist auf dem Weg zu einem Musikvideodreh. Das Ungetüm, dessen Bedeutung sich ohne Musik nicht erschließt, hat er in der Werkstatt angefertigt, die den Bewohnenden offensteht.
Dahinter ein kleiner Garten, in dem es zwischen wuchernden Ästen und hüfthohen Pflanzen vor allem Platz gibt für Bienen und andere Insekten, die um uns herumsurren. Das Revier der Mähroboter, die entlang der Zugstrecke träge aus ihren Ladestationen kriechen, reicht nicht bis hierher. Mit Tellern voller Pasta und Eintopf haben Therese und Bastian mittlerweile die Plätze auf der Bühne besetzt:
„Es braucht einen Moment, um sich einzuleben und bis man alle Leute hier kennt und weiß, wie sie ticken, aber dann ist es total schön, sich einfach hier rauszusetzen und zu reden. Es hat so beide Seiten, man muss das schon wollen.“
Nur wenige Tramminuten von Hauptbahnhof gelegen, ist die Lorraine ein angesagtes Viertel. Es gibt Second-Hand-Läden und schicke Cafés. Der Barista des Cafés um die Ecke erzählt beim Espresso, er arbeite hier nur kurzfristig, er sei seit Jahren eigentlich immer auf Reisen.
„Wir haben schon eine Mitschuld an der Gentrifizierung“, gibt Pole zu. Sie seien eben genau zu der Zeit gekommen, als das heruntergekommene Arbeiterquartier wegen der günstigen Mieten immer beliebter wurde. „Wir haben da schon zu beigetragen. Jetzt fahren auch die Protzer mit ihren dicken Autos durch das Quartier.“ Er zeigt Fotos des schweizweit berühmten Künstlers Endo Annaconda in der Galerie im Haus, auf der Rückseite des Hauses hängt eine Wandmalerei, an dessen Entstehung Aktivist:innen der 70er Jahre beteiligt waren.
Für Pole ist es auf jeden Fall sein Haus in seinem Viertel. Warum andere lieber in standardisierten Blöcken wohnen, erschließt sich ihm nicht. „Die wollen gar nicht mehr als ihre vier Wände. Das Drumherum interessiert sie nicht. Dafür muss man sich nicht darum kümmern. Man kann irgendwo anrufen, hey, die Waschmaschine ist kaputt. Hier sagt man das einfach eine:r Nachbar:in aus der AG-Unterhalt.“
Waschmaschinen, ihr Strudel wird uns auch im Wohnprojekt Via Felsenau begegnen. Genau wie die ausgeprägte Diskussionsleidenschaft. „Junge Menschen haben zehn Jahre bei Alkohol und Gras diskutiert“, erzählt Rene Schwyter. Erst danach wurde der Plan, die destruktiven Energien der 80er Jahre-Unruhen in produktive Bauprojekte umzuleiten, tatsächlich umgesetzt. Er selbst kam erst Anfang der 2000er in das Projekt, war aber neun Jahre lang Präsident der Genossenschaft.
„Es ist ein Zukunftsmodell für Leute, die den sozialen Zusammenhalt stärken wollen, nicht für solche, die möglichst schnell und effizient Vermietungsprozesse abwickeln wollen“, findet er.
Für ihn die richtigen Prioritäten: „Ich kann hier alt werden und sterben, es ist alles rollator- und rollstuhlgerecht.“ Die Via Felsenau liegt vielleicht noch mehr zwischen den Welten. Sie ist ein Kosmos voller Biodiversitäts- und Frauenkampftagflaggen und liegt doch nur wenige Busstationen von der Haupteinkaufsstraße entfernt. Schaut man nach unten, sieht man grünes Idyll und wilde Gärten und Wiesen, blickt man nach oben, dröhnt die Autobahn. Hier gibt es Insekten und Feinstaub.
Und auch hier gibt es die Versammlungen, außerdem Arbeitstage für die Gemeinschaft, die im Mietvertrag festgelegt sind, zum Beispiel bei der Gartenpflege. Trotzdem betont Schwyter, lebten die Menschen hier sehr normal. Tatsächlich gibt es hier keine Duschen auf dem Gang, nur WGs und Ein- bis Vier-Zimmerwohnungen in relativ neuen Gebäuden. Der Wohnraum ist komplett von der Genossenschaft errichtet worden.
„Wenn ich hier mittags durchlaufe, finde ich viele durchmischte Gruppen von Kindern und Erwachsenen beim Essen. Die Familien unterstützen sich gegenseitig. Der soziale Zusammenhalt ist sicher größer als in einer herkömmlichen Siedlung. Die Leute erwarten das auch, sie haben sich das ja schon in der Bauphase ausgesucht“, sagt Schwyter.
Besonders sichtbar sei das Miteinander während der Pandemie gewesen. Die Nachbarschaftshilfe bestand bereits, das Einkaufen während der Quarantäne war leicht organisiert.
Vielleicht auch, weil sich die Bewohnenden ähneln: „Es ist in der Basis ein Mittelstandsghetto,“ gibt Schwyter zu. Auch dafür gebe es aber schon eine Arbeitsgemeinschaft. Künftig sollen Wohnungen vermietet werden, ohne dass der Kauf eines Anteilsscheines nötig ist. Das soll mit höheren Mieten kompensiert werden oder einem Solidaritätsfonds, darüber muss die Genossenschaft noch entscheiden. Dafür muss durchaus etwas Zeit eingeplant werden. Seit vier Jahren wird über eine mögliche Erweiterung diskutiert. „Bei einem privaten Investor würden die Gebäude schon stehen“.
Das könnte neuen Wohnraum bedeuten, aber auch das Ende der Genossenschaft in dieser Form. Denn so langsam schaffen die Genossenschafter:innen es nicht mehr, die größer werdende Organisation mit Ehrenamtlichen zu stemmen, zumal die freiwilligen Arbeitszeiten immer weniger würden.
„Vor 20 oder 30 Jahren hätte man alles ehrenamtlich gemacht. Die Leute sind nicht mehr bereit, da mitzumachen. Für manche Projekte, wie Regenwasser zu sammeln und in die Gärten zu pumpen, finden sich sofort Leute. In der Verwaltung, wo man für drei bis vier Jahre regelmäßig Sitzungen und Verantwortung übernimmt, da findet sich kaum jemand.“
Stolz führt er über das weitläufige Gelände. Kleinere Projekte gibt es tatsächlich viele zu finden, auch von jüngeren Bewohnenden. Der Pizzaofen ist im Kern das Resultat eines Projektes der nächstgelegenen Waldorfschule. Ein Gewächshaus ist aus alten Fenstern zusammengezimmert worden. Auch hier stolpert man weit und breit über keinen Mähroboter. Schon die wenigen Katzen sind Streitthema, machen sie das Umland doch um den einen oder anderen Vogel weniger biodivers.
Unten auf halber Höhe des Hanges steht das Spinnrad, ein umgebautes Industriegebäude mit Coworking-Space, Selbstbedienungsladen und Werkstätten. Ein Herzensprojekt der Gruppe, wenn auch ökonomisch fern der schwarzen Zahlen.
Mara Suter sitzt im Schneidersitz an einem der beiden Arbeitsplätze und tippt konzentriert in ihren Laptop. „Fällt dir die angenehme Raumluft auf? Trotz der Nachmittagssonne bleibt es hier kühl, und man kann frei atmen“, bemerkt sie. Der Effekt sei dem Lehm in den Wänden zu verdanken, erklärt sie und zeigt auf eine unregelmäßig gefärbte Stelle. Sie ist eine der wenigen, die sich für die Verwaltung der Genossenschaft engagieren – „gegen eine kleine Aufwandsentschädigung,“ fügt sie schmunzelnd hinzu.
Die fünf Franken pro Stunde, die in der Schweiz eher wie ein symbolisches Taschengeld wirken, hören wir an diesem Tag nicht zum ersten Mal. Lächelnd beginnt Suter, über ihre Beweggründe für das Engagement zu sprechen: „Darüber habe ich oft nachgedacht,“ sagt sie und führt weiter aus:
„Wenn man über eine lebenswerte Zukunft nachdenkt und über Hebel, die man dafür als Privatperson hat, wird dieser in einer Genossenschaft viel größer. Du hast die Möglichkeit, über das Teilen, sei es im Bioladen, der Büroräume oder Kaffeemaschine, luxuriös zu leben und Ressourcen einzusparen.“
Dann kommt auch sie auf Waschmaschinen zu sprechen. Deren Sog fing sie kurzfristig ein, als sie aus der Via Felsenau auszog und in eine kommerzielle Mietwohnung wechselte: „Du bist sofort gefangen in einer Kostenspirale. Wenn etwas Kleines an der Waschmaschine defekt ist, vermeiden wir es hier, einen Techniker kommen zu lassen, weil das die Genossenschaft gleich ein paar hundert Franken kostet.
In einer Mietwohnung hast du ja kein Interesse daran, das selber zu machen, weil die Verwaltung danach schaut. Das schlägt sich aber auch in der Miete nieder. Hier ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass irgendjemand Reparaturen hinbekommt. Für mich ist dieses Leben mit geringen Fixkosten, wo ich viel machen kann, viel befriedigender. Wenn ich nicht selbst darf, sondern nur Geld bringen muss, fühlt sich das an wie ein Gefängnis.“ Nach sechs Monaten war sie zurück in der Via Felsenau.
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