Jetzt mal im Ernst, die AfD ist kein Ossi-Problem! 

Erst das Landratsamt in Sonneberg, dann den Bürgermeisterposten in Raguhn-Jeßnitz: Die AfD hat gerade in Thüringen und Sachsen-Anhalt politischen Erfolg. Doch das Problem ist kein per se ostdeutsches, findet unser Autor.
Das Bild zeigt eine Illustration des Kolumnentitels.
Grafik: Alexander Wucherer

Seit einigen Wochen wissen ziemlich viele Menschen, dass es Sonneberg und nicht Sonnenberg heißt. Dass man darüber hinaus weiß, dass dort im südlichsten Thüringen breites Fränkisch gesprochen wird, liegt am Bruch eines politischen Damms. Wozu man die vermeintlich Schuldigen aus dem Kreis Sonneberg ausgiebig befragen musste. 

Der personifizierte Dammbruch heißt Robert Sesselmann, ist 50 Jahre alt und Rechtsanwalt. Nebenbei hat er noch eine verantwortliche Position bei einer gesichert rechtsextremen Partei und wurde vor etwa zwei Wochen zum künftigen Landrat von Sonneberg gewählt. So weit, so schlecht. 

So weit, so typisch, finden dagegen fröhlich über „diese Ossis wieder“ dozierende Berichterstatter:innen, Analyst:innen, Stammtisch-Philosoph:innen aus den wohl situierten Regionen der Republik. Endlich wieder mal berechtigt über die von drüben lästern können, die es offenbar noch immer nicht besser wissen – und einen (Partei-)Freund eines Faschisten in Amt, Würden und Verantwortung wählen. 

Am Bodensee könnte das nicht passieren?!

„Bei uns“, so hört man es auch am Bodensee, „könnte das nicht passieren.“ Und ergänzt im Stillen: „… wir sind schließlich nicht doof.“ Alle Wahlen auf allen Ebenen seit Entstehung der AfD bestätigen den Eindruck: Wer zwischen Unter-, Ober- und Überlinger See braun – oder meinetwegen neuerdings blau – ist, bleibt politisch bedeutungs- bis chancenlos. Da hilft es auch nicht, dass die Bundessprecherin Überlingen als Wohnort angibt oder es rund um den Hegau einige Ausreißer:innen bei diversen Wahlen über die zehn Prozent schafften. Der künftige Sonneberger AfD-Landrat taugt mithin zum weltfremden, in die Kiwi beißenden Ossi 4.0 aus den 90er-Jahren. 

In Sachen Sesselmann wird nun eingeordnet und nach Gründen gesucht für einen Rechtsruck, obwohl in Thüringen nichts ruckelte, sondern vielmehr seit Jahren gemütlich dahin glitt: Protest gegen die Politik in Bund und Land, ideologische Zustimmung, schwache Mitbewerber:innen, eine niedrige Wahlbeteiligung. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus all dem, die Sesselmann auf den – nun ja – Sessel hob. 

Es geht nicht nur um den Osten

Wie in einem deutsch-deutschen Märchen scheint es ins Bild vom angeblich naiv-tumben Ostdeutschen zu passen, dass in Reportagen und Dokus Sonneberger:innen vor Kameras und Mikros gebeten werden, um in tiefstem, ländlich geprägten Dialekt davon zu sprechen, dass Sesselmann eben die Wahrheit ausspreche, ihnen sonst keine:r zuhöre, die AfD letztlich die „einzige Alternative“ sei. Alternative, Sie verstehen schon, zwinker-zwinker. 

Ich weiß bedauerlich wenig über unseren Osten. Bis auf Jena, Dresden, das Erzgebirge, Brandenburg, Ostberlin (und das zählt eh nicht) war ich nirgends länger als auf der Durchreise. Ich habe also zu wenig gesehen, um mir im aktuellen Fall ein Urteil zu erlauben. Weil es offenbar vielen so geht, eignet sich der Fingerzeig nach Südthüringen umso besser zur Abgrenzung. 

Die wachsende Zustimmung zu rechten bis rechtsextremen Positionen auf den Osten zu begrenzen, halte ich für mindestens so gefährlich wie das Wahlergebnis selbst. Vieles spricht dafür, dass Sonneberg zwar nicht überall, aber auch anderswo denkbar ist, auch in der ach so politisch erfahrenen „alten BRD“: diverse derzeitige Umfragen zeigen hohe Zahlen für die AfD; eine mutlose, mit sich selbst beschäftigte Regierung; eine CDU, die nicht weiß, ob Mäßigung und Mitte oder Rechtspopulismus ihr besser steht. 

Es war einmal der Erste

Man muss es nicht gut, sollte es am besten sogar bedauernswert finden und sich dagegen friedlich wehren. Aber womöglich werden Ergebnisse wie das von Robert Sesselmann schlicht normaler. 

Vielleicht wird also über ihn dereinst gesprochen werden wie über einen anderen Juristen, der heute vor 27 Jahren 500 Kilometer vom Landratsamt Sonneberg entfernt auch einmal politisch der Erste war: erster Grüner Oberbürgermeister. Ohne Herrn Sesselmann zu nahe treten zu wollen: Horst Frank war und ist Demokrat durch und durch. 

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