Ungleichheit: Wird alles immer nur schlimmer? 

Unser Autor Marius Busemeyer hat zu Ungleichheit geforscht. In seiner Kolumne beschreibt er, wie Menschen soziale Ungleichheit wahrnehmen und wie sich das auf die Politik auswirkt.
Grafik: Alexander Wucherer

Das Thema soziale Ungleichheit ist in aller Munde und wird sogar häufig als das zentrale Schlüsselproblem unserer Gesellschaft gesehen: Von Bildung über Gesundheit, Arbeitsmarkt, Lebenschancen, Geschlechtergerechtigkeit bis hin zur Klimapolitik – Ungleichheiten scheint es überall zu geben. Es ist allerdings gar nicht einfach, Ungleichheit objektiv zu messen. Forschende entwickeln daher teils recht komplexe Indizes wie den Gini-Index, den Theil-Index, die 80:20- oder auch die 90:10-Ratio, um Ungleichheit greifbarer zu machen. Und das sind nur einige der Indizes, die Forschende vor allen Dingen zur Messung von Einkommensungleichheit entwickelt haben. In anderen Bereichen wie Gesundheit oder Bildung ist die objektive Messung von Ungleichheit noch schwieriger.

Aber unabhängig davon, wie sich Ungleichheit in unserer Gesellschaft tatsächlich entwickelt: Wie nehmen die Betroffenen selbst – also wir alle als Teil der Gesellschaft – dieses abstrakte Gebilde Ungleichheit eigentlich wahr? Sind Menschen in Deutschland der Meinung, dass die Ungleichheit hierzulande groß oder gering ist? Nimmt sie im Zeitverlauf zu oder ab? Wie hängen diese subjektiven Wahrnehmungen eigentlich mit der Realität zusammen? Und was hat das für politische Konsequenzen?

Forschung an der Uni Konstanz

Diese und ähnliche Fragen zu politischen Ursachen und Auswirkungen von Ungleichheit untersuchen wir im Konstanzer Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ mit finanzieller Unterstützung des Bundes und der Länder über viele Jahre. Eines der Projekte im Cluster ist das Konstanzer „Ungleichheitsbarometer“, das im Abstand von zwei Jahren im Rahmen einer allgemeinen Bevölkerungsumfrage die Wahrnehmungen der Menschen zu Ungleichheit und verwandten Themen untersucht. Vor Kurzem wurden die neuen Ergebnisse der letzten Befragung von Ende 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Studie basiert auf einer repräsentativen Online-Umfrage mit mehr als 6.000 Teilnehmenden aus der deutschen Wohnbevölkerung.

Ein spannendes Ergebnis, das auch schon in einer früheren Erhebung aufgetreten war, ist, dass die Menschen in Deutschland das Ausmaß von Ungleichheit tendenziell unterschätzen, und zwar insbesondere dann, wenn es um ihre eigene lebensweltlich Erfahrung geht. Was ist damit gemeint? Wir haben die Studienteilnehmenden in einem ersten Schritt gebeten, ihre (geschätzte) Position in der Verteilung von Einkommen und Vermögen auf einer 10-stufigen Leiter anzugeben. Im nächsten Schritt haben wir diese geschätzte Position mit der tatsächlichen Position der Person in der Verteilung von Einkommen und Vermögen verglichen, die wir an anderer Stelle in der Umfrage erhoben haben. 

Dabei zeigt sich, dass die Reichen und Wohlhabenden in der oberen Hälfte der Verteilung ihre relative Position massiv unterschätzen: Die Reichen denken, sie wären weniger reich, als sie objektiv sind. In der unteren Hälfte der Verteilung sieht man den gegenteiligen Effekt: Die relativen Armen überschätzen ihre Position in der Verteilung – das heißt, sie halten sich für reicher, als sie objektiv sind, und unterschätzen quasi ihre Armut. Zusammengenommen bedeutet das, dass sich viele Menschen subjektiv der Mittelschicht zuordnen, obwohl sie objektiv eigentlich entweder der oberen oder der unteren Einkommensschicht angehören.

Populistische Einstellungen durch negative Aussichten

Das hat konkrete politische Auswirkungen, wie weitere Analysen der Daten zeigen konnten. So ist es vor allen Dingen die Anhängerschaft der AfD, die übermäßig pessimistisch ist. Sie halten sich für weniger reich, als sie objektiv sind. AfD-Anhänger:innen haben außerdem eine wesentlich pessimistischere Vorstellung, was die Zukunftsaussichten der jüngeren Generation betrifft. Bei den Anhänger:innen anderer Parteien zeigt sich dieses Bild nicht. Man kann also sagen, dass subjektive Wahrnehmungen von Ungleichheit durchaus politische Konsequenzen haben können: Negative Aussichten – egal, ob objektiv gerechtfertigt oder nicht – sind ein Reservoir für (rechts-)populistische politische Einstellungen.

Was ebenfalls interessant ist: Die Befragten in der Studie unterscheiden nicht besonders stark zwischen Einkommens- und Vermögensungleichheit. Sie halten also das Ausmaß von Vermögensungleichheit für nicht stärker ausgeprägt als das Ausmaß der Einkommensungleichheit. Allerdings: Objektiv betrachtet ist die Vermögensungleichheit in Deutschland wesentlich stärker ausgeprägt. So besitzen nach einer anderen Studie die oberen fünf Prozent 41,6 Prozent des gesamten Vermögens (Immobilien, Wertpapiere, Finanzanlagen etc.), aber „nur“ 15,8 Prozent des gesamten Einkommens. 

Was ist zu tun?

Diese massive Unterschätzung der Vermögensungleichheit könnte vielleicht erklären, warum Vorschläge, die diese Ungleichheit direkt bekämpfen würden, politisch wenig Chancen haben. Reformvorschläge zur Erbschafts- oder Vermögenssteuer, die noch in den Bundestags-Wahlprogrammen von SPD und Grünen aufgetaucht waren, haben keine sichtbaren Auswirkungen auf die aktuelle Regierungspolitik der Ampel-Koalition. Politiker:innen fürchten sich wohl vor dem Widerstand der Erben und Wohlhabenden, obwohl – wie unsere Umfrage zeigt – viele fälschlicherweise davon ausgehen, dass sie von einer engagierteren Umverteilungspolitik in diesen Bereichen selbst betroffen wären.

Was ist also zu tun? In öffentlichen Debatten sollte stärker auf die besondere Bedeutung von Vermögensungleichheit hingewiesen werden. Es geht hierbei nicht nur um die Frage, wie viel zusätzliche Steuereinnahmen durch engagiertere Umverteilungspolitik generiert werden könnten, sondern auch um die politische Aufwertung der Frage der sozialen Gerechtigkeit. Wie wichtig diese ist, zeigen die anderen Ergebnisse unserer Studie: Wenn sich Menschen ungerecht behandelt fühlen (und zwar bis zu einem gewissen Grad unabhängig davon, ob sie es tatsächlich sind), schürt dies Ressentiments gegen „die Politik“ und vergrößert die Unterstützung für (rechts-)populistische Parteien.