„Hier dürft ihr frei pissen – größere Geschäfte bitte im Plumpsklo dort hinten“, sagt Jesse. Der Deutsche hat sich mit seiner Familie in der dänischen Pampa ein Bullerbü geschaffen. Urlauber:innen können daran teilhaben – im Häuschen, in dem seine Frau normalerweise Traumatherapien anbietet. Leider regnet es: Ohne Kühlschrank schimmeln die Lebensmittel, unsere Kinder nehmen das mit dem freien Pissen eindeutig zu wörtlich, irgendwie spielen plötzlich alle verrückt. Das Ganze nach einer Woche hartem Strampeln. Das hatte unserem 6,5-Jährigem auf dem eigenen Fahrrad täglich Höchstleistungen und der Dreijährigen im Anhänger zu viel Geduld abverlangt. Auf dem Weg hierhin hieß es zehnmal: neue Betten beziehen, dann wieder alles zusammenpacken und auf die Straße. Derweil war unser Motivationskredo bei jedem engen Camping-Hüttchen mit Kilometerdistanz zum Klo: Bald kommt der Ruhetag auf Bullerbü. Und jetzt das. Warum sind wir nicht zuhause geblieben?
In Konstanz ist das Bier halb so teuer wie in Dänemark. Die Temperaturen übersteigen die dänischen Höchstwerte von 20 Grad und beim Baden begegnet niemandem eine Qualle. Es gibt saubere Klos für große und kleine Geschäfte und einen Kühlschrank. Und wenn’s regnet: Ab in den Matsch, unsere Badewanne und alle Abenteuer von Asterix warten! Viele meiner Freund:innen haben es sich abgewöhnt, mit kleinen Kindern im Sommer zu verreisen. Recht haben sie. Für 2024 habe ich das fest geplant.
Die Komfortzone kann wachsen
Für 2023 stecke ich noch in einem Abenteuer, das für mich als Einzelmensch gut zu meistern wäre, aber für eine Familie eine Velo-Wikinger-Herausforderung ist. Vielleicht wollten wir Großen einfach nochmal stärker daran teilhaben, was Kids jeden Tag erleben: wachsen. Und dazu treibt es uns raus aus der sogenannten Komfortzone. Übrigens kein Hype-Wort aus einem Bullshit-Bingo, sondern ein altes Konzept. Man stelle sich eine Zielscheibe vor: Im Kern die Komfortzone mit sicheren Routinen und wenig Weiterentwicklung. Rund um diesen Kern zieht sich eine fette Barriere wie eine Mauer, auf deren anderer Seite die Wachstums- oder Lernzone wartet. Hier wird’s unbequem, bleibt jedoch packbar. Wer die neuen Herausforderungen meistert, vergrößert die eigene Komfortzone. Wer sich noch weiter hinauswagt und die Anspannung zu weit treibt, kann in die Panikzone geraten. Der Name ist Programm.
Einen Hauch davon spürte ich vor ein paar Tagen, als wir über eine Brücke gefahren sind, die zwei Inseln miteinander verbunden hat: Rasende LKW links neben uns auf der Fahrbahn, die nur durch einen steilen Absatz vom schmalen Fahrradweg getrennt war. Windböen ließen vor mir meinen Sohn auf seinem Fahrrad wie eine Kreuzotter schlingern. Ständig lief ich Gefahr, dass der linke Reifen des Anhängers mit meiner Tochter auf die Fahrbahn abrutscht. Ich brüllte: „Warum der Scheiß?“ und wollte sofort zurück an den Bodensee. Doch in dem Wind hat mich niemand gehört. Es ist nichts passiert und wir sind weitergefahren.
Vermeide Unterzucker um jeden Preis
Gerade bin ich in der Komfortzone. Nach 400 Fahrradkilometern schreibe ich diese Kolumne beim Zwischenstopp in Kopenhagen in einer Graffiti-überzogenen Kneipe. Auch der Rest suhlt sich in der Airbnb-Wohnung in der Komfortzone: Die Kids verursachen unverhältnismäßiges Chaos mit überdimensionalen Schießgeräten fremder Kinder. Der Vater recherchiert Fahrrad-Equipment. Dabei essen alle Kopenhagener Zimtschnecken und Lakritz.
Aus dieser Perspektive sehe ich die vergangenen Tage entspannter. Das Plumpsklo im Regen war doch hyggelig (dänisch für gemütlich) und die Brückensituation höchstens nervig. Morgen besorge ich wasserdichte Überschuhe für den Rückweg. Ich bilde mir ein, dass wir unsere Komfortzone als Familie schon ausgedehnt haben. Zumindest viel gelernt haben darüber, wie Regen die Streitanfälligkeit bei Unterzucker steigert. Vielleicht im Sommer 2024 doch wieder Radurlaub? Dann mit Zelt? Meinen Optimismus steigert, dass ich mich in dieser Kneipe wie mit 20 Jahren beim Erasmus-Auslandsjahr fühle. Was mir damals – ganz allein in der Fremde – erst noch unangenehm war, ist inzwischen zur Routine geworden: Ich bestelle mir ein Bier, ohne auf die Uhrzeit oder den Preis zu achten.
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