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Offene Wunden

Erst die Coronakrise, dann die Energiekrise: Die freie Kultur in Konstanz leidet. Wie sie jetzt versucht, gemeinsam aus der Depression zu kommen.
Jeremias Heppeler arbeitet als intermedialer Künstler, Autor und…

Eigentlich sollte dieser Text „Wunden lecken“ heißen. Und eigentlich wäre das doch ein griffiges Bild für den Status quo der Konstanzer Kulturszene gewesen, die nach harten Monaten, ach, was schreibe ich, nach wirklich erbarmungslosen Jahren endlich die finale Genesung einleiten kann.

Je länger jedoch diese Geschichte und die Gedanken drumherum rumorten, desto klarer wurde, dass die Coronakrise leider so (noch) nicht funktioniert. Sie ist eben noch nicht vorbei, egal wie oft das verkündet wird, wir sind vielmehr mittendrin. Die Kultur ist mittendrin in der Krise.

Im Kulturzentrum K9 weiß man genau, wie sich das anfühlt. „Von wenigstens halbwegs Normalität kann zurzeit nicht die Rede sein“, sagt Klaus Oechsle, Vorsitzender des K9-Vereins. In Zahlen heißt das: Im Vergleich zu 2019 hatte das Kulturzentrum 2020 und 2021 rund 78 Prozent weniger Veranstaltungen, dabei einen überproportionalen Rückgang der Besucher:innen von fast 95 Prozent.

Klaus Oechsle, Vorsitzender des Vereins K9. Bild: Archiv

„Die Stimmung ist ambivalent, alles da von Enttäuschung über Solidarbekundungen bis jetzt-erst-recht“

Klaus Oechsle, Vorsitzender des K9

Auch das erste Halbjahr 2022 zeige die Zurückhaltung beim Publikum deutlich, erklärt Oechsle. Die Coronakrise hat die freie Kulturszene dauerhaft unter ungeheuren Druck gesetzt. Nicht wenige sind daran zerbrochen. Gescheitert.

Im K9 will man nicht aufgeben, aber es gibt da schon große Fragezeichen Richtung Zukunft. „Die Stimmung ist ambivalent, alles da von Enttäuschung über Solidarbekundungen bis jetzt-erst-recht“, beschreibt Oechsle die Lage im Kulturzentrum an der Hieronymusgasse.

Ein paar Schritte über die Grenze sieht das nicht anders aus. Julian Fitze aus dem Kollektiv des Kreuzlinger Horst Klub, dessen subkulturelle Fühler bis nach Konstanz reichen, formuliert hierzu einige interessante Gedanken: „Bei Konzerten ist der Besucher:innenschnitt tiefer als in Vorjahren. Von manchen Stammgästen wissen wir, dass sie besonders aufpassen müssen, sich nicht zu infizieren. Andere sind beleidigt, weil wir die Coronamaßnahmen lange strikter ausgelegt haben, als es in der Schweiz vorgeschrieben gewesen wäre. Durch die Lockdowns und die Unsicherheit haben uns aber auch viele, die neu in der Stadt sind, noch gar nicht entdeckt.“

Selbst Tocotronic mussten ihre Tournee absagen

Und da wird klar: Die Krise hat auch etwas mit den Menschen gemacht – mit den Veranstalter:innen, mit den Künstler:innen und vor allem auch mit dem Publikum. Letzteres ist momentan mit Blick auf die drohenden Herbst- und Winterwellen besonders drastisch zu spüren.

Die Gruppe Tocotronic, seit Jahrzehnten eine der erfolgreichsten Indie-Bands des Landes, so eine Truppe mit nachhaltig eingeschworener und auch kaufkräftiger Fangemeinde, sorgte zuletzt für Aufsehen, weil sie die Herbsttermine ihrer Deutschlandtour komplett verschieben musste.

Kultur in der Corona-Krise: Hinter den Kulissen der Kleinkunstbühne

Grund dafür, das teilte die Band transparent via Social Media mit, waren die mangelnden Ticketverkäufe. Und egal mit wem man dieser Tage spricht, egal ob Kinobetreiber:innen, Galerist:innen, Veranstalter:innen, alle müssen dieser Tage um ihr Publikum kämpfen. Es ist überall weniger geworden. Zumindest im analogen, im echten Leben.

Das hat viel mit jedem von uns zu tun: Der Konzert- oder Kinobesuch ist für sehr viele von uns nicht mehr im Alltag verankert. Die Leichtigkeit ist weg. Obwohl es gegenwärtig keine Beschränkungen oder Verordnungen wie etwa eine Maskenpflicht mehr gibt. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Ein Ticketkauf fühlt sich dieser Tage wie eine unsichere Wette an

Zuvorderst steht selbstverständlich die Angst vor der Ansteckung, die im Falle eines schweren Verlaufs ernste gesundheitliche Konsequenzen nach sich zieht, im Falle eines leichten Verlaufs aber mindestens den Alltag sprengt.

Ein Ticketkauf fühlt sich dieser Tage wie eine unsichere Wette an. Zu hoch sind die Zahlen, zu präsent die Gefahr einer möglichen eigenen Ansteckung oder einer Absage. Und wir alle wissen, dass ein „Wir können ja auch spontan entscheiden“ eher selten dazu führt, dass man sich an einem verregneten Donnerstagabend aus der wohlig warmen Wohnung schält, um sich ein Konzert anzuschauen.

Apropos Konzert. Ziehen wir weiter in Richtung Kulturladen. „Generell ist es momentan schwer, Tickets zu verkaufen. Es läuft gerade eher bescheiden. Dennoch ist unser Anspruch und unsere Art zu arbeiten, nicht zu jammern und durchzuziehen“, sagt etwa Benjamin Kreibich vom Kula.

Klingt gut, aber wie soll das gehen in depressiven Krisenzeiten? „Etwas Mut, seine gewohnten Pfade zu verlassen und Veranstaltungen neu zu denken, neue Konzepte zu entwickeln, und genug Gelassenheit, um dabei noch ruhig schlafen zu können“, rät Kreibich.

„Etwas Mut, seine gewohnten Pfade zu verlassen und Veranstaltungen neu zu denken, neue Konzepte zu entwickeln, und genug Gelassenheit, um dabei noch ruhig schlafen zu können“,

Benjamin Kreibich, Kulturladen Konstanz

Die Corona-Zwangspausen nutzte das Kula-Team, um lange aufgeschobene Baustellen anzugehen – und um sich fachkundig auf den teils absurden Arbeitsalltag vorzubereiten. Sein Fazit bis hierher: „Viel Arbeit für die Tonne oder wenn denn Konzerte stattfinden konnten, dann nur unter wirtschaftlich katastrophalen Bedingungen und mit dem Vielfachen an Arbeitsaufwand. Natürlich gab es finanzielle Förderung, aber auch dies bedeutet nochmal Mehraufwand durch die Beantragung, die Durchführung und die Abwicklung.“

Ganz ähnlich beschreibt auch Christoph Sinz vom Zebra Kino die vergangenen Jahre, die das Zebra zu umfassenden Renovierungsmaßnahmen inklusive der Installation einer neuen Lüftungsanlage nutzte: „Dem Zebra geht es so weit verhältnismäßig gut. Auch wir hatten nach Corona nicht ganz so viele Besuchende mehr, allerdings geht der Trend seit Sommer deutlich nach oben.“

Musik in der Corona-Krise: Die Ärzte im Interview.

Sinz sieht das Kino auch deshalb gestärkt aus der Krise hervorgehen: „Wir wissen jetzt außerdem, was wir alles trotz widrigster Umstände und Bedingungen schaffen können, das stärkt natürlich auch den internen Zusammenhalt“.

Bemerkenswert: Außergewöhnliche Veranstaltungen mit Eventcharakter wie Festivals laufen im Kula, Zebra Kino und Horst Klub nach wie vor gut oder sogar besser als vor der Pandemie. Das Sorgenkind ist eher der Regelbetrieb.

Magnus Hesse aka Bayuk. Bild: Archiv

Insbesondere die Indie-Akteur:innen und Newcomer:innen leiden unter dieser Entwicklung. Magnus Hesse, der in Konstanz studierte und dieses Jahr als Bayuk sein zweites Album „Exactly The Amount Of Steps From My Bed To Your Door“ auf dem von Herbert Grönemeyer gegründeten Label „Groenland Records“ veröffentlichte, beschreibt das folgendermaßen: „Es gibt diese Acts aus der Zeit vor der Pandemie, die einfach live immer viele Leute ziehen. Aber abgesehen von diesen wenigen Acts, die in der Live-Nische etabliert sind, gehen die meisten Zuschauer:innen nur noch das Risiko einer Ansteckung ein, wenn sie sicher wissen, was sie bekommen. Bei Coldplay oder Rammstein. Das ist verständlich, aber auch schade, weil dadurch Newcomer oft nicht mehr die Bühne bekommen, um ein Publikum zu überraschen.“

So klingt Bayuk.

Tatsächlich hat sich die Branche vielleicht auch deshalb bereits konsequent an das Improvisieren gewöhnt. Die Konstanzer Autorin und Künstlerin Christine Zureich (ihr Roman „Garten, Baby!“ ist bei Ullstein erschienen) bemerkt: „Manchmal hab ich sogar das Gefühl, wir sind zu motiviert, zu flexibel: Hält man den brennenden Zirkusreifen höher, springen wir auch dort noch hindurch. Noch ein Kunststück und noch eins. Für jeden Förderantrag ein weiteres Projekt ausdenken, uff, mich schlaucht das ziemlich.”

Die Autorin Christine Zureich. Bild: Archiv

„Manchmal hab ich sogar das Gefühl, wir sind zu motiviert, zu flexibel: Hält man den brennenden Zirkusreifen höher, springen wir auch dort noch hindurch.“

Christine Zureich, Autorin

Ein wichtiger Gedanke: So entscheidend kreative Lösungen sind, so wichtig die Durchhalteparolen, so schnell vergisst man als Kulturschaffender oft die eigenen Grenzen. Wie auch, wenn das ständige Überspringen eben dieser überlebenswichtig wird.

Während die Kulturakteur:innen die eigenen Grenzen zerteilten, lernte das Publikum seine zu schätzen. Nicht wenige (der Autor dieser Zeilen inklusive) haben die ersten Lockdowns als eine Art Erleichterung wahrgenommen: keine Termine, keine sozialen Verpflichtungen, keine notwendigen Notlügen oder Ausreden.

Und genauso wie das unkomplizierte Zoommeeting nervige Sitzungen in real ersetzte, transformierte sich das Kino wie von selbst vom sozialen Event zum privaten Moment. Das Problem dabei ist nur: Zwischen den frisch abgesteckten Komfortzonen und dem aktiven Blasenbauen haben wir vergessen, wie magisch der richtige Film mit den richtigen Menschen auf der richtigen Leinwand sein kann.

Und hier offenbart sich ein entscheidender Punkt: Es ist zu kurz gedacht, dem Publikum einfach Faulheit vorzuwerfen. Viel eher kämpfen wir alle gegenwärtig mit realen Ängsten und realen Problemen.

Warum es zu kurz gedacht ist, dem Publikum einfach Faulheit vorzuwerfen

Die Auswirkungen der Coronakrise schließen sich gegenwärtig mit der Energiekrise kurz und es ergibt sich ein gefährlicher Status quo: Denn während Kunst und Kultur in den verschiedenen Lockdowns immer wieder in den Fokus rückten, leiden sie jetzt, wo der Krisenzustand zum allgegenwärtigen „Normalzustand“ (mit ganz dicken Anführungszeichen) wird, leise. 

Zum Ende braucht dieser Text nun definitiv noch einen Twist. Einen Dreh. Denn der grundlegend eher negative Unterton, der sich hier zwischen die Zeilen geschlichen hat, der wird unseren kreativen und motivierten Interviewpartner:innen nicht gerecht.

Denn die freie Konstanzer Kulturszene, das hört man immer wieder durch, ist in der Krise näher zusammen gerückt. Durch Kooperationen und Kollektiv-Projekte, wie etwa die von Christine Zureich initiierte Ukraine-Spendenaktion „Kunst hilft helfen“, im Zuge derer 47 Kunstwerke für insgesamt 14.000 Euro versteigert wurden.

Oder durch das NUN-Magazin, das regelmäßig vor allem Konstanzer Autor:innen und Künstler:innen präsentiert. Auch das lokale Kulturamt unterstützt nach wie vor mutig und offen die lokale Szene.

Barbara Marie Hofmann. Bild: Archiv

„Ich hoffe, dass beim Publikum ein Hunger entsteht und anhält auf andere, fordernde Kunst. It should be fun even if it’s heavy stuff.“

Barbara Marie Hofmann, Künstlerin & Autorin

Die Künstlerin und Autorin Barbara Marie Hofmann unterstreicht diesen Gedanken: „Ich nehme die freie Kulturszene am See – auch nach der Krise – als sehr divers und bewegt wahr. Zum einen gibt es nun mehr Aufrufe für Kulturschaffende und doch sehe ich noch oft, dass vor allem beginnende Kulturschaffende nicht wissen, wo sie Unterstützung für ihre Ideen finden. Dafür ist es wichtig, ein Netzwerk zu bilden und es weiterzuentwickeln. Mehr miteinander.“

Die Szene ist offen und wuselig, kooperativ und sozial. Aber in Zukunft wird das nicht ausreichen. Jede Szene, jede Sparte braucht Publikum. Hofmann meint dazu: „Die Sache mit der Zukunft ist ja, dass man sie nicht grundlegend und mit Sicherheit planen kann. Ich hoffe, dass beim Publikum ein Hunger entsteht und anhält auf andere, fordernde Kunst. It should be fun even if it’s heavy stuff.“

Und das trifft den Nagel auf den Kopf: Gerade abseits der Mainstream-Unterhaltung, die ohnehin funktioniert, gilt es beim Publikum einen Hunger für andere Stoffe und neue Herangehensweisen zu wecken.

Bei aller Kreativität der Szene gestaltet sich die Suche nach wirklich sozialen Lösungsansätzen innerhalb der Kulturbranche eher schwierig. Gerade in den Nischen der freien Szene ist es ohnehin schon eine stetige Herausforderung, genug Geld für den Normalbetrieb aufzubringen – viel Spielraum bleibt dabei in den seltensten Fällen. Umso spannender erscheint es, dass es in Konstanz einen vielversprechenden Ansatz gibt: die Kulturtafel, die unter dem Motto „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ nach dem Tafelprinzip gespendete Karten von Privatpersonen und Kulturinstitutionen an Menschen mit geringem Einkommen verteilt. Ein einfaches, aber hocheffektives Prinzip, das dringend noch mehr Aufmerksamkeit – und vor allem auch Kartenspender braucht. Im Idealfall könnten durch die Kulturtafel mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Einerseits ermöglicht der Ansatz Menschen ein Kulturerlebnis, für die solche Sonderausgaben normalerweise nicht möglich sind, andererseits könnten damit auch die Musikclubs und Bühnen gefüllt werden.

Schlussendlich sind wir hier alle gefragt: als Unterstützer:innen und Verteiler:innen. Als Konzert- und Kinobesucher:innen. Schaut, hört, kauft und konsumiert Kunst und Musik auch abseits der Big Player. Bildet Banden und Communitys. Unterstützt vor allem auch die lokale Szene. Unterstützt euch gegenseitig. Kauft Karten. Spendet Karten.

An manchen Tagen reicht auch ein digitaler Kommentar, ein Like, ein einfaches Weiterleiten. Springt (insofern ihr euch sicher und gesund fühlt) über euren Schatten. Seid mutig und entdeckungsfreudig.


Musikfestivals nach der Corona-Pandemie.