Unter Druck: Wie der Protest in den Gemeinderat kam

Erst die Hoteliers, dann die Sportvereine: Wenn es ums Geld geht, tragen Interessengruppen in Konstanz ihren Protest gegen politische Pläne immer häufiger direkt in den Gemeinderat. Verändert das die Entscheidungen im Rat?
Das Bild zeigt viele Menschen, die gegen Kürzungen im Sport in Konstanz mit Plakaten demonstrieren.
Sportvereine zeigen Flagge: Bis zu 600 Mitglieder aus verschiedenen Konstanzer Sportvereinen demonstrieren Mitte November gegen Sparpläne der Stadt. Bild: Friederike Fiehler

Es waren beeindruckende Szenen, die sich am 16. November vor dem Restaurant Hedicke’s Terracotta abspielten. Drinnen tagte der Ausschuss für Bildung und Sport und beriet mögliche Kürzungen für die städtische Sportförderung. Draußen protestierten bis zu 600 Mitglieder aus Konstanzer Sportvereinen genau dagegen. Auf Plakaten stand „Wir brauchen Sport!“ oder „Wir brauchen unser Training!“ und die vielen jungen Gesichter zwischen all den Demonstrant:innen wirkten ernsthaft empört von den städtischen Sparplänen.

Einige Wochen zuvor ein ähnliches Spiel: Hoteliers machten ihrem Ärger Luft gegen die geplante Klima- und Tourismusabgabe der Stadt. Auch hier wurde der Protest nicht auf die Straße, sondern direkt zu den Adressaten geliefert – den Stadträt:innen. Was macht das mit den gewählten Vertreter:innen? Ändern sie angesichts dieses unmittelbar spürbaren Unmuts ihre Entscheidungen? Und wenn ja, was bedeutet das für demokratische Prozesse? Gewinnt dann immer der, der am besten mobilisieren kann?

„Der ‚Druck der Straße‘ darf die freiheitlich-demokratischen Standards nicht ersetzen. Wenn also auf die Menschen gehört wird, und das empfehle ich, ist es unabdingbar, auf die ernsthaften, nachprüfbaren Argumente zu hören. Und zu klären: Was habe ich bisher nicht gewusst? Was habe ich bisher nicht ausreichend bedacht? Sind meine bisherigen Kenntnisse und Abschätzungen den Petenten auch so bekannt? Oder sind es tatsächlich Partikularinteressen, die gegen den Gemeinsinn verstoßen und damit andere Menschen beeinträchtigen?

Dann folgt meine freie Entscheidung im Gemeinderat oder im Kreistag. Ohne Emotionen! Also ohne Einfluss, ob mir die Inhalte und die Art der Demo gefallen, passen oder eben auch nicht. Nicht selten danke ich den Engagierten (besonders Jugendlichen) für ihr Mitdenken, ihren Mut, ihren Zeitaufwand.

So wird ‚Demokratie‘ und auch ‚Freiheit‘ besser praktiziert als nur passiv erlebt. Das ist gerade heute entscheidend. Allerdings gehört dazu dann die Akzeptanz der Demonstrierenden, dass nachher die demokratisch gewählten Vertreter:innen entscheiden!“

Wolfgang Müller-Fehrenbach sitzt für die CDU im Konstanzer Gemeinderat.

Katharina Holzinger, Politikwissenschaftlerin und Rektorin der Universität Konstanz hat sich viel mit solchen Mechanismen in der Politik befasst. „Natürlich lassen sich Politiker:innen von so etwas beeinflussen, aber es gibt immer auch Gegeneinflüsse über andere Kanäle, deshalb ist es schwer zu sagen, welche Einflussform den höchsten Wirkungsgrad hat“, sagt Holzinger im Gespräch mit karla.

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Studien zu dem konkreten Thema seien ihr nicht bekannt, aber sie vermutet, dass ein Protest in physischer Präsenz, der den Rät:innen wortwörtlich im Nacken sitzt, eine höhere Wirksamkeit hat als beispielsweise Unterschriftenlisten.

Katharina Holzinger, Politikwissenschaftlerin & Rektorin der Uni Konstanz. Bild: Archiv

„Natürlich lassen sich Politiker:innen von so etwas beeinflussen, aber es gibt immer auch Gegeneinflüsse über andere Kanäle.”

Katharina Holzinger, Politikwissenschaftlerin und Rektorin der Universität Konstanz

Das passt zu einer grundsätzlichen Annahme der Demokratietheorie. Demnach weichen Entscheidungen, die von Bürger:innen gemeinsam in einer physischen Versammlung vor Ort getroffen werden, weniger voneinander ab als Entscheidungen, die an der Wahlurne von einzelnen Bürger:innen getroffen werden. Bedeutet: Wenn wir zusammenkommen, sind wir uns einiger. Das klingt aber heimeliger, als es ist.

Zwar kann physische Nähe dafür sorgen, dass wir die Position eines Andersdenkenden besser verstehen können. Sie kann aber auch negative Auswirkungen haben, weil der Protest als übergriffig und unverhältnismäßig wahrgenommen wird und dann eher Ablehnung hervorruft.

Nähe kann auch sozialen Druck aufbauen

Zudem kann Nähe auch bewirken, dass sozialer Druck aufgebaut wird, der Meinungsverschiedenheiten unterdrückt, weil einzelne Teilnehmer:innen sich nicht trauen, ihre von der Mehrheit abweichende Meinung zu formulieren.

Überträgt man das auf die Proteste im Ratssaal, dann könnten sie bei den Stadträt:innen also Zustimmung wie Ablehnung hervorrufen.

„Ich finde es super, wenn die Bürger in den Ratshallen auftauchen, das ist gelebte Demokratie! Für meine Entscheidung machen solche Proteste dann keinen Unterschied, wenn ich eine andere Meinung vertrete als die protestierende Bürgerschaft. Dass ich unter Druck meine Meinung ändern würde – eher nicht. Druck beuge ich mich nicht, rationalen Sachargumenten aber schon.

Deutlich problematischer ist es für mich, wenn die Öffentlichkeit eine Meinung vertritt, die ich ohnehin schon hatte. Das macht die Rechtfertigung schwieriger und erhöht den Begründungsaufwand. Die Erklärung muss umfangreicher ausfallen, damit nicht der Eindruck entsteht, dass ich mich dem Druck der Masse beuge.

Grundsätzlich gilt: Sich selbst und seine Position zu hinterfragen, ist immer eine gute Idee. Keine gute Idee ist es, das eigene Fähnlein nach dem Wind der Öffentlichkeit auszurichten. Es liegt in der Verantwortung von uns Räten, Interessen nicht nur aufgrund einer Mobilisierung nachzugeben. Die Lautstärke ist irrelevant, wenn man sich Sachargumenten stellt.“

Simon Pschorr sitzt für die Linke Liste im Konstanzer Gemeinderat.

Wie sich physische Nähe auf politische Entscheidungsprozesse auswirken kann, das haben die beiden Politikwissenschaftler:innen Alice el-Wakil und Michael Strebel für den Fall der Schweizer Gemeindeversammlungen offengelegt. Anhand einer Analyse über Gemeindefusionen in der Schweiz seit 1999 zeigen sie, dass bei Urnen-Entscheidungen ohne physische Präsenz eine größere Uneinigkeit herrscht als bei Versammlungsentscheidungen.

Was bedeutet das nun für den Protest im Konstanzer Gemeinderat? „Erst einmal ist das eine legitime Form der Stimmerhebung“, sagt Michael Strebel im Gespräch mit karla. „Die Menschen hatten das Gefühl, dass ihre Anliegen zu wenig gehört wurden im Rat, und haben deshalb entschieden, dass sie aktiv werden müssen, um gehört zu werden. Das ist Demokratie“, so Strebel weiter.

Michael A. Strebel, Postdoc am Institut für Politikwissenschaft Lausanne. Foto: Flurin Bertschinger

„Hier sind dann auch die Politiker:innen gefragt, jene Interessen zu repräsentieren, die sich nicht so lautstark vertreten können.“

Michael Strebel, Politikwissenschaftler

Dass diese Protestform etwas mit den gewählten Vertreter:innen macht, erscheint Alice el-Wakil wahrscheinlich: „Schon allein deshalb, weil wir unser Verhalten, unsere Argumente und Begründungen für unsere Entscheidungen oft an die Personen anpassen, die sich im selben Raum befinden.“ Zum Problem wird es für sie erst dann, wenn eine gesellschaftliche Gruppe langfristig nicht gut vertreten wird in demokratischen Gremien.

„In der Theorie gilt das demokratische Ideal, dass alle zu Wort kommen können“, erklärt el-Wakil, die auch ein Jahr am Exzellenzcluster „Soziale Ungleichheit“ der Universität Konstanz geforscht hat. Demokratie beruhe darauf, dass die Ungleichheiten, die es gebe, in der Gesellschaft ausbalanciert werden können.

Stellt sich aber irgendwann heraus, dass immer nur dieselben Gruppen Protest mobilisieren können, während anderen Gruppen das nicht gelingt, entsteht ein problematisches Ungleichgewicht. „Hier sind dann auch die Politiker:innen gefragt, jene Interessen zu repräsentieren, die sich nicht so lautstark vertreten können“, sagt Michael Strebel.

„Natürlich beeinflusst mich das, wenn hundert Leute im Zuschauerraum sitzen. Auch, wenn es weniger sind, hat das Einfluss. Es zeigt mir, wie wichtig die kommende Entscheidung für einzelne Leute oder Gruppen ist. Im Prinzip finde ich es positiv, wenn das Publikum so Anteil nimmt und sich demokratisch einsetzt. Auch Demonstrationen sind da ein Ausdruck von lebendiger Demokratie. Der Einfluss ist aber nicht immer im Sinn der Demonstranten.

Wenn die Forderungen berechtigt erscheinen, ist das positiv. Ich habe aber auch oft erlebt, dass Forderungen gestellt wurden, die mich nur noch mehr darin bestärkt haben, gegen das Anliegen zu stimmen, wenn mir klar wurde, wie egoistisch manche Leute für ihre partikulären Interessen auf die Barrikaden gehen.

Wir sind diese Diskussionen gewohnt. Solange sie fair sind und sich alle die Argumente der anderen Seite anhören, ist das eine gute Sache. Deswegen bin ich ja im Gemeinderat. Ich will mir die Probleme anhören und verstehen und dann möglichst vernünftig und gerecht entscheiden. Emotionen gehören auch bei mir dazu, wenn ich entscheiden muss.“

Heinrich Everke sitzt für die FDP im Konstanzer Gemeinderat.

An diesem Punkt trifft man dann auf ein grundsätzliches demokratisches Dilemma: Wie organisiert man Teilhabe so gerecht, dass nicht immer nur die gewinnen, die gut mobilisieren können, und jene fernbleiben, die es sich nicht leisten können oder wollen, teilzunehmen? „Politik muss hier offen sein für Veränderungen und sich zum Beispiel im Ablauf und der Terminierung auch an Lebensgewohnheiten und Lebensmodelle einer jüngeren Generation anpassen“, glaubt Michael Strebel.

Das Ziel müsse sein, Barrieren für die Teilnahme am politischen Prozess zu verringern und die demokratische Inklusion zu stärken, ist Alice el-Wakil überzeugt.

Das Foto zeigt die Politikwissenschaftlerin Alice el-Wakil.
Die Politikwissenschaftlerin Alice el-Wakil. Bild: Archiv

„Das Ziel muss sein, Barrieren für die Teilnahme am politischen Prozess zu verringern und die demokratische Inklusion zu stärken.”

Alice el-Wakil, Politikwissenschaftlerin

Am Ende kann ein im Rat formulierter Protest auch ein Korrektiv sein. Denn: Politiker:innen tun sich offenbar oft schwer damit, die öffentliche Meinung richtig einzuschätzen.

Das haben Studien in den USA gezeigt, an denen der Konstanzer Politikwissenschaftler Christian Breunig beteiligt war. Breunig hat gerade ein Forschungsstipendium am Center for Advanced Studies in the Behavioural Sciences an der Stanford University.

„Außerdem neigen Politiker:innen eher dazu, die öffentliche Meinung konservativer einzuschätzen, als sie tatsächlich ist. Ein wichtiger Mechanismus hinter diesen Befunden ist, dass Politiker:innen ihre eigene Meinung nutzen und diese auf die öffentliche Meinung übertragen“, schreibt Breunig auf Nachfrage von karla.

„Politiker:innen neigen dazu, die öffentliche Meinung konservativer einzuschätzen, als sie tatsächlich ist.“

Christian Breunig, Politikwissenschaftler

„Ob man als Stadtrat eher geneigt ist, Demonstrierenden zuzustimmen, hängt einerseits natürlich von der Persönlichkeit des Empfängers, also mir (Naturwissenschaftler, verantwortungsethisches Herangehen, eher Sachargumenten zugeneigt) ab. Bei mir aber andererseits auch davon, wie aggressiv und emotional die Anliegen vorgebracht werden. Werde ich dabei persönlich oder auch als Angehöriger einer Gruppe/Fraktion angegriffen, fällt es mir erheblich schwerer, den Demonstrierenden zuzustimmen.

Am extremsten empfand ich diesen Zwiespalt in der Diskussion um den Klimaschutz in Konstanz. Obwohl ich mich mit meiner Fraktion seit spätestens 2007 aktiv politisch für dieses Thema engagiere (mit drei klaren Kriterien für Entscheidungen bei Maßnahmen: messbar, machbar und wirkungsvoll), sah ich mich und meine Fraktion plötzlich von den Aktivisten von Fridays for Future (FfF) angegriffen und aufs Übelste diffamiert (Stichwort: „wer hat uns verraten…“), obwohl es weder in der Sache noch im politischen Verhalten einen Verrat gab.

Da fiel es schon schwer, trotzdem wir uns mit unserer heute für ganz Konstanz geltenden Klimaschutzstrategie mit einer einstimmigen Entscheidung durchgesetzt hatten, am folgenden Tag zur Pressekonferenz von FfF zu gehen und einige Punkte klarzustellen – was auch einigermaßen gelang.

Ich muss aber zugeben, beinahe hätten sie es geschafft, mich vom Partner zu ihrem Gegner (nicht zum Gegner des Klimaschutzes natürlich) zu machen; ich musste meine Emotionen sehr stark zügeln. Letztlich hat es meine Entscheidungen dann in der Sache nicht beeinflusst, in meinem Gefühl dabei jedoch sehr wohl.

Eine klar positive Wirkung hatte es bei mir dagegen, als Bürgerinnen und Bürger aus Stadelhofen im Gemeinderat ihre Bedenken gegen eine aktuelle Sanierungsplanung vorgebracht haben. Wir haben das zum Anlass genommen, in Stadelhofen mit den Anwohnern einen Ortstermin durchzuführen und anschließend Änderungen bzw. Ergänzungen in der Planung zu beantragen. Die Stimmung war auch da aufgeheizt und damit die Betroffenheit deutlich zu spüren, jedoch gab es keine persönlichen Angriffe und so war eine auch auf emotionaler Ebene positive Kooperation in der Sache möglich.“

Jürgen Ruff sitzt für die SPD im Konstanzer Gemeinderat.

Für die lokale Demokratie heißt das: Die Proteste im Konstanzer Gemeinderat können ein guter Realitätscheck für Kommunalpolitik sein. Zumindest dann, wenn sie faktenorientiert geäußert werden und es der Politik gleichzeitig gelingt, auch jene zu hören, die sich nicht so laut zu Wort melden können.