Julia Friedrichs (43, Bild: Andreas Hornoff) hat schon mehrere Bücher zum Thema Soziale Ungleichheit verfasst. Sie arbeitet auch als Autorin von Dokumentationen und Reportagen für ARD, WDR und das ZDF. Für die Reihe „docupy Ungleichland / Heimatland / Neuland“ erhielt die Journalistin zahlreiche Preise – unter anderem den Grimme-Preis und den Otto-Brenner-Preis. Derzeit arbeitet sie an einem neuen Buch über Reichtum am Exzellenzcluster „Soziale Ungleichheit“ der Universität Konstanz. Am 14. Februar stellt sie im Zebra-Kino ihren Film „Ungleichland“ vor.
karla: Frau Friedrichs, wie viel Ungleichheit herrscht in Deutschland?
Julia Friedrichs: Die Ungleichheit ist in Deutschland insbesondere bei Vermögen und Lebenschancen sehr groß. Beim Einkommen ist sie das bei den Markteinkommen – also bei dem, was die Leute an Bruttoeinkommen bekommen. Aber da verteilt der Staat dann sehr stark durch seine Sozialleistungen um. Wenn wir uns die verfügbaren Einkommen anschauen, ist Deutschland ähnlich ungleich wie andere europäische Länder. Beim Vermögen und bei den Chancen – also der Frage, wer Erfolg im Leben hat und wer nicht – ist Deutschland allerdings überdurchschnittlich ungleich im Vergleich zu anderen Industrieländern.
<!– Paywall –>Wie ließe sich daran etwas ändern?
Deutschland hat zwei ganz große Probleme: Zum einen hat die untere Hälfte der Bevölkerung so gut wie kein Vermögen oder Rücklagen. Sie besitzt keine Immobilien und ist, wie wir jetzt sehen, Krisen relativ schutzlos ausgeliefert. Eine Maßnahme dagegen könnte sein, den Menschen dabei zu helfen, Vermögen aufzubauen. Zum Beispiel, indem man sich überlegt, wie auch Menschen mit geringem Einkommen Immobilien erwerben können oder wie Menschen mit niedrigem Einkommen mehr netto vom brutto behalten, indem man zum Beispiel ihre Steuern senkt oder die Sozialabgaben später einsetzen lässt. Das führt zum Zweiten, was man machen könnte: Man könnte die Finanzierung des Staates so umbauen, dass Vermögen mehr und Arbeit weniger beiträgt. Das heißt, dass man Vermögen belastet und Arbeit entlastet.
„Wenn die untere Hälfte der Bevölkerung das Gefühl hat, egal wie sehr sie sich anstrengt, sie niemals wird Wohlstand erreichen können, dann haben wir ein Problem.“
Julia Friedrichs, Journalistin
Warum passiert das nicht längst? Eigentlich müsste es doch das Ziel sein, mehr Gleichheit in der Gesellschaft herzustellen.
Das ist eine sehr spannende Frage, die mich auch sehr beschäftigt. Es gibt mit den Grünen, der SPD und den Linken drei Parteien, die das in ihren Wahlprogrammen schon lange fordern. Sei es durch eine Vermögenssteuer oder eine Erhöhung der Erbschaftssteuer. Diese Parteien setzen das in Koalitionsverhandlungen aber nie durch. Das heißt, es scheint kein Punkt zu sein, den sie für so wesentlich halten, dass sie sich dafür verkämpfen. Nun mag es dafür zwei Gründe geben: Zum einen, dass sie denken, es ist nicht durchsetzbar. Zum anderen aber, dass es ihnen vielleicht gar nicht so wichtig ist, wie in den Wahlprogrammen behauptet wird. Die Antwort darauf kenne ich noch nicht.
Julia Friedrichs stellt am Dienstag, 14. Februar, 18.30 Uhr, ihren Film „Ungleichland“ aus dem Jahr 2020 im Zebra-Kino vor. Zusammen mit dem Zebra-Kino und dem karla Magazin lädt das Forschungszentrum „The Politics of Inequality“ der Universität Konstanz dazu ein, nach dem Film mit der Regisseurin Julia Friedrichs, Prof. Marius R. Busemeyer (Universität Konstanz), mit der Aktivistin für Vermögensgerechtigkeit Stefanie Bremer (taxmenow) und Gästen aus der Öffentlichkeit und der Stadt Konstanz gemeinsam zu diskutieren. Die Veranstaltung wird moderiert von Moritz Schneider, Geschäftsführer und Leiter Partizipation beim karla Magazin. Der Eintritt ist frei. Mehr zum Termin auch in unserem karla kalender.
Wenn die Lage nun ist, wie sie ist, sich aber nichts daran ändert, weil der politische Wille zur Veränderung fehlt, stellt sich die Frage: Wie lange kann ein Land solche Ungleichheiten aushalten?
Ich glaube, wir nähern uns der Grenze, an der es wirklich problematisch wird. Erstmal gilt: Ungleichheit ist nichts per se Schlechtes. Zumindest dann, wenn sie zwei Bedingungen erfüllt: Ungleichheiten werden dann akzeptiert, wenn sie auf eigener Anstrengung beruhen. Wenn ich sehe, dass sich jemand wahnsinnig reingehängt oder eine besondere Idee hatte, dann ist man eher bereit, eine Ungleichheit zu akzeptieren, als wenn – wie es in Deutschland derzeit vor allem der Fall ist – Ungleichheit vor allem dadurch entsteht, dass man in die richtige Familie geboren wurde.
„Ungleichheit ist nichts per se Schlechtes.“
Julia Friedrichs, Journalistin
Woran zeigt sich das?
Die Hälfte des Vermögens in Deutschland wird inzwischen nicht mehr erarbeitet, sondern vererbt. Das heißt, wir bewegen uns auf eine Art dynastisches Vermögen zu. Das ist in einem Land, das behauptet, eine Leistungsgesellschaft zu sein, ein Problem. Das zweite Kriterium, das Ungleichheit erfüllen muss, um akzeptiert zu werden, ist, dass die Abstände nicht zu groß werden dürfen.
Jeder muss theoretisch die Chance haben nach vorne zu kommen.
Genau. Wenn wir uns vorstellen, man ist in einem Wettbewerb und jemand startet zehn Meter vor einem, dann ist das ein Ansporn. Man versucht, den Konkurrenten zu erreichen, versucht schneller zu rennen und an ihm dran zu bleiben. Wenn aber jemand zwei Stadionrunden vor einem startet, dann ist offensichtlich, dass dieser Wettbewerb witzlos ist, dass man den anderen niemals erreichen kann, egal wie sehr man sich anstrengt.
Was bedeutet solch ein ungleicher Wettbewerb für die Gesellschaft?
Wenn die untere Hälfte der Bevölkerung genau dieses Gefühl hat, dass, egal was sie tut, egal wie sehr sie sich anstrengt, sie niemals zu den Vermögenden wird aufschließen können, sie niemals wird Wohlstand erreichen können, dann haben wir ein Problem. Denn dann treten sie diesen Wettbewerb erst gar nicht mehr an. Das heißt, dass Menschen aufgeben, sich abschotten und dass Menschen sagen, dieses Land ist nicht mehr meins, dieser Leistungswettbewerb, den wir da ankündigen, ist eine Farce.
„Die Hälfte des Vermögens in Deutschland wird inzwischen nicht mehr erarbeitet, sondern vererbt.“
Julia Friedrichs, Journalistin
Wie weit sind wir in dieser Entwicklung im Jahr 2023?
Leider haben wir uns auf diesem Weg schon relativ weit bewegt, wenn man sieht, wie gering vor allem unter ärmeren Menschen das Vertrauen in die Demokratie ist, das Vertrauen auch darin, dass Parteien sich für sie einsetzen. Und das Schlimme ist: Das ist nicht nur ein Gefühl. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Dinge, die reiche Menschen wollen, eine viel größere Wahrscheinlichkeit haben, auch in der Politik umgesetzt zu werden.
Und das führt direkt zu einer massiven Politikverdrossenheit.
Ja. Wir sehen, dass die Zahl der Nichtwähler in diesen Gruppen enorm ist. Das heißt, sie nehmen vielfach nicht mehr teil in der Demokratie. Das ist natürlich ein ganz, ganz großes Warnsignal. Es kann sein, dass auch der Zuspruch zu populistischen Parteien darin begründet liegt. Da gibt es zwar noch nicht die letztgültige Erklärung, aber in Regionen, in denen Menschen wenig Chancen haben, zeigt sich, dass der Zustrom zu populistischen Parteien besonders hoch ist. Gleichzeitig sehen wir auch auf der Seite der Vermögenden eine gewisse Art der Abkopplung. Die Zahl der Privatschüler hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Das heißt, immer mehr Menschen sagen, wir kaufen uns ein paralleles Schulsystem. Das sind Warnzeichen, die man sehr, sehr ernst nehmen sollte.
„Es gibt Studien, die zeigen, dass die Dinge, die reiche Menschen wollen, eine viel größere Wahrscheinlichkeit haben, auch in der Politik umgesetzt zu werden als das, was ärmere Menschen wollen.“
Julia Friedrichs, Journalistin
Bei allen Sorgen, die es gibt – sehen Sie auch Anlass zu Hoffnung?
Teils, teils. Die Erhöhung des Mindestlohns war erstmals ein Schritt, die unteren Einkommen ein bisschen höher zu heben. Das reicht überhaupt nicht aus, um das wettzumachen, was in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen ist für Menschen mit niedrigem Einkommen. Aber es ist ein erster Schritt. Was wir auch sehen, ist, dass das Bewusstsein für das Thema viel größer geworden ist. Es ist vielen klarer geworden, weil es auch in den eigenen Alltag hineinfließt. Wenn man sich zum Beispiel überlegt, wer sich eigentlich noch eine Immobilie in einer größeren oder teuren Stadt wie Konstanz leisten kann: Das ist ohne Vermögen in der eigenen Familie sehr viel schwerer, manchmal sogar unmöglich. Das heißt, die Menschen spüren diese Ungleichheit, die vorher ganz lange abstrakt war, jetzt unmittelbarer. Nichts geändert oder sogar noch verschärft hat sich die Lage bei den ganz großen Vermögen. Wir haben gesehen, dass in den letzten zwei Jahren die Milliardäre in Deutschland ihr Vermögen extrem vergrößern konnten. Allein die Obersten haben nochmal 100 Milliarden dazu gewonnen. Die Dynamik am oberen Ende der Skala ist extrem groß. Vermögen wachsen sehr stark und sehr schnell, das ist wie eine Spirale. Von selbst hört das nicht auf.
Das heißt, sie richten einen klaren Appell an die Politik, einzugreifen?
Ja. Zumindest dann, wenn man das als problematisch empfindet, sollte man jetzt handeln. Wenn man das nicht problematisch findet, dann soll man das aber auch klar sagen. Es ist wichtig, dass man das nochmal versteht: Das obere Prozent der Bevölkerung besitzt ein Drittel des Gesamtvermögens. Die untere Hälfte besitzt ein Prozent davon. Man kann sagen, das ist ein Zustand, den man gut findet. Man findet, das ist das Ergebnis unseres Systems. Das ist eine Position, die man haben kann. Schwierig finde ich die Position, es auf der einen Seite zu beklagen, aber auf der anderen Seite keine Maßnahmen zu ergreifen, um gegenzusteuern.
„Viele Menschen spüren diese Ungleichheit bei den Vermögen, die vorher ganz lange abstrakt war, jetzt ganz unmittelbar.“
Julia Friedrichs, Journalistin
Derzeit sind sie zu Gast in Konstanz. Wie sieht es mit Ungleichheit in Konstanz aus? Wie erleben Sie die Stadt?
Im Vergleich mit vielen anderen Gegenden, in denen ich schon recherchiert habe, wirkt Konstanz auf den ersten Blick extrem reich. Die Preise sind sehr hoch, ich habe mich gefragt, wer sich das eigentlich leisten kann. Die Altstadt wirkt ein bisschen wie eine Puppenstube. Der Wohlstand ist sichtbar. Zumindest auf den ersten Blick sieht man die Ecken nicht, wo die Menschen mit weniger Geld leben.
Sie sind als „journalist in residence“ hierher gekommen und arbeiten an der Universität Konstanz. Was machen Sie da genau?
An der Universität gibt es ein sehr gutes Forschungsprogramm zu Ungleichheit und einen Exzellenzcluster. Das Ziel des „journalist in residence“-Programms ist, dass Journalisten die Forschung kennenlernen, auch teilweise in die Originaldaten und die Befragung hineinschauen können. Da interessiert mich insbesondere der Aspekt des Vermögens. Hier habe ich die Gelegenheit, direkt mit den Wissenschaftlern darüber zu sprechen, damit die Erkenntnisse, die da gesammelt werden, über Journalisten wie mich in die Gesellschaft hinein getragen werden.
„Die Preise sind sehr hoch in Konstanz, ich habe mich gefragt, wer sich das eigentlich leisten kann, hier regelmäßig auszugehen.“
Julia Friedrichs, Journalistin
Wenn Sie sich jetzt hier vor Ort mit Vermögen und Reichtum beschäftigen, wird Konstanz eine Rolle in Ihrem neuen Buch spielen?
Das weiß ich noch nicht, da ist die Recherche noch zu sehr am Anfang. Aber es wäre auf jeden Fall ein geeigneter Schauplatz.
Werfen wir zum Schluss noch mal eine Perspektive auf die Entwicklung unserer Gesellschaft angesichts all der Verteilungskämpfe, die es gibt. Wohin entwickelt sich das alles?
Wir stehen gerade an einer Weggabelung. Weil für alle offenkundig ist, dass die Menschen, die die Arbeit leisten, wesentlich für das Funktionieren des Ganzen sind. Auch Unternehmern bringt es nichts, wenn sie zwar Millionen auf den Festgeldkonten und in ihren Anlagedepots haben, ihnen aber die Menschen fehlen, die in ihren Läden stehen, die Menschen, die die Logistik machen, die Menschen, die reinigen. Meine Hoffnung wäre, dass wir es schaffen, das Ganze wieder so zu organisieren, dass diejenigen, die etwas zu der Gesellschaft beitragen, auch angemessen dafür honoriert werden, und einen angemessenen Teil des Wohlstands bekommen.
„Schwierig finde ich die Position, soziale Ungleichheit auf der einen Seite zu beklagen, aber auf der anderen Seite keine Maßnahmen zu ergreifen, um gegenzusteuern.“
Julia Friedrichs, Journalistin
Und wenn nicht?
Alles andere ist auch eine Vision des Landes, in der am Ende niemand leben will. Wir kennen das aus Lateinamerika, wenn die Ungleichheit ein bestimmtes Maß überschritten hat, ist es für niemanden angenehm. Auch für die Vermögenden nicht. Wenn man nicht in Parks gehen kann, sich nicht sicher fühlen kann; wenn man nur in abgesicherten Wohnanlagen wohnen kann, das ist kein Leben, was wir uns vorstellen. Deshalb haben wir da auch einiges, was sich zu verteidigen lohnt, und mein Wunsch wäre, dass da alle mitziehen.
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