Es ist 15:21 Uhr an einem Mittwochnachmittag. Langsam biegt die Linie 908 an der Kreuzung des Zähringerplatzes zur Haltestelle ein. Endziel „Landschlacht, Schweiz“, prangt es in gelben Buchstaben über der Fahrerkabine. Zischend öffnen sich die Türen. Es steigen nur vier weitere Passagier:innen in den Bus: eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz und Brille, eine ältere Dame mit hellblauem Kopftuch und eine junge Mutter mit ihrem Kind.
Sternenplatz, Theater/Konzilstraße, Marktstätte – die nächsten Haltestellen fliegen vorbei, ohne dass viele weitere Fahrgäste einsteigen. Das Wetter ist gut, über die Seerheinbrücke erhascht man einen leichten Blick auf den Säntis in der Ferne. Am Bahnhof kommt Bewegung in den bisher leicht trägen Fahrablauf. Ein touristisches Ehepaar mit Hut und Rucksack steigt ein, eine ältere Dame mit ihrem Einkaufswagen und ein Vater mit Sohn, der ein weinrotes Bayern-München-Trikot trägt.
Die Buslinie 908 wird nicht allein von den Stadtwerken Konstanz betrieben, wie Pressesprecherin Teresa Gärtner auf Anfrage erklärt. Die Stadtwerke sind für den deutschen Streckenast zuständig, in der Schweiz ist es die PostAuto AG. Eine genaue Fahrgastzahl liegt Teresa Gärtner nicht vor, der Kanton Thurgau veröffentlicht aber Publikationen zu der Zahl an Passagier:innen. Rund 300.000 Fahrgäste sind es jährlich, die mit der 908 fahren.
Auf einmal in der Schweiz
Aufgrund der Baustelle am LAGO Shopping-Center muss die Linie 908 einen Kreis durch die schmale Altstadt drehen, einmal durch die Bahnhofstraße, links in die Sigismundstraße an der „ess/bar“ vorbei und dann wieder links in die Bodanstraße. Dann heißt es erstmal: warten. Die Ampel steht lange auf Rot. Dann geht es schleppend voran, rechts um das Lago herum in die Hafenstraße. Hinter dem LAGO biegt der rote Bus in eine schmale Gasse und wartet an der an der für den Individualverkehr gesperrten Grenze darauf, dass die beiden automatischen Metallpoller langsam herunterfahren. Und schwupps – befinden wir uns auf Schweizer Seite, fahren durch die Zollstraße und am offiziellen Grenzübergang vorbei.
Marcella Quinton und ihre Tochter Isabella fahren jeden Tag mit der 908 über die Grenze. Sie haben es sich auf der hintersten Sitzbank im Bus bequem gemacht. Dass sie immer wieder über eine Grenze fahren, merken sie eigentlich nicht mehr. „Es ist fast alles gleich“, lacht sie. Marcella wohnt mit ihrer Tochter in Kreuzlingen, studiert selbst aber an der Universität Konstanz Sprachwissenschaften, Isabella geht auf deutscher Seite auch in den Kindergarten. „Zum Leben ist es hier sehr schön, aber es ist schon ein Dorf“, sagt sie über Kreuzlingen. Es sei schwierig, eine Wohnung in Konstanz zu bekommen, deshalb leben die beiden in der Schweiz. Mit der Linie 908 fahren sie beide gerne. „Wir mögen den Weg, er ist recht einfach.“ An der Haltestelle Bärenplatz verabschieden sich beide und steigen aus.
„Ach, das ist total normal.“
Vorbei geht es an kleinen Vorgärten, Wohnhäusern, Wohnanlagen und Supermärkten. Nur die Fahrbahnmarkierung und die etwas anderen Kfz-Kennzeichen deuten darauf hin, dass wir uns nicht mehr in Konstanz befinden. Im Bus hört man trotzdem mehr Badisch als Schweizerdeutsch. In Kreuzlingen-Ost fährt der Bus an schönen alten Fachwerkhäusern vorbei zum Seeburgpark. Ein Mann mit gespiegelter Sonnenbrille und langem Vollbart unterhält sich mit seinem Sohn angeregt über Fußball. Sie fahren alle zwei Wochen mit der 908. „Meine Frau wohnt in Konstanz, ich in Kreuzlingen“, erzählt er. Für sie ändert der Grenzübergang dabei nichts. „Ach, das ist total normal, nichts Besonderes mehr“, sagt er.
Von Kreuzlingen geht es nach Bottighofen. Mehrheitlich Wohnwagen und ab und zu ein paar Reisebusse kommen der Linie entgegen. Ansonsten hat man vor allem eines vor Augen: Kleinstadtidylle. Auf den Gehwegen ist kaum jemand unterwegs. Die Temperaturanzeige zeigt aber auch fast 30 Grad an. Dann geht es über Felder und Wiesen nach Scherzingen. Im Vorbeifahren sieht man einen Traktor, der ein Grundstück bewässert. Der Bus hält vor einer Kirche mit sehr gepflegtem grünem Rasen. Am „Bäckerstübli“ an einem Steinbrunnen steigen dann die restlichen Fahrgäste aus. Nun geht es noch nach Münsterlingen – dann sind es noch zwei Stationen bis zur Endhaltestelle Landschlacht.
Endhaltestelle: Landschlacht
Vom „Nonnenpförtli“ am Spital Thurgau hat man einen tollen Ausblick auf den See und die andere Seeseite. Motorjachten jagen durchs Wasser und man kann bis Meersburg sehen. Auch der weiße Turm der Allmannsdorfer Jugendherberge lugt durch die Bäume auf der Konstanzer Halbinsel hindurch. Für die letzten Meter geht es an der Eisenbahnstrecke und Apfelfeldern entlang. Die Busluft wirkt einschläfernd. Dann dreht die Linie im gefühlt hundertsten Kreisverkehr und macht sich auf die Rückfahrt. An der ersten Station steigen ein Mädchen und ein Junge ein. Das Mädchen ganz in Blau gekleidet, der kleine Bruder ganz in Rot. Etwas traurig sieht die Station „Landschlacht Vorderdorf“ aus. Nur eine ausgeblichene gelbe Bank und ein umgedrehter Plastikeimer.
Während der Corona-Pandemie war der Grenzübergang zwischen Konstanz und Kreuzlingen geschlossen. Die Buslinie 908 fuhr daher ausschließlich auf Schweizer Seite. Für die Stadtwerke und Pressesprecherin Teresa Gärtner ist sie daher nun von besonderer Bedeutung: „Die Linie ist als einzige grenzüberschreitende Linie mit ihrem halbstündigen Takt ein wichtiges Angebot für den Zielverkehr aus der Schweiz nach Konstanz, beziehungsweise den Quellverkehr aus Konstanz in die Schweiz, den Bus und nicht das Auto zu nutzen.“ Das Ziel, auch für die Mobilitätsstrategie der Stadt Konstanz, sei es, nachhaltigen Verkehr zu fördern und den motorisierten Individualverkehr, gerade über die Grenze, zu reduzieren.
Auf der Rückfahrt hört man nun doch vermehrt Schweizerdeutsch. Kurz vor Bottighofen fährt die 908 an einem „offenen Garten“ vorbei, in dem man selbst viele bunte Rosen schneiden kann. An der Post steigt eine Frau mit ihrem Sohn ein. Er trägt nur einen Schuh, ansonsten ist er barfuß. Sie setzt ihn kurz ab und hilft einer Frau mit Rollator in den Bus. Im hinteren Teil des Busses erklingt etwas Französisch – eine weitere Mutter spricht mit ihrem Sohn. Beim Seeburgpark wird der Bus nun wieder voller. Ein paar Männer treffen sich zufällig, schütteln sich die Hände. „Zum Schaffe“, sagt der eine mit einem Aufdruck der Stiftung Mansio in Münsterlingen auf dem grauen Shirt.
Auch auf der Rückfahrt hat man das Gefühl: Kreuzlingen ist verschlafen, es ist nicht viel los. Aber dafür fallen einem bestimmte Dinge rechts und links der Straße auf, die bei der Hinfahrt unbemerkt geblieben sind. Wie zum Beispiel das Blaue Haus, das mit seinem Fachwerk und tiefblauen Fensterläden eine echte Erscheinung ist. Am Bärenplatz angekommen, könnte man das Treiben einen Schweizer ZOB nennen: Unterschiedliche Busse halten hier gegenüber voneinander, Menschen steigen ein und aus. Das Publikum im Bus wechselt munter – von jungen Menschen mit Koffer und alten Menschen mit Sonnenbrillen und blauen Schirmmützen.
Kurz vor der Grenze gilt: Ausweise bereit halten!
Zwei junge Männer unterhalten sich angeregt über die Uni. „Was für ein Abfuck, acht Uhr in die Uni“, sagt der eine. „Der Pfeffi hat mich gekillt“, erzählt der andere. Kurz vor dem Grenzübertritt erfolgt eine Ansage im Bus: „Das Überqueren der Grenze ist nur mit gültigen Ausweispapieren gestattet“ – viele Schweizer:innen steigen aber ohnehin bereits an der Haltestelle „Hauptzoll“ aus, also noch vor der Grenze. Viele gehen dann doch lieber zu Fuß. Die metallenen Absperrpoller senken sich – und wir befinden uns wieder auf deutscher Seite.
Am Sonnenweg, kurz vor der Grenze, steigt Kai ein. Er studiert Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Uni Konstanz. Auch Kai wohnt in Kreuzlingen und pendelt nach Konstanz mit der 908. „Es macht keinen Unterschied, außer dass der Bus nur bis acht Uhr abends fährt“, kritisiert er.
Für ihn gebe es keine Grenze. Alle, die ihn besuchen, würden auch nicht verstehen, dass Konstanz und Kreuzlingen zwei verschiedene Städte seien. „Für mich ist es eine Stadt“, sagt er. Am Bahnhof Konstanz steigen die meisten Fahrgäste wieder aus, am Sternenplatz verabschiedet sich Kai. Noch eine Haltestelle bis zum Zähringerplatz. Dann heißt es: „Endhaltestelle, bitte alle aussteigen!“
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