Recht auf Wind im Haar

Der Verein „Radeln ohne Alter Konstanz e.V.“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, Senior:innen und Menschen mit Beeinträchtigungen in Rikschas durch die Stadt zu fahren. Das waren die Erfahrungen aus den ersten Monaten.

Mitte Mai 2024 beginnt das Abenteuer. Mein Nachbar und ich fahren nach Frankfurt, um die erste Rikscha abzuholen. Ein Ausstellungsstück für 7.500 Euro, deutlich günstiger als eine neue, die über 12.000 Euro kosten würde. Auch wenn der Verein noch in Gründung ist: Eine Rikscha soll her, um in der Stadt Präsenz zu zeigen. Die Rechnung geht auf, denn wo immer die Rikscha langfährt, erregt sie Aufsehen. Und sitzt dann noch ein:e Senior:in vorne drin, winken sie den Passant:innen zu und verteilen gute Laune in der Stadt.  

Die Anfänge von „Radeln ohne Alter“ in Dänemark 

2012 hat der Däne Ole Kassow eine Idee, als er einen alten Mann auf einer Bank sitzen sieht, neben ihm der Rollator. Ole, der immer wieder mit dem Fahrrad an dem Da-Sitzenden vorbeifährt, bemerkt: Viele ältere Menschen müssen irgendwann ihre Mobilität aufgeben, das geliebte Fahrradfahren einstellen. Aber wie wäre es, wenn ihr „Recht auf Wind im Haar“ noch weiter bestehen könnte? 

Im August 2013 fährt Ole mit einer gemieteten Rikscha zu einem Altersheim und fragt, ob jemand ausgefahren werden wolle. Eine Pflegerin findet das eine gute Idee, organisiert zwei Damen. Sie machen eine Ausfahrt ins Hafenviertel. Am nächsten Tag ruft die Geschäftsführerin des Heims bei Ole an. Sein Projekt habe sich herumgesprochen. Alle wollen nun mitfahren! 

Senioren:innenarbeit mit Rikscha 

Susan Stojic wohnt in Konstanz, ist gelernte Einzelhandelskauffrau, hat aber vor zwei Jahren eine Ausbildung zur Senior:innenassistentin absolviert, „um mit alten Menschen Zeit zu verbringen“, sagt sie. Kaffee trinken, sie zum Arzt begleiten, „nichts Pflegerisches.“ Damit will sie sich selbstständig machen. Weil sie jedoch seit Jahren ausschließlich mit dem Fahrrad unterwegs ist und kein Auto besitzt, ist ihre große Frage:

„Wie bin ich dann mobil, um die älteren Menschen von A nach B zu bringen?“

Als sie einen Artikel über Rikschas liest, denkt sie: „Das könnte die Lösung sein!“ Im Frühjahr 2024 erfährt sie von der Idee zu „Radeln ohne Alter“ in Konstanz und ist begeistert. Von der ersten Stunde an unterstützt sie das Projekt, denn hier kann sie nun das umsetzen, wovon sie schon lange geträumt hat – ohne eine eigene Rikscha kaufen zu müssen. 

Die Seestraße und Gemälde im Haus Zoffingen 

Ich hole mit der Rikscha Frau S. ab. Sie wohnt seit sieben Monaten im Haus Zoffingen. Für die Fahrt hat sich schön gemacht, mit rotem Lippenstift und rotem Strohhut. Wir fahren zuerst zur Seestraße, wo Frau S. früher, als sie noch in der Von-Emig-Straße wohnte, täglich hingegangen sei. Obwohl sie nun nur wenige hundert Meter von der Seestraße entfernt lebt, habe sie es in all diesen Monaten nicht mehr dort hingeschafft. „Sie machen mir eine große Freude,“ sagt sie immer wieder.

Wir rollen über die Fahrradbrücke, stehen still am Seerheinufer, wo Wellen an den Wall klatschen. Das Wasser steht hoch nach dem vielen Regen. Frau S. erzählt von einem früheren Hochwasser, „wo man ab dem Casino nicht mehr weitergehen konnte.“ Malerin sei sie gewesen, erzählt sie mir, viele ihrer Bilder hingen auch im Haus Zoffingen. Zurück am Senior:innenheim verabschieden wir uns voneinander, nachdem wir gleich einen weiteren Besuchstermin ausgemacht haben. Ich bin neugierig geworden auf ihre Bilder.

Am nächsten Tag führt mich Frau S. stolz durchs Haus: Gemälde von Tieren und Pflanzen, detailgetreu abgebildet, beeindruckende Kunstwerke. In ihrem Zimmer lagern noch Dutzende weitere. Eine Pflegerin erzählt, wie sie die Bilder gerettet hätten, als Frau S. plötzlich ins Heim musste. „Wir sind zu ihr nach Hause gefahren und haben alle Bilder eingepackt, sonst wären sie entsorgt worden.“ Heute hängen viele von ihnen in den Fluren und Gängen vom Haus Zoffingen. 

Die Rikscha bringt Menschen zusammen.  Frau S. genoss den Ausflug durch Konstanz, ich lernte ihren Alltag und ihre Bilder im Senior:innenheim kennen.  Türen sind aufgegangen, wurden durchlässig. Genau das, was wir vom Verein „Radeln ohne Alter“ unter Teilhabe am Stadtleben verstehen. 

Frau S. (links) zeigt Micheal Buchmüller (rechts) im Haus Zoffingen ihre Gemälde. | Foto: Privat

„Jetzt reicht’s mit der Quälerei!“ Vom Rennrad zur Rikscha  

In Dänemark sind Altersheime in öffentlicher Hand. Ole schreibt die Stadt Kopenhagen an, ob sie ihm nicht eine Rikscha sponsern könnte. Die überraschende Antwort kommt bald: Ober er nicht auch fünf Rikschas nehmen würde? „Radeln ohne Alter“ verbreitet sich ab da in vielen Ländern, auch in Deutschland. In über hundert Orten sind schon Rikschas im Einsatz, unterstützt von einem starken Dachverband mit Sitz in Bonn, der beim Aufbau von Strukturen vor Ort hilft. 

Peter Bergmann ist 69 Jahre alt und fährt Rikscha in Konstanz. „Ich würde auch gerne gefahren werden, wenn ich mal alt bin“, sagt er. „Also, so richtig alt.“ Aber das ist nicht der Hauptgrund, warum er sich dem Konstanzer Verein als Pilot zur Verfügung gestellt hat. Er fährt Rennrad, seit er 1986 aus Bayern in die Chérisy zog. „Hier ist’s schön flach.“

Mit dem Dingelsdorfer Radfahrverein, er wohnte später in Oberdorf, ging es über Pässe und auf Wochenfahrten bis nach Tabor. „Aber irgendwann hab ich gesagt: Jetzt reicht’s mit der Quälerei!“ Kurze Zeit später las er einen Artikel über Rikschas und dachte: Das wäre doch etwas für die Radkollegen, die es vielleicht nun auch, älter geworden, etwas gemütlicher angehen lassen wollen. 

Rikschafahren und Demenz 

Die Rückmeldungen aus den dänischen Altersheimen sind von Anfang an beeindruckend. Einige Bewohner:innen haben wieder begonnen zu sprechen, manche, die an Demenz leiden, verlieren ihre Aggressionen und kehren nach dem Fahrradausflug gut gelaunt ins Altersheim zurück. 

Auch in Konstanz teilen wir bald solche Erfahrungen: Raphael fährt seinen dementen Vater, der früher gerne radelte, an einem Sonntag und berichtet: „Mein Vater erkennt die Enkelkinder nicht, und was er zum Mittag gegessen hat, weiß er auch schon nachmittags nicht mehr. Nur Dinge, die starke Emotionen bei ihm ausgelöst haben, bleiben ihm in Erinnerung. Vor nun fast einer Woche waren wir mit der Rikscha unterwegs und er weiß immer noch davon. Das ist für uns total erstaunlich und ein Hinweis dafür, was die wieder erlangte Freiheit durch so eine Rikschafahrt für die Betroffenen bedeuten muss.“ 

Das Draußen spüren 

Susan Stojic‘ Eltern sind seit sechs Jahren im Heim, die Mutter am Ende ihres Lebens stark dement. „Aber wenn wir sie schlafend mit dem Rollstuhl nach draußen fuhren und sie aufwachte, lächelte sie immer.“ Auch ihr Vater, den sie nun mit dem Rollstuhl an die frische Luft bringt, breitet oft die Arme aus und ruft: „Oh, wie ist das schön!“  Für Susan ist es dieses „Draußen-Spüren“, was Senior:innen glücklich und zufrieden macht.

Zwei Stunden im Freien „und der Tag ist gerettet“. Dagegen der Alltag in vielen Heimen: Zwischen den Mahlzeiten keine Beschäftigung, tristes Herumhocken. „Dabei kann man Menschen doch mit so wenig glücklich machen.“ Auch sie selbst, so die 57-Jährige, mache kaum etwas anderes so zufrieden. „Das mit der Rikscha ist Glück für alle!“ 

Peter Bergmann fährt für sein Leben gerne Fahrrad – jetzt auch in Form der Rikschas. | Fotos: Michael Buchmüller
Susan ist eine der sogannten Pilot:innen im Verein und bringt die Gäste in der Rikscha zum Ziel.

Die Fahrt zum Friedhof 

Konstanz im Juli: Frau K. lebt ebenfalls im Haus Zoffingen. Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben, sein Grab ist auf dem Hauptfriedhof. Von der Rikscha hat sie in der Zeitung gelesen und sich gleich gemeldet. „Ich will mal wieder meinen Mann besuchen.“ Ein heißer Julitag, 14 Uhr. Ich hole sie ab, sie sitzt schon auf der Bank vor dem Heim und wartet. Mühelos besteigt sie die Rikscha. Kaum sind wir losgefahren, beginnt sie zu erzählen.

Von ihrem Leben, ihrem Mann. „60 Jahre waren wir verheiratet.“ Eine Erinnerung pro Straßenecke, an der wir vorbeikommen. Noch immer nagt an ihr, dass sie ihre Wohnung aufgeben musste, als sie ins Haus Zoffingen zog. Und noch immer fehle der Ehemann, der nun so unwiederbringlich fort sei. Seit Weihnachten sei sie nicht mehr auf dem Friedhof gewesen. Dass sie nun dorthin unterwegs sei: Ein Traum.

„Da machen Sie mir ein riesengroßes Geschenk.“  

Auf dem Friedhof dirigiert mich Frau K. souverän zum Grab ihres Mannes. Dort parken wir, ich setze mich zu ihr nach vorne. Sie erzählt von ihren Kindern, von den gemeinsamen Jahren, sie spricht den Verstorbenen an, Tränen kommen, für die sie sich schäme. „Das brauchen Sie doch nicht.“ „Unfassbar, dass er nicht mehr da ist…“ Wir verharren einige Minuten in Stille, dann verabschiedet sie sich, wirft ihm eine Kusshand zu. Verspricht wiederzukommen.  

Peter Bergmann fährt inzwischen regelmäßig Senior:innen vom Haus Zoffingen. Auf den Fahrten erzählen sie aus ihrem Leben: Wo sie aufgewachsen oder zur Schule gegangen sind. Auch Bergmann kann ihnen viel über die Stadt erzählen. Er hat als Bautechniker und Archäologe gearbeitet und war dabei, als an der Fachhochschule der Schlachthof in eine Bibliothek umgebaut wurde. 

So gehen auf seinen Fahrten die Geschichten hin und her. „Das ist für mich der tollste Effekt: Dass ich mir jetzt viel leichter tue, ältere Menschen anzusprechen!“ Er fährt mit der Rikscha vor, lädt die Senior:innen ein, fragt, wo es hingehen soll und der Rest ergebe sich von selbst. Immer wieder bekommt er Rückmeldungen von seinen Passagier:innen, wie schön die Ausflüge seien.  Warum es sich lohne, bei Radeln ohne Alter mitzumachen?

„Wir lachen und winken und alle winken zurück: Es tut allen Beteiligten einfach gut!“ 

Wer interessiert ist, mitzumachen, melde sich unter: info@radelnohnealter-kn.de