Das Foto zeigt den Stau auf der Laube.

Einkaufstourismus: Mit Risiken und Nebenwirkungen

Immer wieder samstags ist die Konstanzer Innenstadt überlastet. Konstanzer:innen wie Einkaufstourist:innen sind gleichermaßen genervt. Es ist ein emotionales und kontroverses Dauerthema. Wo bleiben die Lösungen?
Wiebke ist Journalistin aus Leidenschaft. Gemeinsam mit Michael leitet…

Anne Mühlhäußer ist frustriert. Weil die Innenstadt an Samstagen voll mit Menschen ist. Weil der Stau schon zum Stadtbild dazu gehört. Und weil das Problem seit Jahren bekannt ist, sich aber nichts daran ändert. „Wir kommen hier nicht ins Tun“, sagt die Gemeinderätin der Freien Grünen Liste (FGL), die mitten in der Altstadt lebt und das Verkehrschaos am Wochenende deshalb immer vor der Nase hat. 

Ein Beispiel, das Anne Mühlhäußer gerne bringt: Beim Oktoberfest kommt der gesamte Landkreis mit dem Seehas angefahren.

„Warum soll das für den Einkaufstourismus nicht gehen? Wenn ich bei H&M drei Teile kaufe, dann ist das nicht schwer.“

Anne Mühlhäußer

„Klar gibt es die Schweizer, die ins Lago fahren, und dann ist der ganze Kofferraum voll mit Lebensmitteln, aber das machen nicht alle. Ich würde mir eine bessere ÖPNV-Politik wünschen mit Anreizen, wie dass die Nutzung günstig ist. Wir haben doch eine tolle Seehaslinie und den Zug in die Schweiz, nutzen wir sie!“ 

Anne Mühlhäußer. Foto: Inka Reiter

Konstanz braucht die schweizerische Kaufkraft

Menschenmassen, Verkehrschaos, Überfüllung: Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere lässt sich am besten in Franken oder Euro beziffern. Schweizer Kunden sind kaufkräftiger als Deutsche. Während Konstanzer:innen pro Kopf rund 7.558 Euro im Jahr ausgeben, liegt die Kaufkraft im Thurgau bei 11.101 Euro im Jahr pro Einwohner:in. Die Kaufkraft bezeichnet das tatsächlich verfügbare Einkommen aller Bevölkerungsschichten in einer bestimmten Region. Insgesamt beträgt die Kaufkraft der Grenzkantone rund 126 Milliarden Euro. 

Die Zahlen machen deutlich, welche Bedeutung die Schweizer Kund:innen für eine Stadt wie Konstanz haben. „Die Stadt profitiert ganz klar“, sagt Claudius Marx, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Hochrhein-Bodensee. „Man kann hier einkaufen, als wäre man in einer Großstadt.“ Dahinter stehen Arbeitsplätze in den Unternehmen, in der Gastronomie, in der Hotellerie, betont Marx. Doch auch er sieht Probleme: „Die Stadt boomt! Mit Risiken und Nebenwirkungen“, so sagt er. 

In Konstanz liegen die Umsätze, die auf Einheimische zurückzuführen sind, bei gerade mal 30 Prozent. Deutsche Tagestourist:innen und Schweizer Einkaufstourist:innen sind jeweils für 30 bis 40 Prozent der Umsätze verantwortlich.

„Für den Handel ist das absolut unersetzbar. Er hat sich ja auf diese Nachfrage eingestellt und seine Verkaufsfläche daran angepasst.“

Claudius Marx

„Wir sind der Nahversorger der Nordschweiz geworden. Wenn unsere Nachbarn nicht mehr da wären, könnten wir diese Verkaufsfläche nicht darstellen“, sagt Marx. „Der Handel ist daran gewöhnt, aber auch davon abhängig.“

Das Lago gibt zwar keine Kund:innen-Zahlen heraus, ist nach Angaben der Pressestelle aber zufrieden: „Wir haben Vollvermietung und erleben insbesondere an den Einkaufssamstagen und in den Ferien hohe Besuchszahlen, natürlich auch bedingt durch den regen Tourismus in der Bodenseeregion“, heißt es auf Anfrage. Im „Shopping Center Performance Report 2022“, einer jährlichen Befragung unter den Mieter:innen in deutschen Shopping-Centern mit mehr als 10.000 Quadratmetern Fläche, ist das Lago zum beliebtesten Shopping-Center in direkter Innenstadtlage gewählt worden.

Dass das Lago ein attraktiver Standort ist, zeigt sich auch daran, dass es keinen Leerstand gibt. „Auch unsere Gastronomieflächen sind voll vermietet. Und das führt wiederum zu gesunden Besucherzahlen und glücklichen Besucherinnen und Besuchern, die gerne wiederkommen“, heißt es auf Anfrage. Zwar geben auch die Stores von H&M und Vaude Konstanz keine konkreten Kund:innen-Zahlen heraus, sie alle betonen in ihren Rückmeldungen aber, wie wichtig ihnen die Schweizer Kundschaft sei. „Unsere Schweizer Kunden liegen uns aber sehr am Herzen und natürlich ist deren Kaufkraft ein wichtiger Bestandteil für uns“, erklärt Hannah Kowalski, Leiterin vom Vaude-Store in Konstanz.

Darum kaufen Schweizer:innen in Konstanz ein

Claudius Marx von der IHK spricht von vier Treibern, warum Schweizer:innen in Konstanz einkaufen. Sie haben eine hohe Kaufkraft und wollen das Geld auch ausgeben. Insgesamt 6,9 Prozent der Kaufkraft fließen aus den Grenzkantonen in den Einzelhandel der Region Hochrhein-Bodensee. Das bedeutet, dass von 100 Franken, die ein Schweizer im Detail- bzw. Einzelhandel zur Verfügung hat, rund 7 Franken im hiesigen Einzelhandel oder der Gastronomie ausgegeben werden. Das spiegelt sich auch in den Einzelhandelsumsätzen der Landkreise wider: Sie liegen über dem Bundesdurchschnitt von 5.596 Euro pro Person: im Landkreis Konstanz bei 6.590 Euro, also mehr als 17,8 Prozent über dem Mittel. Die zweite Säule: Das Preisniveau ist in Deutschland geringer als in der Schweiz. Das war auch mal andersherum: Einkaufstourismus ist keine Einbahnstraße. In den 80er-Jahren fuhren die Deutschen in die Schweiz und deckten sich dort mit Nudeln, Schokolade und Kaffee ein. Aufgrund horrender Tankpreise in Konstanz fahren Autofahrer:innen noch heute lieber in Kreuzlingen tanken. 

Die dritte Säule: Durch die Umsatzsteuerrückerstattung sparen sie Schweizer:innen beim Einkauf nochmal bares Geld. Seit 2021 gibt es die Bagatellgrenze von 50 Euro. Wie sich diese auswirkt, kann bisher noch nicht abschließend beurteilt werden. Verkäufer:innen entwickelten jedoch die Strategie, bei Rechnungsbeträgen knapp unter 50 Euro Zusatzprodukte anzubieten, um den Mindestbetrag für die Mehrwertsteuerrückerstattung zu ermöglichen. Auch der Wechselkurs ist eine Grundlage für den Einkaufstourismus, wobei dieser sehr volatil ist. „Der Einkaufstourismus steht auf diesen vier Füßen wie ein guter Tisch“, sagt Marx. Eine Studie der Universität St. Gallen zeigt auf, nach welchen Kriterien die Schweizer Konsument:innen im Ausland einkaufen. 

Hieraus wird deutlich, dass der Preisvorteil im Ausland das wichtigste Kriterium ist. Zu den weiteren Einkaufsmotivatoren gehören auch die Ladenöffnungszeiten sowie eine größere Produktvielfalt und -auswahl. Dabei machen bei Auslandseinkäufen im stationären Handel die Nahrungsmittel sowie Körperpflege-, Haushalts- und Hygieneartikel den größten Anteil aus. Laut der Studie entgingen im Jahr 2017 der Schweizer Lebensmittelbranche 3,4 Milliarden Franken, rund 19 Prozent mehr als 2005. In den Bereichen Lebensmittel, Textil, Möbel, Sport und Unterhaltungselektronik stationär und online flossen fast zehn Milliarden Franken aus der Schweiz ins Ausland. 

Einkaufstourist:innen fahren vor allem Standorte an, die einen hohen Freizeitwert haben. Wie beliebt das Besuchsziel ist, gibt die Zentralitätskennziffer an. Städte mit besonders hohen Zentralitätskennziffern, wie Konstanz (357,5), ziehen Besucher oder Kurzreisende an, die shoppen, bummeln, Essen gehen und einen „schönen“ Tag am Standort verbringen möchten. „Konstanz profitiert vom Einkaufstourismus, nur dadurch gibt es dieses breite Angebot. Das dies Belastungen mit sich bringt und sich Einwohner:innen davon belästigt fühlen, ist auch nachvollziehbar“, sagt Roland Scherer, Wissenschaftler an der Uni St. Gallen.

Roland Scherer. Foto: Ulrike Sommer

Der Sportladen Gruner hat ein breites Sortiment von der klassischen Sportausrüstung bis zu Lifestyle-Produkten. Diese Breite kann der Laden nur durch die Schweizer Kund:innen halten:

„Ohne Schweizer Kunden könnten wir kein so breites Sortiment anbieten. Ohne Schweizer Kunden wäre ein Fortbestand unseres Unternehmens nicht möglich.“

Geschäftsführer Peter Kolb

Nach Angaben von Kolb variieren die Umsätze durch Schweizer:innen je nach Saison. „Sie bewegen sich zwischen 25 bis 35 Prozent“, so Kolb. 

Foto: Sport Gruner

„Die Leute da abholen, wo sie ankommen.“

„Ich sehe den Mehrwert für die Stadt mit den Einnahmen für den Einzelhandel und in der Gastronomie und auch die Steuern. Aber ich kenne so viele Konstanzer:innen, die am Wochenende nicht mehr in die Innenstadt gehen“, sagt Anne Mühlhäußer. Sie sieht die Stadt in der Verantwortung, die offensichtlichen Probleme endlich in den Griff zu bekommen. „Brückenkopf-Nord wird jetzt umgesetzt, aber bis das jetzt begonnen worden ist, hat es Ewigkeiten gedauert“, sagt die Gemeinderätin. Auf der Fläche unterhalb der Schänzlebrücke entsteht derzeit ein Busbahnhof, bis 2025 entsteht dort auch ein Parkhaus. Geplant ist ein direkter Anschluss an die Konstanzer Innenstadt mit Bussen. Momentan ist der Platz eine riesige Baustelle, es stehen 120 Plätze zur Verfügung. Wenn das Parkhaus fertig ist, soll es 700 Parkplätze bieten. Mit den Bauarbeiten wird 2024 begonnen.

Für Marx ist der Parkplatz an der Schänzle-Brücke nur ein Baustein in einem notwendigen Konzept:„Man muss die Kundschaft aus der Schweiz da abholen, wo sie ankommt“, sagt der Geschäftsführer der IHK. „Parkhäuser sind die modernen Stadttore einer zunehmend verkehrsberuhigten Innenstadt. Sie müssen da liegen, wo der Verkehr ankommt. Und für den weiteren Weg in die Innenstadt braucht es smarte Lösungen. Die Customer Journey beginnt nicht erst an der Ladentür.“ Er versteht, dass sich der Einzelhandel in Konstanz um seine Erreichbarkeit sorgt. Die Händler:innen hätten schon den großen Gegner Onlinehandel. „Wenn es keinen Spaß mehr macht, zu ihnen zu kommen, dann haben sie verloren“, sagt Marx. Er wünscht sich deshalb Abhilfe für die Händler:innen. Seine Vorstellung: dass der Verkehr aus Kreuzlingen direkt über Klein-Venedig ins Lago geleitet wird und gar nicht erst durch die Stadt.

Menschen da abholen, wo sie sind, das kann eine App besser leisten als das bisherige digitale Parkleitsystem der Stadt. Wie viele von den 476 Parkplätzen im Lago sind noch frei? Wo staut es sich aktuell? Sobald Einkaufstourist:innen nach Konstanz einfahren, könnten sie eine Benachrichtigung bekommen, wo noch ein freier Parkplatz für sie verfügbar ist. Andere Städte wie Ulm machen es vor. Mithilfe einer App können hier freie Parkplätze angezeigt und reserviert werden. Das könnte auch ein Ansatz für Konstanz sein.

Ohne Kreuzlingen geht es nicht

„Die Kreuzlinger können nichts für die Konstanzer Verkehrsprobleme, da müssen wir uns schon selber an die Nase fassen. Wir sind selbst dafür verantwortlich, wie viel Verkehr und auf welche Art und Weise in unsere Stadt hineingelassen wird“,

heißt es auf Anfrage zum Thema vom Jungen Forum Konstanz.

Auch sie sehen die Lösung für Einkaufstourist:innen auf Schweizer Seite in Kreuzlingen. „Und doch wäre ein grenznahes Parkhaus auf Kreuzlinger Seite wünschenswert, welches Einnahmen für die Kreuzlinger Eidgenossen generieren könnte, sowie eine gute grenzüberschreitende ÖPNV-Anbindung“, kommentiert das JFK weiter. Heißt also: Die Zusammenarbeit mit Kreuzlingen muss verstärkt werden. Der Verkehr ist bereits Teil des gemeinsamen Agglomerationsprogramms, aber hier müssen die Städte ins Tun kommen, statt nur Konzepte zu erarbeiten. So ganz davon überzeugt, dass die beiden Städte hier an einem Strang ziehen, ist Heidrun Horn von den Freien Wählern allerdings noch nicht: „Natürlich wäre es auch hervorragend, wenn Besucher aus der Schweiz im Hafenbereich oder anderweitig unmittelbar an der Grenze einen Parkplatz finden könnten. Doch scheint der Weg zu einer solchen Lösung noch fern. Zumal dies keinem direkten Interesse auf Schweizer Seite entspricht.“ Aus ihrer Sicht eine Alternative: genug Parkmöglichkeiten am Döbele und mehr ÖPNV. 

Die SPD meint, die Staus „könnten unter anderem mit einem verbesserten P&R-System (in Konstanz Schänzlebrücke Nord und Süd) unter Einbeziehung der Schweizer/Kreuzlinger Bahnhaltepunkte und weiteren grenzüberschreitenden Rote-Arnold-Linien sowie einem Lieferservice der Einzelhändler zu den P&R-Punkten angegangen werden“, so Fraktionsvorsitzender Jürgen Ruff. „Ein grenzüberschreitend integriertes Radwegenetz einschließlich Radschnellwegen könnte ebenfalls helfen.“

Anne Mühlhäußer versteht nicht, warum das alles so lange dauert. Schließlich baut man hier kein Haus, bei dem es viele Vorschriften zu beachten gebe, auf Parkplätze sei das nicht übertragbar. „Es wird immer wieder gesagt, es sei alles so komplex“, doch das hält sie für eine Ausrede. Singen macht es vor: Innerhalb von drei Jahren wurde dort ein neuer Bahnhofsvorplatz gebaut. „Wir brauchen hier viermal so lange, das ist schon frustrierend“, sagt Mühlhäußer. „In Konstanz, wo wir das Gefühl haben, es ist so schön hier, kommen wir nicht in die Umsetzung.“

Fakt ist: Die Konzepte gibt es. „Die Planungen sind zum Teil auch gut, aber wenn es nicht umgesetzt wird, dann bringt es uns nichts“, sagt Mühlhäußer. Und ergänzt: „Die Leute haben nicht das Gefühl, dass eine Veränderung hier schnell passiert.“ Von schnell kann beim Verkehr in Konstanz schon lange nicht mehr die Rede sein. Wichtig ist aber, dass etwas passiert. Allein der Brückenkopf-Nord wird das Problem nicht lösen. Anne Mühlhäußer muss sich gedulden – wieder einmal.