Geschlecht ist allgegenwärtig

Katja Vossenberg, freie Autorin für Deutschlandfunk Nova und den WDR, bietet im Frühjahr 2024 an der Universität Konstanz das Seminar „Gendersensibler Journalismus“ an. Wir haben mit ihr über Geschlechter, Gleichberechtigung, Generationenunterschiede und die Rolle des Lokaljournalismus gesprochen.
  • Katja Vossenberg bietet im Frühling an der Uni Konstanz das Seminar „Gendersensibler Journalismus“ an. 
  • Studien belegen, dass geschlechtergerechte Sprache Kinder ermutigt, sich unterschiedliche Berufe zuzutrauen. 
  • Vossenberg betont die Bedeutung von Gesprächen und Diskussionen, um Vorurteile abzubauen und Verständnis zu fördern. 
  • Geschlecht beeinflusst viele Bereiche, von Medizin über Stadtplanung bis Design, oft zu Ungunsten von Frauen. 
  • Vossenberg sieht im Lokaljournalismus großes Potenzial, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. 
  • Ziel ihrer Seminare ist es, Bewusstsein für diskriminierungssensiblen Journalismus zu schaffen. 

Es ist wissenschaftlich belegt, dass beim „Lehrer“ zwar theoretisch männliche und weibliche Angestellte mitgemeint sind – praktisch jedoch die meisten Menschen an Männer denken. Wenn nicht explizit auch die „Lehrerinnen“ genannt werden, geht die Information, dass mehrere Geschlechter vertreten sind, also schnell unter.

Welche Folgen das haben kann, zeigt eine Studie der Freien Universität Berlin, die belegt hat, dass sich männliche und weibliche Kinder einen Job eher zutrauen, wenn in der Berufsbeschreibung beide Geschlechterbezeichnungen genannt werden. Wie wir sprechen, prägt die Wahrnehmung und die Realität. Trotzdem rufen die Gespräche über das Gendern weiterhin Kontroversen und Verbote hervor, die das generische Maskulinum, also die männliche Form, als Norm festlegen wollen. 

Die Seminarteilnehmenden untersuchen die Darstellung von Männern in Zeitschriften | Foto: Cara Hofmann

Gendern, Feminismus, geschlechterneutrale Toiletten: Ich bin müde, über diese Themen zu diskutieren, ob mit Verwandtschaft oder alten Bekannten. Oft umschiffe ich sie, um Konflikte zu vermeiden. Katja Vossenberg sagt, das sei nicht der richtige Weg: „Es ist wichtig, dass wir miteinander im Gespräch und in Diskussion bleiben. Gerade bei den Punkten, wo wir Dinge ganz anders sehen, müssen wir uns wieder begegnen und uns zuhören. Wir sollten Menschen nicht sofort abstempeln und sagen: Das hier ist die junge Aktivistin, die nur diesen Genderkram machen will. Oder der alte weiße Mann hier, der keinen Bock auf das Gendersternchen hat.“  

Wer sich nicht über unterschiedliche Meinungen austauscht, entfernt sich immer weiter voneinander. Vossenbergs Job ist es, sich diese unterschiedlichen Meinungen anzuhören, mit wissenschaftlicher Forschung zu unterstützen und praktische Verhaltens- und Diskussionswerkzeuge an die Hand zu geben. Das bedeutet zunächst vor allem, den Seminarteilnehmer:innen Ungleichbehandlungen sichtbar und bewusst zu machen – denn erst danach kann dagegen vorgegangen werden. 

Die Seminarteilnehmenden untersuchen die Darstellung von Frauen in Zeitschriften | Foto: Cara Hofmann

Die Omnipräsenz von Geschlecht

Vossenberg sieht die Gender Studies als wichtigen Baustein für die Diskurse in der Gesellschaft. „Gender Studies werden oft belächelt und gerade von rechtspopulistischen Kräften niedergemacht. Im Grunde sind Gender Studies Soziologie mit einem bestimmten Schwerpunkt, nämlich dem Schwerpunkt Geschlecht, und so gibt es auch hier wissenschaftliche Untersuchungen. Die Erkenntnis, die für mich am Anfang und am Ende des Studiums stand, ist, dass alles geschlechtlich ist und einen Bezug zu Geschlecht hat. Du findest immer wieder Aspekte, über die es sich zu diskutieren lohnt, selbst bei Stadtplanung oder Design zum Beispiel.“ 

Vossenberg spricht in ihren Seminaren über die Omnipräsenz von Geschlecht und über ein Buch, das die Auswirkungen genau dieser Allgegenwärtigkeit aufzeigt. Es heißt „Das Patriarchat der Dinge: Warum die Welt Frauen nicht passt“, und der Titel ist Programm. Die Autorin Rebekka Endler zeigt, dass die Designs der uns alltäglich umgebenden Dinge des Lebens vor allem an Männern ausgerichtet sind. Unsere westliche Medizin ist beispielsweise – mit Ausnahme der Gynäkologie – auf den Mann geeicht: Von Diagnoseverfahren und medizinischen Geräten bis hin zur Dosierung von Medikamenten.

Auch die Dummys für Crashtests nehmen den männlichen Körper zum Vorbild – und damit das ganze Auto samt Airbags und Sicherheitsgurten. Und auch der öffentliche Raum ist für Männer gemacht: Architektur, Infrastruktur und Transport, sogar die Anzahl öffentlicher Toiletten oder die Einstellung der Temperatur in Gebäuden. Das Buch zeigt, wie tief das Patriarchat in unserem Alltag steckt und wie es Urheber und Designer unserer Umwelt ist. Vossenberg erläutert, dass das Buch aufzeigt, wie die Welt für die Hälfte der Bevölkerung nicht geeignet ist und oft nicht gut funktioniert. Dies werde häufig belächelt und als unwichtig abgetan, habe sich jedoch in den letzten Jahren verändert.

„Heute wird viel mehr darüber diskutiert, die Leute nehmen alle möglichen Ungleichbehandlungen nicht mehr so hin. Auch wenn politisch trotzdem manchmal nur sehr wenig passiert.“

Diskussionen, Gespräche, Unterhaltungen

Und wie geht man nun in ein Gespräch, das oft in einer Diskussion über Sprachästhetik mündet? Auch darauf hat Vossenberg eine Antwort: „Am Ende des Tages geht es mir gar nicht darum, dass alle Menschen das Gendersternchen benutzen. Das Gendersternchen hat auch Probleme und Herausforderungen und funktioniert nicht in allen Situationen. Aber es geht mir darum, dass Leute sich mit der Argumentation auseinandersetzen und verstehen, warum das überhaupt gerade ein Thema ist und warum für viele das generische Maskulinum beispielsweise nicht mehr passt.“ Sie möchte dazu anregen eine Haltung zu entwickeln, ohne vorschreiben, wie andere zu sprechen oder zu schreiben haben. „Es geht mir darum, dass Leute sich damit auseinandersetzen. Dann kann ich am Ende auch akzeptieren, wenn jemand sagt, ich finde das doof und will es nicht benutzen.“  

Es sei wichtig, sich in die Sicht der:des Anderen hineinzuversetzen. Das sei nicht immer leicht, aber Vossenberg betont:


„Wir können da nicht drauf verzichten, auch, weil wir uns in der Demokratie bewegen. Wir sollten diese Bereitschaft zum Zuhören wieder beleben.“

Aufgabe des (Lokal-)Journalismus

Das Thema ist emotional aufgeladen – aus gutem Grund, immerhin geht es um die Rechte von fast 50 Prozent der Weltbevölkerung und mehr als 50 Prozent hier in Deutschland. Welche Aufgabe übernimmt der Journalismus nun in alldem? Vossenbergs Antwort: Eine riesige. „Ich glaube, dass der Journalismus eine wichtige Funktion in der Demokratie hat. Es geht darum, die Gesellschaft so abzubilden, wie sie ist, und das passiert im Moment noch nicht. Wenn man sich Studien anguckt, die schlicht nach Repräsentation von Männern und Frauen beispielsweise im Journalismus gucken, dann gibt es da immer noch ein Ungleichgewicht. Ich würde das gerne ändern.“  

Dies sei möglich durch ein Bewusstsein in den Köpfen der Journalist:innen, dass die Repräsentation immer ein Thema ist und immer eine Rolle spielt. Dieses Bewusstsein ließe sich am besten fördern durch Fortbildungen und Vorträge, die die Thematik präsenter werden lassen. Vossenberg will mit ihren Seminaren das Wissen über diskriminierungssensiblen Journalismus verbreiten – und sie findet, es sollte nicht nur um Geschlecht gehen.

„Unser Ziel sollte sein, nicht nur die Kategorie Geschlecht mitzudenken, sondern auch andere Kategorien wie Herkunft oder Religion. Man kann da in ganz viele Richtungen denken. Ich denke, dass der Beginn dieser Diskussion wertvoll ist. Was die Menschen daraus machen, das sollen sie für sich entscheiden. Aber ich möchte mit ihnen ins Gespräch kommen und eine Haltung zu diesem Thema in ihnen anregen.“

Vossenberg setzt dabei großes Vertrauen in den Lokaljournalismus. „Der Lokaljournalismus wird gerne mal belächelt. Ich glaube, dass das fatal ist. Gerade Lokaljournalist:innen können viel bewirken, denn die Räume sind kleiner, aber die Themen gleich groß. Der Draht ist viel kürzer und es können viel schneller Veränderungen bewegt werden.“