Jede:r im Kreis Konstanz hat Berührungspunkte mit der Situation von Geflüchteten. Sei es, dass in der Schulturnhalle Geflüchtete leben und der Sportunterricht verlegt wird. Sei es, dass eine Familie Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrer Mitte aufgenommen hat oder dass in der Wohnung gegenüber nun syrische Teenager wohnen. Oder sei es auch nur bei einem Spaziergang am See. Auf dem Gelände Klein Venedig in Konstanz ist das Oktoberfestzelt stehen geblieben und wird zur ersten von mehreren großen Leichtbauhallen, die der Landkreis für die Unterbringung von Geflüchteten in der aktuellen Krisensituation realisiert. Die Fertigstellung wird sehnlichst erwartet, denn Raum ist knapp.
16,1 Millionen Menschen sind insgesamt seit Beginn des Ukrainekrieges bis Anfang Dezember 2022 laut UNO-Schätzungen aus der Ukraine geflohen. Zum Vergleich: Das ist knapp zweimal die Bevölkerung unseres Nachbarlandes Schweiz.
Der Landkreis ist in den ersten sechs Monaten für sie verantwortlich, danach sind die Kommunen an der Reihe. Aktuell geht man davon aus, dass wöchentlich 40 und monatlich 160 Geflüchtete hinzukommen – allein aus der Ukraine. In dieser Rechnung nicht enthalten sind diejenigen, die etwa dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad den Rücken kehren. Wo finden diese Menschen auf der Flucht einen Raum? Denn sie haben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein Recht darauf.
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Alle Kreissporthallen sind Unterkünfte
20 Gemeinschaftsunterkünfte des Kreises waren Ende Oktober mit 1.703 Menschen zu 94 Prozent ausgelastet. Das ist einer Aufstellung des Amts für Migration und Integration des Landkreises zu entnehmen. Alle Sporthallen in Kreisbesitz sind mittlerweile zu Unterkünften für Geflüchtete geworden: zwei jeweils in Singen, Radolfzell und Konstanz, eine in Stockach. 1.080 Plätze kommen so zusammen. Dabei sind 180 Plätze in der Konstanzer Zeppelin-Halle weggefallen, da diese einem Neubau weicht. Hinzukommen soll unter anderem eine ehemalige Industriehalle in Radolfzell, die früher schon für Geflüchtete genutzt wurde. Sie wird für 100 Plätze vorbereitet, bestätigt das Amt.
In der Debatte um die umfunktionierten Sporthallen wird angeführt, dass Kids heute Sport dringlicher brauchen denn je. Durch die Einschränkungen während der letzten Corona-Wellen kam Schulsport zu kurz. Dabei legt der stellvertretende Schulleiter des Berufsschulzentrums (BSZ) Stockach, Matthias Schalk, die Vermutung nahe, dass eine ganz andere Konsequenz aus der Corona-Zeit in der aktuellen Situation weiterhilft: die Fähigkeit zu Flexibilität. Im Moment bietet die Sporthalle des BSZ für 102 Menschen größtenteils aus der Ukraine Unterkunft. Die Schule hat eine Möglichkeit für Sport an der Nellenburghalle im Ortsteil Hindelwangen gefunden. Matthias Schalk sagt: „Das Wichtigste in Sachen Sport ist abgedeckt – eingeschränkt ist besser als nichts.“ In der aktuellen Situation müsse man zusammenhalten und Einschnitte hinnehmen.
In Stockach ist man darauf vorbereitet, dass die Halle noch länger nicht für die Schule nutzbar sein wird. „Zeitlich haben wir keine Erwartungen, das Schuljahr ist organisiert und dass wir kreative Lösungen finden können, das haben wir gezeigt“, sagt Schalk. Zudem sei er ganz schön stolz auf die Schüler:innen, die auf eigene Initiative verschiedene Aktionen vor Weihnachten für die Kinder organisieren, die in der Turnhalle direkt nebenan leben.
Die Schülerinnen und Schüler des Berufsschulzentrums Stockach müssen auf ihre Turnhalle verzichten, da dort momentan 102 Geflüchtete untergekommen sind. Vom Bus kommend, führt sie ihr Schulweg direkt an der Halle vorbei. Die Verbindungslehrerin Lena Beirer sagt: „Als sich die Schülermitverantwortung – SMV – im Herbst konstituiert hatte, kamen die Schülerinnen und Schüler direkt auf uns zu mit der Frage: Wie können wir unterstützen?“ Letztlich hat die SMV sich eine Weihnachtsaktion ausgedacht, bei der jede Klasse ein Weihnachtsgeschenk für jeweils eines der 26 Geflüchtetenkinder im Alter zwischen zwei und 18 Jahren organisiert.
Wer kann, spendet dafür zwei Euro. In einer Box konnte jedes geflüchtete Kind einen Wunsch deponieren, nach dem das Geschenk für maximal 20 Euro ausgewählt wurde. Der Rest wird der Leitung der Unterkunft gespendet – etwa für Ausflüge in die Region. Zudem haben die Kids gemeinsam zweimal Plätzchen gebacken. Da in zwei Schulkassen des BSZ Deutsch als Fremdsprache angeboten wird, sind dort einige Ukrainerinnen und Ukrainer, die bei den Aktionen das Übersetzen übernehmen können. Die Verbindungslehrerin betont auch sonst die Hilfsbereitschaft: „Einige Eltern sind auf mich zugekommen, um beispielsweise Spielgeräte zur Verfügung zu stellen.“
Leichtbauhallen als Befreiungsschlag
Auch wenn es möglich ist und von vielen mitgetragen wird: Für die Geflüchteten sind die Hallen als Unterbringung nicht ideal und für die Schulen bedeutet das Umorganisieren Stress. Ein Befreiungsschlag sollte es sein, als im September von Kreis-Seite der Plan vorgestellt wurde, fünf Leichtbauhallen mit jeweils 400 Plätzen zu realisieren.
Derweil wird fieberhaft an der Umsetzung gearbeitet. Nummer eins auf Klein Venedig wird gerade zur Probe beheizt. Das muss sein, denn es ist klirrend kalt auf dem an den See grenzenden Gelände. Handwerker arbeiteten dort in den vergangenen Wochen unter Hochdruck. Voraussichtlich ab Januar laufen dort an die zehn Heizungen für rund 400 Geflüchtete. Zwei weitere Hallen sind gemäß dem Amt für Hochbau und Gebäudemanagement festgezurrt: Eine Halle auf dem Festplatz in Rielasingen-Worblingen soll im April 2023 für 350 Personen bereitstehen – wenn alles glatt läuft; eine weitere im LKW-Vorstauraum der Konstanzer Max-Stromeyer-Straße für 400 Personen ist in der Planungsphase.
Material und Fachkräfte sind heiß begehrt
Aber das mit der Planung ist in diesen Zeiten so eine Sache. Vom Amt heißt es: „Die Schwierigkeit besteht darin, geeignete Handwerker zu finden, die zeitlich in der Lage sind, die Arbeiten kurzfristig umzusetzen, und zum anderen, dass verschiedene Bauteile wie etwa Elektroverteiler sehr lange Lieferzeiten haben.“ Den Auftrag erhalten hat der Zeltexperte Fetscher aus Markdorf, der Erfahrung mit Leichtbauhallen für Geflüchtete hat – auch in der Krise 2015 hat das Unternehmen einige Hallen im ganzen Bundesgebiet umgesetzt.
Dass die Lage heute besonders knifflig ist, bestätigte Anfang Dezember auch ein Handwerker auf Klein Venedig: „Das Zelt stand zwar schon seit dem Oktoberfest“, sagte er, „trotzdem ist es für uns eine Challenge, alles in der Frist fertigzustellen.“ Gemütlich ist anders, doch alle Beteiligten geben sich Mühe. Zum Beispiel gibt es einen Spielbereich für Kinder, der zu einem großen Teil von Fetscher gesponsert wird. Auf die Nachfrage, welche Bereiche besonders dünn mit Fachkräften besetzt seien, kommt eine lange Liste: Hochbau, Tiefbau, Zeltbau, Elektrotechnik und Sanitär. Es melde sich, wer kann.
Viele Grundstücke sind nicht geeignet. Eine Option in Steißlingen wurde aktuell zurückgestellt, weil die baulichen Maßnahmen im Vorfeld zu umfassend gewesen wären, heißt es aus dem Amt. Ein Zelt auf dem Tengener Festzeltplatz hätte nur für ein Jahr stehen dürfen und wurde ebenso zurückgestellt. Im Rennen ist noch der Festzeltplatz in Hilzingen – die Abklärungen laufen.
Geflüchtete Jugendliche brauchen besondere Betreuung
Schwieriger gestaltet sich die Situation, wenn es um unter 18-Jährige geht, die allein unterwegs sind – sogenannte Unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UmA). Diese brauchen engere Betreuung. Eine Pädagogin eines autonomen Trägers, der diese Jugendlichen im Auftrag des Jugendamts betreut, spricht offen über die Verhältnisse. Sie will aufgrund der kritischen Situation lieber anonym bleiben. „Es wird zwar jetzt kalt und der Weg ist beschwerlicher, dennoch laufen wir weiterhin voll“, sagt sie. Dabei handelt es sich nur in seltenen Fällen um ukrainische Kinder und Jugendliche, die zu diesem Zeitpunkt eher im Familienverbund flüchten. Das sagen auch die Zahlen des Amts für Kinder, Jugend und Familie des Landkreises Konstanz: 2022 kamen nur fünf unbegleitete Minderjährige aus der Ukraine. „Aus anderen Ländern, insbesondere Afghanistan, waren es deutlich mehr. Insgesamt kamen 144 weitere UmA an“, so die Aussage.
Die Pädagogin beschreibt, dass viele an Krankheiten leiden: Die Hautkrankheit Skabies, landläufig als Krätze bezeichnet, ist an der Tagesordnung. Diphterie komme nicht selten vor. Und besonders Letztere stellt alle vor große Herausforderungen: Es muss eine Quarantänepflicht eingehalten, mehrmals täglich medizinisch behandelt werden. Sie betont: „Dafür braucht es keine Hallen oder Gemeinschaftswohnungen, sondern kleinere Wohnungen mit Nasszellen.“ Und die seien in Konstanz fast unmöglich zu bekommen.
Trotz allem hält der Träger laut der Pädagogin am Ziel fest, mit den Kids pädagogisch zu arbeiten und sie – wenn irgend möglich – nicht weiterzuleiten, auch wenn der Platz knapp wird.
„Nicht jeder – und es sind fast ausschließlich Jungs, die allein flüchten – ist traumatisiert im klassischen Sinne. Doch alle haben in ihrer Heimat und auf der langen Reise Dinge erlebt, die sie in ihrem Alter nicht erleben sollten“, sagt sie.
Pädagogin eines autonomen Trägers
Die Universität Konstanz unterstützt die Geflüchteten dabei, das zu verarbeiten. Je länger die feste Betreuung, desto besser die Chance auf eine positive Entwicklung. Wer anfangs über Tage weder Jacke noch Tasche abgelegt habe, könne nach einiger Zeit ein festes Mitglied der Gemeinschaft sein und Neuankömmlingen Mut machen. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass auch der Sprung in die Selbstständigkeit möglich ist. Ein wichtiger Faktor ist ein eigenes Dach über dem Kopf. Die Pädagogin lobt dabei die Arbeit des Konstanzer Vereins 83 – Konstanz integriert. Mit dessen Hilfe hätten schon einige Jugendliche trotz angespanntem Wohnungsmarkt eine Bleibe gefunden.
Konstanz ist zusammengerückt
83 – Konstanz integriert ist 2016 in der Flüchtlingskrise entstanden. Seit 2022 arbeitet die Organisation im Programm Raumteiler noch enger mit dem Bürgeramt sowie dem Sozial- und Jugendamt der Stadt Konstanz zusammen. Daniela Winkler von 83 – Konstanz integriert sagt: „Wir als Verein und die Stadt haben gerade mit unserer Kooperation im Raumteiler begonnen und dann kam die Ukrainekrise. Wir waren überwältigt von der Flut an Angeboten und der Solidarität in Konstanz.“ Plötzlich ging es nur noch ums Vermitteln: unbürokratisch, pragmatisch, schnell.
Ziel von Raumteiler ist es, für Geflüchtete, aber auch für andere Benachteiligte privaten, integrativen Wohnraum zu finden. Raumteiler versucht denen zu helfen, die ohne Hilfe keine Wohnung finden. Der Vermietungsprozess wird begleitet, Mietausfallgarantie und finanzielle Förderung durch die Stadt werden gewährt – all das soll Menschen davon überzeugen, ihren Wohnraum nicht leer stehen zu lassen oder auf dem privaten Wohnungsmarkt teuer anzubieten. Und im Frühjahr haben viele Konstanzer:innen ihre Ferienwohnung oder anderen nicht genutzten Wohnraum für bestimmte Zeit zur Verfügung gestellt. Sie haben sogar Umbauten verschoben, sind zusammengerückt. Rund 170 Wohnangebote sind bei Raumteiler eingegangen; letztlich haben auf diesem Wege in ungefähr hundert Wohnräumen insgesamt zirka 300 Geflüchtete Unterkunft gefunden.
Der Bedarf an neuem Wohnraum ist riesig
Bei Raumteiler sind einige Mietverhältnisse zeitlich begrenzt und laufen im nächsten halben Jahr aus. „Wir brauchen jetzt dringend neuen Wohnraum, am besten mit langfristiger Mietperspektive“, appelliert Winkler. Die Verantwortlichen wollen die vorhandenen Anreize und Vorteile, die Raumteiler bieten kann, nochmal besser bekannt machen, um weiter Wohnraum zu mobilisieren, wie es heißt. Anreize werden nötig sein, denn die Wohnungssuche der Geflüchteten ist nur die Spitze des Eisbergs. Winkler sagt: „Wir haben ja auch schon so in Konstanz eine Wohnungsnot und es können hohe Mieten erzielt werden.“
Ein Gespräch mit einem Vermieter über Raumteiler bestätigt die Befürchtung: „Alles läuft gut mit der Familie, die in meiner Wohnung wohnt. Ich überlege mir trotzdem ernsthaft, ob ich nicht doch anders vermiete. Das Geld könnte ich gerade gut gebrauchen“, sagt er. Auch das ist eine Folge des Ukrainekriegs.
Es braucht nachhaltige Strukturen
Ein Punkt fällt bei den vielen Gesprächen immer wieder auf: Zwar hat sich Raumteiler professionalisiert, aber viele andere Strukturen für Geflüchtete sind in größerer Dimension nach 2016 nicht mehr lange aufrechterhalten worden. Nun müssen sie wieder aufgebaut werden. Um das Gute zu sehen: Zumindest kann man auf Erfahrungen zurückgreifen und nun nachhaltiger planen. Denn auch wenn einige Ukrainer:innen wieder ins Kriegsland zurückkehren, ist kaum eine Konfliktlösung in Sicht.
Abgesehen von der Lage in der Ukraine hat die EU im Spätherbst Zahlen präsentiert, die kaum Entspannung versprechen. Allein in den ersten acht Monaten 2022 wurden entlang der westlichen Balkanroute dreimal so viele irreguläre Grenzübertritte wie 2021 beobachtet. Hauptsächlich waren die Geflüchteten syrischer, afghanischer und türkischer Nationalität. Einige Menschen wird die Flucht nach Konstanz verschlagen. Da wird es nicht ausreichen, sich von einem Provisorium zum nächsten zu hangeln.
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