Dass es all die Vögel, die er bisher nur von Margarine-Sammelbildern kannte, im Wollmatinger Ried plötzlich „leibhaftig in echt und vor der Haustüre“ zu sehen gab, das habe den damals 15-jährigen Harald Jacoby umgehauen. „Ich war von den Socken!“ Brachvögel, Kiebitze, Raubwürger … Da habe er sich auch das erste Mal Notizen gemacht und begonnen, so etwas wie ein „ornithologisches Tagebuch“ zu führen. Und ab da hat es ihn nicht mehr losgelassen: das Beobachten der Vögel, der Natur, der Zusammenhänge.
Aber von vorne: Die ersten Lebensjahre verbringt er in der Katzgasse, im „Haus zum kleinen Vogel“ aus dem 14. Jahrhundert – was für ein Zufall! Aber passend. Dann Umzug an den Gottmannplatz. Als Kind verbrachte er nach der Schule die Nachmittage in der Zoohandlung Urban am Münsterplatz, kaufte gelegentlich etwas. Seinen ersten Käfigvogel, einen Erlenzeisig, bis ihn Wilhelm Urban eines Tages fragte: „Magsch net mithelfe?“ Aber natürlich. „Ich war selig!“
Die Tierwelt war seine Welt, und jetzt kam er auch noch mit all den Fachkundigen in Kontakt, mit Hermann Franke zum Beispiel, einem Goldschmiedemeister aus der St.-Johann-Gasse, der selbst Käfigvögel hielt, den Vogelschutzbund managte und Exkursionen in die Höhen der Schweiz und Vorarlbergs organisierte. „Da waren die Busse voll.“ Karl Mühl, „der beste Kenner der Vogelwelt am Bodensee“, fuhr mit, und als botanisches Lexikon Gymnasialprofessor Karl Henn, „der kaum je etwas zu Papier gebracht hat, den aber die ganze Welt bei Fragen kontaktierte“. Und als Harald 15 und „im aufnahmefähigen Alter“ war, 1955, nahm er erstmals an einer Führung des Bundes für Vogelschutz ins Wollmatinger Ried teil: „Ein Erleuchtungserlebnis“!
Ein Vogelbeobachter entdeckt seine Leidenschaft
Auf eigene Faust habe er nun das Ried erkunden wollen, wurde jedoch von den damals noch patrouillierenden Grenzern aufgegriffen. „Du weißt schon, dass man hier nicht herumlaufen darf!“ Und wieder rausgeschickt. Nach Kriegsende war das noch ganz anders gewesen: Jeder trampelte querbeet in dieser Naturzone herum. Bis Winfrid A. Jauch, Gynäkologe und ehrenamtlicher Naturschutzbeauftragter, ein Betretungsverbot durchsetzte, auch das schon Anfang der 50er Jahre. Ehrenamtliche Helfer:innen gingen auf Streife und sorgten dafür, dass Spaziergänger:innen die Hauptwege nicht mehr verließen.
Heute gibt es einen öffentlichen Weg vom Recycling-Hof im Unterlohn entlang des Kanals hinunter zum Seerhein. Und mit einer Führung des NABUs kommt man noch weiter hinein. Jacoby nimmt mich mit auf einen Rundgang. Wir sehen an diesem sonnigen Aprilmorgen ein Dutzend Rehe entspannt auf den Wiesen liegen, beobachten den Schwarzmilan beim Kreisen, hören Bunt- und Grünspecht trommeln, den Zilpzalp, den Fitis und den Zaunkönig zwitschern, den Gartenrotschwanz und den Trauerschnäpper vorbeiflattern, betrachten die Bissspuren des Bibers an den Bäumen am Kanal. Und auf dem Weg blüht gelb der seltene kleine Sumpf-Löwenzahn.
Mit dem Naturschutzdiplom gegen die Flächennutzung
1968 erhielt das Ried das Europäische Naturschutzdiplom, ein Bonner Beamter im Landwirtschaftsministerium, der ursprünglich aus Konstanz kam, hatte sich beim Europarat dafür eingesetzt. „Er hatte mitbekommen, dass es dem Ried an den Kragen ging.“ Die Expansionsgier der Stadt, der Flächenfraß im Industriegebiet Unterlohn, „die einfach mal fünf Hektar Randstreifen für sich herausgeschnitten hatten“ – all das gefährdete dieses Kleinod, in dessen Flachwasserzonen am Ermatinger Becken jährlich bis zu 50.000 Wasservögel überwinterten. Das Diplom wurde alle fünf Jahre erneuert und musste fachlich begründet werden, eine Arbeit, die anfangs an Jacoby „hängenblieb“.
Sie war aber kommunalpolitisch äußerst wichtig, denn mit dem Diplom „konnten wir die Angriffe der Behörden, den Wunsch nach weiteren Flächen, mit guten Argumenten erfolgreich abwehren.“ Jedes Jahr gab es einen Rapport. „Und wer schreibt den? Na, ich halt!“ Denn der musste fachlich fundiert sein, und wenn das einer konnte, dann Harald Jacoby! Genauso wie er meist den vierteljährlich erscheinenden „Ornithologischen Rundbrief für das Bodenseegebiet“ schrieb. So brachten sie die acht bis zehn Seiten unter die interessierten Vogelkundler:innen. Schon 1958 hatten sie ein Netz aus Vogelbeobachter:innen aufgebaut, das länderübergreifend rund um den Bodensee arbeitete. „Wir wollten da schon weg von der nationalen Brille!“ Man gründete die „Ornithologische Arbeitsgemeinschaft Bodensee“, da war er gerade mal achtzehn Jahre alt.
Über Umwege zum Naturschutzexperten
Dabei verlief sein beruflicher Weg nicht gleich in diese Richtung. Zunächst machte er eine Ausbildung als Bankkaufmann bei der Volksbank, merkte aber bald, dass das nicht das Richtige für ihn war. Er schulte um, über eine Sonderprüfung erlangte er die Fachhochschulreife und an der Pädagogischen Hochschule Weingarten bildete er sich zum Lehrer aus. Von Sport bis Religion war alles zu unterrichten, Gruppenarbeit und Binnendifferenzierung notwendige pädagogische Mittel, lange bevor sie angesagt waren. Schließlich wurde er 1968 nach Konstanz an die Gebhard-Grundschule versetzt, wo er bis 1991 blieb. Danach zunächst drei Jahre auf eigenen Wunsch beurlaubt, um ein „Bodensee-Umweltschutzprojekt“ zu organisieren, das eine Waschmittelfirma sponserte und unter der Regie der Deutschen Umwelthilfe lief.
„Da haben wir konkrete Projekte entwickelt, die hier am Bodensee Umweltschutz möglich machten.“ In Zusammenarbeit mit der Forst- und Landwirtschaft und den Tourismus-Einrichtungen. Die Insel Mainau war dabei, genauso wie der Leiter des Campingplatzes in Horn, der früh auf Nachhaltigkeit setzte. Daraus entwickelte sich dann die Bodensee-Stiftung, an der sechs Umweltorganisationen der drei Anrainerstaaten des Bodensees beteiligt waren und deren Geschäftsführer Jacoby wurde. „Dafür wurde ich von 1994 bis 2004 noch einmal zehn Jahre vom Schuldienst beurlaubt.“
„Irgendetwas ist hier im Umbruch!“
Schon in den 60er Jahren fiel dem aufmerksamen Naturbeobachter auf, dass sich in der Natur etwas veränderte. Der Bodensee war überdüngt, das war nicht zu übersehen, es musste dringend gehandelt werden, „auch wenn die Horrorvorstellung, er könne umkippen, nicht unmittelbar bevorstand“. Aber die Vögel waren die Indikatoren, bei deren Beobachtung er mitbekam, dass etwas nicht stimmte. Beispiel: Die Kolbenenten. Wurde es Herbst, versammelten sich Tausende im Ermatinger Becken. Keiner wusste, woher sie kamen – vielleicht aus Westsibirien wie die Reiherenten?–, keiner wusste, warum sie da waren.
Bis man es herausfand: Auf dem Grund des Beckens wuchs die „Armleuchter-Alge“, die sich dort in riesigen Teppichen ausbreitete. „Das war die Droge der Kolbenenten!“ Will heißen: Ihre Hauptspeise. Trocknete das Becken aus, wurden diese „Wiesen“ früher sogar von den Ermatingern abgeerntet und in großen Haufen ans Ufer gebracht, getrocknet und bei den Bauern des Umlandes gegen Kuhmist eingetauscht, weil die Alge kalkhaltig und ein guter Bodendünger war. „Na jedenfalls blieben irgendwann die Kolbenenten weg. Was war geschehen?“ Nun, man konnte beobachten, dass Grünalgenwatten immer mehr die Oberfläche bedeckten, denen das ganze Abwasser „zugute“ kam. Diese nahmen den Armleuchtern am Grunde das Licht weg, sodass sie abstarben und den Kolbenenten die Nahrungsgrundlage entzogen. Da blieben die Wasservögel weg.
„Das war das auffälligste Beispiel: Irgendetwas ist hier im Umbruch!“
Harald Jacoby
Sammlungen statt Führungen
Über das Ried gebe es noch viel zu erzählen: Dass im Mai 1979 vom NABU das Naturschutzzentrum Wollmatinger Ried eröffnet wurde und seit 2018 als NABU-Bodenseezentrum weitergeführt wird, dass man in der Ruine Schopflen auf dem Reichenauer Damm einen Beobachtungsturm aufstellte, dass eine angelegte Flutmulde die Riedwiesen davor vor Eindringen von verschmutztem Wasser bewahren sollte. Ja, all das wäre ausführlich zu erzählen.
Und dass er im August 1989 ein von ihm geschriebenes Büchlein mit dem komplizierten Titel: „Das Naturschutzgebiet Wollmatinger Ried- Untersee-Gnadensee: Bedeutung, Schutz und Betreuung“ an den damaligen Umweltminister Töpfer übergab, der mit dem Hubschrauber und 2,8 Millionen Fördergeld im Gepäck gekommen war. Zusammen brach man vom Konstanzer Flugplatz ins Ried zu einer Begehung auf. Schon da war in Fachkreisen längst bekannt: Jacoby war und ist der ausgewiesene Fachmann für das Ried, was auch viele Menschen bei unzähligen Führungen in das Naturschutzgebiet erleben konnten. „Das mache ich jetzt nicht mehr. Das habe ich in jüngere Hände übergeben.“ Aber er sammle noch immer alles an Texten, Bildern, Berichten über das Ried. „Was mir eben so in die Hände fällt.“ Ein Chronist, der inzwischen auf einem Schatz an Material sitzt, mit dem noch etwas anzufangen wäre. Eine Publikation, eine Chronik? Wer weiß. „Über den Mindelsee gibt es ja schon eine Monographie …“ Über das Ried noch nicht.
Harald Jacoby hat das Lebendige nie losgelassen. „Schon als Kind habe ich alles angefasst, was kreucht und fleucht.“ Im Uferwasser des Seerheins habe er unter den Steinen Groppen eingefangen, nachtaktive Kleinfische. „Habe gemeint, die könne man im Glas halten.“ Was sich als falsch erwies. Und noch immer gärtnert er ums Haus, lässt wachsen, blühen und auch mal wuchern, damit die Vögel geeignete Bedingungen zum Nisten oder zum Überwintern finden. Auch wenn er am Haus schon lange keinen Dompfaff mehr gesehen habe. „Deren Bestand ist dramatisch zurückgegangen!“ Ja, die Natur. So empfindlich. So zerbrechlich. So schön … Harald Jacoby kennt all ihre Seiten.
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