Das mag jetzt vielleicht harsch klingen, aber das Netteste, das Anna-Lena Heizmann zu ihren Klient:innen sagen kann, ist: „Auf Nimmerwiedersehen.“ Denn: Wenn das eintritt, dann hat sie ihren Job gut gemacht und einer Familie dabei geholfen, wieder eine Familie sein zu können. Anna-Lena Heizmann, lange blonde Haare, wache Augen und freundliches Lächeln, ist Sozialarbeiterin beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Konstanzer Jugendamts.
Der ASD ist, wenn man so will, die Herzkammer der sozialen Hilfsdienstleistungen der Stadt. Eltern, die in der Erziehung nicht mehr weiterwissen oder in Scheidungs- oder Trennungsfragen zerstritten sind, wenden sich an den ASD. Ebenso Jugendliche, die zuhause Probleme haben. Jede:r Betroffene kann diese Leistung beziehen, es besteht ein Rechtsanspruch darauf. Der Fachdienst ist aber auch für soziale Institutionen, Schulen, Kitas zentrale Anlaufstelle, um Beratung und notwendige Hilfen zu vermitteln oder im Bereich Kindeswohlgefährdung auf eine kritische Situation hinzuweisen.
51 Kinder mussten 2022 aus ihren Familien geholt werden
„Wir sind sozusagen für eine gewisse Zeit Wegbegleiter der Familien und freuen uns aber auch, wenn unsere Unterstützung nicht mehr vonnöten ist“, erklärt Heizmann ihren Job. Das Problem ist nur: Ihre Unterstützung ist mehr denn je vonnöten.
Die Lage in einigen Konstanzer Familien wird immer angespannter. Konflikte nehmen zu, die Zahl an Sorgerechtsstreitigkeiten steigt, immer mehr Kinder müssen zu ihrem eigenen Schutz aus ihren Familien geholt werden, die Anzahl der Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen wächst seit Jahren. Nachlesen kann man das alles im aktuellen Geschäftsbericht des Konstanzer Jugend- und Sozialamts. Seit 2016 ist demnach die Zahl der vom Amt vermittelten Hilfen zur Erziehung um 42 Prozent gestiegen.
Die seit 2015 steigenden Betreuungsfälle der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten sind darin nicht mal eingerechnet. Bei 145 Kindern gab es im vergangenen Jahr einen Verdacht auf Gefährdung, 51 Kinder mussten mindestens zeitweise aus ihren Familien geholt und in Pflegefamilien oder Wohngruppen untergebracht werden. Einundfünfzig.
Warum sich die Eskalationsspirale immer schneller dreht
Das sind 51 Einzelschicksale, die die wachsende Überforderung bei der Erziehung sichtbar machen. Die Gründe dafür sind oft vielfältig: beengte Wohnverhältnisse, Arbeitsplatzverlust, Armut, manchmal auch psychische Erkrankungen. Immer häufiger kommen mehrere Probleme in Familien zusammen, die Eskalationsspirale dreht sich schneller. Die Teuerungsraten der vergangenen Jahre tragen ihren Teil dazu dabei, erst recht in einer teuren Stadt wie Konstanz.
Man hat sich daran gewöhnt, solche Sätze zu lesen, aber was sie in letzter Konsequenz wirklich bedeuten, ahnt man erst, wenn man mit Anna-Lena Heizmann gesprochen hat. In ihrem Arbeitsalltag muss sie oft Dinge sehen, die manchmal nur schwer zu ertragen sind.
„Aktuell haben wir viel mit sexuellem Missbrauch an Kindern zu tun, es gibt auch Fälle von Vernachlässigungen. Neulich hatten wir einen Fall, wo offensichtlich war, dass das Kind deutliche Schmerzen hat, und die Eltern haben einfach nichts getan. Wenn man sich dann einfühlt, was das für das Kind bedeuten muss, ja, das macht dann schon was mit einem, das geht nicht spurlos an einem vorbei“, sagt die Sozialarbeiterin.
Armut ist ein Faktor, aber: Kinder werden auch in wohlhabenden Familien vernachlässigt
Sie sagt aber auch: Kinder sind nicht nur in armen Familien in Gefahr, das passiert auch in wohlhabenden Haushalten. Mit anderen Worten: Im Musikerviertel ist das genauso ein Problem wie im Berchengebiet. „In eine Lebenskrise kann jeder rutschen und dann geht es manchmal ganz schnell. Das zieht sich auch durch alle Schichten.“
Die Sozialarbeiter:innen im Konstanzer ASD haben sich ihre Arbeit nach Bezirken aufgeteilt. Jede:r ist in der Regel zuständig für einen Bezirk. Anna-Lena Heizmann kümmert sich beispielsweise um Litzelstetten und Dingelsdorf. Im ASD gibt es insgesamt 17 Mitarbeitende auf 15,55 Stellen. Im gesellschaftlichen Gedächtnis sind die vom Jugendamt die, die einem die Kinder wegnehmen können, wenn es Probleme gibt. Aber tatsächlich liegt ein großer Teil der Arbeit woanders. Es geht eher darum, Familien zu unterstützen, sie zu befähigen, ihren Alltag zu bewältigen, und bei der Erziehung zu helfen.
Was passiert, wenn die Polizei einen Notfall meldet
Wenn die Polizei anruft, weil ein Kind in Gefahr sein könnte, dann muss es manchmal auch ganz schnell gehen. Ein Team von drei bis vier Leuten zusammenstellen, die Lage analysieren, allenfalls auch direkt zur Wohnung der betroffenen Familie fahren, um das Kind oder die Kinder in Obhut zu nehmen. Einen Plan entwerfen, wo die Kinder untergebracht werden könnten. Gibt es Großeltern oder andere Verwandtschaft, die helfen können? Gibt es einen freien Platz in einer Wohngruppe? Oder bei jüngeren Kindern – gibt es eine Pflegefamilie, die zumindest auf Zeit die Betreuung übernimmt?
Immer wieder geht es auch darum, Fakten zu checken. Kommt beispielsweise ein Hinweis auf Gefährdung eines Kindes aus der Bevölkerung, müssen die Sozialarbeiter:innen prüfen, was an dem Verdacht wirklich dran ist. Es kommt durchaus vor, dass sich Menschen, die sich einmal geliebt haben, gegenseitig anschwärzen. In schmutzigen Scheidungskriegen wird so etwas heutzutage als Waffe eingesetzt. Aus Rache. Oder purer Boshaftigkeit, um dem anderen zu schaden. Am Ende leiden darunter vor allem die Kinder.
Oberstes Ziel: Wann immer es geht, sollen die Kinder bei den Eltern bleiben
Da die Contenance zu wahren, ist für Sozialarbeiter:innen auch nicht immer leicht. Deshalb entscheidet beim ASD auch nie jemand alleine. Es gilt das Vier-Augen-Prinzip.
Die grundsätzliche Devise in Konfliktfällen ist: Wann immer es geht, sollen Kinder in ihren Familien bleiben: „Kinder gehören zu ihren Eltern. Wenn dies aber durch verschiedene Faktoren wie beispielsweise Vernachlässigung oder Gewalt aktuell nicht möglich ist, schützen wir im ersten Schritt die Kinder und versuchen dann im zweiten Schritt mit den Eltern zu erarbeiten, wie die Kinder wieder nach Hause kommen können“, erklärt Anna-Lena Heizmann die Arbeitsweise des ASD.
Nicht jeden Tag gibt es einen solchen Notfall, nicht jeder Tag ist so aufreibend. Aber als Sozialarbeiter:in muss man heute bereit sein, jeden Tag in die Abgründe der Menschheit zu blicken. „Entweder macht man diesen Job gerne oder man wird nach zwei Jahren verrückt. Weil es keine Woche gibt, die der anderen gleicht“, sagt Heizmann.
Schlimmer als bei Erzieher:innen: Fachkräftemangel trifft die sozialen Dienste hart
Was die Lage mittlerweile verschärft – immer weniger Menschen wollen diesen Job ausüben. Nach Zahlen des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung herrschten in den Jahren 2021 und 2022 nirgendwo größere Fachkräftelücken als in den Bereichen Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Selbst die ebenfalls vom Fachkräftemangel geplagten Berufe Erzieher:innen und Altenpfleger:innen landen erst auf den Plätzen dahinter. Im Schnitt blieben demnach bundesweit 20.578 Stellen für Sozialarbeiter:innen unbesetzt.
Das spürt auch Markus Schubert. Schubert ist Leiter des ASD in Konstanz und sagt: „Früher hatten wir auf eine Stelle 70 bis 80 Bewerbungen, heute können wir froh sein, wenn überhaupt welche kommen.“ Er weiß das so genau, weil er zuletzt viel häufiger Jobs ausschreiben musste, als ihm lieb war. Allein 2023 gab es fünf Kündigungen, die Fluktuation im Team ist hoch, vielen ist die Belastung zu groß geworden. „Ich bin seit 17 Jahren hier, aber so eine dramatische Situation habe ich noch nie erlebt“, sagt Schubert.
Der Amtsleiter sendet einen dringenden Hilferuf an die Politik
Deshalb hat er sich im vergangenen Juni zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen. Er sendete einen Hilferuf an die Politik. Die Botschaft an den zuständigen Jugendhilfeausschuss des Gemeinderats lautete: „Wenn wir jetzt nicht eingreifen, können wir einen fachlich vertretbaren Kinderschutz nicht mehr gewährleisten.“ Heißt im Klartext: Im Zweifel könnte nicht mehr jedem Hinweis auf Kindeswohlgefährdung nachgegangen werden. Kinder wären möglicherweise in Gefahr und niemand würde sich kümmern. Es wäre die komplette Bankrotterklärung des Sozialstaats.
Der Kern des Problems: In den vergangenen Jahren gab es nicht nur mehr Fälle für den ASD, sondern auch die Dramatik einzelner Fälle hat stark zugenommen. Hochstrittige Sorgerechts- und Umgangsstreitigkeiten, Konflikte zwischen Eltern, die sich auf die Kinder übertragen, Verbissenheit und Unerbittlichkeit führen zum Familienkollaps. Erst brechen die Familien auseinander, dann zerbrechen die, die eigentlich helfen sollen.
Auf Dauer sei diese Belastung für die dünner werdende Decke an Sozialarbeiter:innen nicht mehr zu stemmen, sagt Markus Schubert. Erst recht, wenn die erfahrenen Kräfte entweder in Rente gehen oder den Beruf wechseln. „Für Berufseinsteiger:innen ist das schon hart“, räumt der ASD-Chef ein. Ob die zunehmend zerrütteten Verhältnisse in Familien auch eine Folge der Pandemie seien? Schubert winkt ab: „Ich glaube, wir haben längst nicht alle Folgen der Pandemie erlebt, aber man kann auch nicht alles auf diese Zeit schieben.“
Wie dramatisch ist die Lage in Konstanz wirklich?
Das ist ein guter Moment, um mal kurz innezuhalten. Wie dramatisch ist die Lage in Konstanz wirklich? Vergleichszahlen von Land und Bund zeigen, dass Konstanz bei den Werten für Hinweise auf Kindeswohlgefährdung im Mittelfeld liegt. Die Entwicklung ist fast überall dieselbe: Die Kurve steigt an. Woran das liegen könnte?
Ein Grund dafür: Nach den diversen Missbrauchsskandalen sind die Menschen offenbar auch sensibilisierter für das Thema, Hinweise werden heute womöglich schneller gegeben als noch vor 20 Jahren. Was für sich genommen ja eine gute Entwicklung ist. Nur: Die Personalstrukturen in den Ämtern sind nicht im gleichen Maße mitgewachsen.
Konstanz ist hier kein Einzelfall: Zwei Wochen nach meinem Gespräch mit Markus Schubert verschickt auch der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt eine Pressemitteilung: „Die Situation in der Erziehungshilfe ist prekär. Immer häufiger kann die Kinder- und Jugendhilfe Bedarfe von Familien nicht erfüllen.“
„Konstanz ist immer noch eine sozial intakte Stadt.“
Markus Schubert, Leiter Allgemeine Soziale Dienste
Muss man sich also um den sozialen Zusammenhalt in Konstanz Sorgen machen? Markus Schubert holt kurz Luft und sagt dann: „Nein, das glaube ich nicht. Konstanz ist immer noch eine sozial intakte Stadt, aber klar ist auch, dass wir die Entwicklungen ernst nehmen und darauf reagieren müssen.“
Die erste Reaktion darauf lautet: Der ASD arbeitet mindestens bis zum Oktober im Notfallmodus. Das bedeutet vor allem, dass die Fälle im Sozialamt nun nach Dringlichkeit priorisiert werden. Nur so könne sichergestellt werden, dass alle potenziellen Gefährdungsmeldungen auch wirklich bearbeitet werden können.
Auf die Frage, was das konkret heißt, erklärt Markus Schubert: „Wenn im Mai beispielsweise ein Elternteil eines autistischen Kindes eine Schulbegleitung für das nächste Schuljahr im September beantragt, dann müssen wir diesem Elternteil erstmal sagen: Ja, wir kümmern uns, aber nicht jetzt.“ Wer kein Notfall ist, muss also beim ASD mit Wartezeiten rechnen.
Das Problem: Wer Fälle priorisiert, verschiebt die Probleme in die Zukunft
Dass das keine richtig gute Lösung ist, weiß Markus Schubert auch. Weil es mögliche Probleme nur in die Zukunft verlagert oder, noch schlimmer, manche Probleme auch erst schafft, weil sie nicht frühzeitig durch Beratung und Unterstützung verhindert wurden. „Wir würden auch lieber anders arbeiten, aber gerade können wir das System nicht anders stabilisieren als durch Priorisierungen“, bedauert Schubert.
Um die Belastung der Mitarbeiter:innen zu reduzieren, wurden bereits jetzt kurzfristige Maßnahmen getroffen: Neben Coachings und Fortbildungen gibt es nun auch eine intensivere Zusammenarbeit zwischen erfahrenen und unerfahrenen Sozialarbeiter:innen. Und: Die vier noch offenen Stellen sollen bis September besetzt sein. Die Hoffnung ist, dass so bis Ende September die Lage wieder stabil wird und der Notfallmodus beendet werden kann. Und wenn nicht? „Dann müssen wir den Notfallmodus nochmal bis 1. Januar verlängern“, sagt Schubert.
Diese Konstanzerinnen wollen Familienthemen in den Gemeinderat bringen
Das Ziel: Arbeitsbelastung runter, Bezahlung rauf
Aber selbst, wenn all das gelingt – auch danach hören die Probleme ja nicht auf. Was also tun, um auch langfristig den Schutz von Kindern zu gewährleisten? Die Arbeitsbelastung soll dauerhaft gesenkt werden, damit der Beruf wieder attraktiver wird. Mitarbeiter:innen sollen künftig weniger Fälle bearbeiten als bislang, eine weitere Stelle soll geschaffen werden, die nach Bedarf besetzt werden kann, es sollen Anreize geschaffen werden, um Menschen im Job zu halten. Zum Beispiel durch eine finanzielle Zulage über den Tarifvertrag hinaus. Aber mit einem vergleichbaren Wunsch sind zuletzt schon die Erzieher:innen im Konstanzer Gemeinderat gescheitert.
Eine grundsätzlich bessere Bezahlung der Sozialarbeiter:innen wäre auch etwas, das Markus Schubert gut fände. Aber das liegt nicht in der Macht der Stadt, das ist tariflich geregelt. Abhängig von Erfahrung und Beschäftigungsdauer liegt der Verdienst für Sozialarbeiter:innen derzeit zwischen 3.446 und 4.860 Euro brutto. Für Berufsanfänger:innen bleiben da vielleicht 2.000 Euro netto. So viel bekommt man in anderen, weniger stressigen Jobs auch. „Wer tut sich das noch an, wenn wir die Rahmenbedingungen nicht ändern?“, fragt Markus Schubert. Es bleibt ein Grundproblem unserer Gesellschaft, dass soziale Berufe zu gering bezahlt werden.
Trotz allem: Der Job hat auch seine guten Seiten
Deswegen aufgeben? Keine Option für Anna-Lena Heizmann. Es gebe ja auch schöne Seiten an dem Beruf: „Es ist schön zu sehen, wenn wir Familien, Kinder und Jugendliche dabei unterstützen können, aus ihrer individuellen Problemlage wieder herauszufinden, sodass unsere Hilfe nicht mehr nötig ist. Wir haben im Laufe der Woche mit sehr vielen Menschen, Einrichtungen und Fachpersonen zu tun und das macht die Arbeit im ASD für mich so spannend und vielseitig.“
Wenn sie trotzdem mal wieder von den Arbeitsbedingungen, der schlechten Bezahlung und der mäßigen gesellschaftlichen Wertschätzung frustriert ist, dann erinnert sie sich daran, weshalb sie den Beruf überhaupt gewählt hat: „Für den Job habe ich mich entschieden, da ich einen Sinn in unserer Arbeit sehe.“
Sollte die Stadt irgendwann mal eine Kampagne für den Beruf Sozialarbeiter:in planen, Anna-Lena Heizmann wäre nicht die schlechteste Botschafterin dafür.
Im Einsatz für junge Menschen, die durch das soziale Netz fallen
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