- Dieser Artikel ist ein Auszug aus Michael Buchmüllers Buch „Stadtgesichter“. Es ist Michaels zweites Buch.
- 2022 erschien sein erstes Buch „Konstanzer Stadt(teil)-Geschichten“, in dem Konstanzer:innen davon erzählen, wo und wie sie wohnen und leben.
Die orange leuchtende Fassade des Neuwerks strahlt in der Morgensonne. Susanne Kiebler betritt ihr Atelier, schließt die Tür und ist „bei sich“. Auf 100 Quadratmetern, mit hohen Decken und durchflutet von Tageslicht, lagern rund 400 ihrer Gemälde an der rechten Wand.
„Hier vergesse ich die Zeit“, erzählt sie.
Neben dem Zeichnen liebt sie es, mit Papier und Collagen zu experimentieren. Ihr riesiger, selbst gebauter Pinsel aus Pferdeschweifen hängt frei beweglich von der Decke, steuerbar mit einem Lkw-Lenkrad. Ihre Kunst ist für sie Luxus, den sie nach dem Ende ihrer Berufstätigkeit in vollen Zügen genießen will.
Vom Allgäu an die Akademie
Kiebler wurde 1959 im Allgäu geboren und wuchs in einem kreativen Umfeld auf. Ihr Vater war Architekt, und sie erinnert sich noch gut an den Geruch von Blaupausen und das Kratzen der Stifte auf den großen Zeichenbrettern. Schon früh begann sie zu zeichnen und entwickelte eine Leidenschaft für präzise Wiedergaben. Nach dem Abitur schaffte sie es unter die wenigen Bewerber:innen, die an der renommierten Akademie der Bildenden Künste in München aufgenommen wurden. Ihre frühen Arbeiten zeigten eine beeindruckende Präzision, aber sie suchte noch nach ihrer eigenen künstlerischen Handschrift.
Während des Studiums experimentierte sie mit Farben, stellte jedoch fest, dass ihr die Reduktion und Konzentration auf wenige Farbtöne und Stifte besser lagen.
„Ich bin und bleibe eine Zeichnerin“, erkannte sie früh.
Nach ihrem Abschluss in München und einem zusätzlichen Studium der Kunstgeschichte arbeitete sie als Lehrerin, bevor sie 2004 an der Pädagogischen Hochschule Thurgau begann, Kunststudierende zu unterrichten. Hier baute sie 19 Jahre lang den Fachbereich für „Bildnerisches Gestalten“ auf, bevor sie sich 2023 ganz ihrer Kunst widmen konnte.
Ein zentrales Motiv ihrer Arbeiten sind die Berge, die sie bei Skitouren in den Alpen fotografiert. Diese Schwarz-Weiß-Fotos vergrößert sie, reduziert die Kontraste und bearbeitet sie mit Tusche. Der kreative Prozess beginnt oft schon beim Aufwachen, wenn Ideen in ihrem Kopf entstehen, die sie sofort ins Atelier treiben. Endlich hat sie die Freiheit, sich voll auf ihre Kunst zu konzentrieren. „Jetzt kann ich mich auch mehr ums Vermarkten kümmern“, sagt sie, obwohl das für sie nie Priorität hatte. Trotzdem war sie bereits zweimal auf der zweitgrößten Kunstmesse Deutschlands, der Art Karlsruhe, vertreten.
Freiraum für Kreativität und Kalligrafie
Seit den Anfängen des Neuwerks ist Kiebler Mitglied dieser Künstler:innensiedlung, die einst eine Gipsplattenfabrik war und später von Künstler:innen und Handwerker:innen genutzt wurde. Das Neuwerk wurde zu einem „absoluten Erfolgsmodell“, wie sie sagt. Heute wird ein Drittel der Fläche von Kunstschaffenden genutzt, die für ihre Ateliers günstigere Mieten zahlen. Die Bewohner:innen haben eine besondere Vereinbarung: Jede Genossin und jeder Genosse muss jährlich zehn Arbeitsstunden leisten, die man auch durch handwerkliche Arbeiten am Gebäude oder das Helfen bei Sommerfesten abarbeiten kann. Zudem gibt es kein „Recht auf Ruhe“, was bedeutet, dass auch nachts um zwölf noch die Kreissäge angeschaltet werden darf.
Aus einem Fortbildungssemester an der PH Thurgau, das sie in der Mongolei verbrachte und dort auch künstlerische Projekte an Schulen in der Hauptstadt Ulan-Bator durchführte, hat sie die chinesische und japanische Kalligrafie-Technik mitgebracht. Dort male man nicht aus dem Handgelenk und mit schräg angesetztem Pinsel, sondern aus dem Arm und senkrecht von oben. Das habe sie interessiert: „Etwas aus einem anderen Kulturraum in meine Bildwelt integrieren.“ Man sieht die kalligrafischen Einflüsse, gerade auch in den Berg-Bildern. Daneben hat sie Kisten, in denen sie Wald- oder Seemotive sammelt.
„Ich bin ein Nerd, wenn es ums Aufräumen geht.“
Es gebe ja so viele Kunstrichtungen, politisch motivierte, welche, in denen Biografien verarbeitet werden, andere, bei denen über Interaktion Neues entstehe. „All das ist es nicht meins.“ Ihr großes Vorbild über all die Jahrzehnte geblieben ist Cy Twombly, ein meisterhafter Zeichner, mit einem unglaublichen Gespür für Komposition und fast kindlich anmutende Zeichnungen.
Moderne Kunst, in der, so Kiebler, ein Qualitätsmerkmal Folgendes sei: „Du kannst nur improvisieren und weglassen, wenn du weißt, wie es eigentlich geht.“ Reduktion, Umgang mit Materialität, die sich bewusst von der getreuen Wiedergabe der Wirklichkeit entfernt hat. Für den laienhaften Zuschauer:innen nicht immer leicht zu erschließen.
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