Sich vor der Welt verstecken

In der Uraufführung „Nice“ von Kristo Šagor am Theater Konstanz geht es um zwei Freunde, die durch Gaming und Kiffen aus dem Alltag fliehen. Doch was, wenn dies zur Sucht wird?
  • In der Uraufführung „Nice“ am Theater Konstanz beleuchten die Freunde Mark und Malte, wie Gaming und Drogen zur Flucht aus der Realität führen können.
  • Mark wird im Online-Spiel „Fleet vs. Fleet“ zum Piratenkönig, während Malte sich in Kiffen verliert, was zu ernsthaften Suchtproblemen führt.
  • Das Stück thematisiert die Hilflosigkeit der beiden und ihre Suche nach Lösungen durch Psychologie, Philosophie und Spiritualität.
  • Humorvolle Elemente lockern die düstere Thematik auf, während die Schauspieler emotional eindrucksvoll agieren.
  • Musik wird als mögliche Rettung präsentiert, wobei die Liebe als Begleiter, nicht als Lösung der Sucht fungiert.
  • „Nice“ regt zur Reflexion über Sucht und zwischenmenschliche Beziehungen an und bietet Ansätze zur Bewältigung des Alltags.

In Zeiten der Krisen und Kriege um uns herum möchte man sich manchmal einfach verkriechen und nichts mehr mit der Welt zu tun haben. So geht es auch Mark und Malte, zwei Freunden, die sich schon seit ihrer Schulzeit kennen und nun in einer Berliner WG leben. Dort drücken sich beide nicht nur davor das Bad zu putzen, sondern verschließen sich auch immer mehr vor der Außenwelt. „Trump, Putin, Orban, Kazyński, Duterte. Wie soll‘s mir da gutgehen?“, fragt Malte seinen Freund Mark.

„Und nebenbei geht die Welt unter. Die Meeresspiegel steigen. Der Wald stirbt.“

Dieser hat eine Hintertür gefunden, in eine Welt, in der all diese Probleme keine Rolle spielen: das Online-Game Fleet vs. Fleet. Ein Strategiespiel, in dem es darum geht, die Flotten anderer Piraten zu erobern. Mark investiert in dieses Spiel seine komplette Freizeit und große Teile seines Einkommens.

Mark (Julius Engelbach, links) und Malte (Tobias Amoriello) haben sich ihren Zufluchtsort in ihrer WG eingerichtet. | Foto: Milena Schilling

Durch In-Game-Käufe bessert er sein Equipment auf und wird schließlich zum Piratenkönig seiner Flotte. In dieser Welt ist er jemand. Ein Anführer. Er kann sich mit Menschen aus der ganzen Welt unterhalten und ein Team bilden, in dem man zusammenhält und Strategien ausarbeitet. Außerdem gibt es noch Lady V, eine promovierte Geologin aus Michigan, mit der Mark flirtet. Mark erfährt sich in der Gaming-Welt als selbstwirksam:

„Ich drück auf einen Knopf und es passiert genau das, was ich will. Im echten Leben habe ich das Gefühl: Egal, was ich mache, es ändert überhaupt nichts. Weniger Fleisch essen, Plastikmüll reduzieren, ein Tropfen auf den heißen Stein…“

Wieso sollte er sich also in der Realität aufhalten, die nicht besonders nice ist?  

Ein Stück über Freundschaft, Liebe und Zusammensein

Mitbewohner, beste Freunde, Boyfriends – die Beziehung von Mark und Malte ist komplex. 

Immer wieder kommt Malte in Marks Zimmer. Sein Freund und WG-Mitbewohner versucht, ihn aus der Reserve zu locken und aus der digitalen Welt zu holen. Doch auch Malte hat eine Fluchtmöglichkeit aus der Realität gefunden. Er kifft. Mehr und mehr verlieren sich Malte und Mark in ihren Parallelwelten, es geht schleichend, doch irgendwann ist klar: Beide haben ein Suchtproblem. Sie befinden sich auf einer Abwärtsspirale, die in die Tiefe, ins Dunkle, in den Kontrollverlust führt. Malte erlebt Psychosen und einen Verfolgungswahn, Mark zockt pausenlos, 48 Stunden ohne Schlaf. 

Zunächst einmal zeichnet das Stück die große Hilflosigkeit der Betroffenen und ihres Umfelds auf. „Kann ich irgendwas machen?“, fragt Mark. „Wenn ich das wüsste. Dann würde ich es vermutlich selber machen“, antwortet Malte. „Mach doch einfach mal das Gegenteil von dem, was du sonst immer machst“, schlägt Mark daraufhin vor. Aber das ist zu vage, es funktioniert nicht. Also sucht der Autor Kristo Šagor unterschiedliche Lösungsansätze: Psychologie, Philosophie und Naturwissenschaften scheinen keine guten Ratgeber zu sein. Die beiden jungen Männer wünschen sich spirituelle Hilfe.

Doch anstatt sich mit entsprechenden Ansätzen auseinanderzusetzen, analysieren sie Sätze von Redewendungen wie „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ bis hin zu existenziellen Fragen. Auch das: wenig hilfreich. Šagor wählt daraufhin die Liebe als Ausweg. Kurzzeitig hat man als Zuschauer:in Angst, dass das Stück nun in eine hollywoodähnliche Richtung abdriftet, in der die Liebe ja immer als Rettung für jeglichen Konflikt herhalten muss. Drogensucht? Depression? Gewaltvolle Kindheit? Kein Problem! Wenn du die Liebe findest, ist alles wieder gut. Doch so einfach und realitätsfern macht es uns das Stück „Nice“ zum Glück nicht. Denn auch die Liebe kann keine Sucht heilen, aber begleiten – und das ist ja immerhin etwas. 

Viel Humor trotz düsterer Thematik 

Die beiden Schauspieler Tobias Amoriello und Julius Engelbach, die Malte und Mark darstellen, hangeln sich in ihren Neontrainingsanzügen in einem großen Metallkubus auf der Bühne von einer Ebene zur anderen (Bühnenbild und Kostüm: Lukas Fries). Es ist eine artistische und sportliche Leistung, wie sie sich darin bewegen und gleichzeitig die emotionalen Höhen und Tiefen mitnehmen, ohne komplett in düstere Stimmungen zu verfallen.

Am Ende performt Tobias Amoriello am Keyboard und singt vom Versteckenspielen. 

Im Gegenteil: Das Stück lebt von viel Witz und Ironie, das Publikum ist bestens unterhalten. Auch wenn es viel um Selbstzweifel geht, innere Unzulänglichkeit und das Gefühl, nicht gut zu sein, heben absurde Momente wie die Vorstellung eines Kakerlakenimperiums sich immer wieder von der Tiefe der Thematik ab (Dramaturgie: Romana Lautner). Regie führt Sergej Gößner, der mit seinem Stück „Der fabelhafte Die“ bereits am Theater Konstanz zu sehen war. Damals führte Šagor Regie – es ist also ein Rollentausch, den die beiden hier in ihrer Funktion als Autor und Regisseur vollführen. 

Letzten Endes gibt es in „Nice“ dann doch die Andeutung einer Lösung. Wenn Tobias Amoriello alleine am Keyboard „Hide and Seek“ von Imogen Heep performt, dann ist es ähnlich anrührend wie Kim de L’Horizons Gesang bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises. An dieser Stelle wird klar, dass die Musik als mögliche Rettung infrage kommt und die Kunst eine Möglichkeit sein kann, um den Endgegner Alltag zu bewältigen. „Die Liebe siegt. Immer.“, heißt es am Ende. Und wenn man über das Hollywood-Klischee hinausdenkt, findet man hier die spirituelle Antwort. 

Oktober 
Sonntag, 20.10.2024 | 18:00  

Donnerstag, 24.10.2024 | 19:30  

Sonntag, 27.10.2024 | 18:00  

 
November 
Samstag, 09.11.2024 | 18:00  

Samstag, 16.11.2024 | 18:00  

Wenn du selbst von einer Sucht betroffen bist, hol dir Hilfe! 
Suchtberatung Konstanz:
Psychosoziale Beratung | ambulante Behandlung | Prävention
www.suchtberatung-konstanz.de 
Telefon: 07531 – 3 65 58 55   


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