Die E-Mail hat den Brief als gängigstes Mittel des förmlichen Schriftverkehrs längst abgelöst. Trotzdem gilt nach wie vor: Schlechte Nachrichten kommen meistens per Post. Ganz real in einen Briefkasten vor der Haustür.
So war das auch in der ersten Aprilwoche als einige Konstanzer Familien unangenehme Nachrichten von der Gemeinschaftsschule (GMS) Gebhard und dem Ellenrieder Gymnasium erhielten. „Wir müssen Sie leider informieren, dass aufgrund der hohen Anmeldezahlen für Stufe 5 auch in diesem Schuljahr ein so genanntes Klassenausgleichsverfahren erfolgen muss. (…) Ihr Sohn/Ihre Tochter erhält nicht an unserer Schule, sondern an der Gemeinschaftsschule Lotte Eckener einen Schulplatz für die Klasse 5“, hieß es beispielsweise im Brief der Gebhardschule, den vor allem Kinder der Wallgutschule bekommen haben.
Sowohl an der GMS Gebhard als auch am Ellenrieder-Gymnasium hatten sich mehr Schüler:innen angemeldet, als aufgenommen werden können. Wenn so etwas passiert, und das passierte in den vergangenen Jahren regelmäßig, dann startet das sogenannte Klassenausgleichsverfahren oder Schüler:innenlenkungsverfahren. Es soll Schüler:innen von überlaufenen Schulen in weniger überlaufene Schulen lenken. Daher der Name.
Was für die Schüler:innenlenkung spricht
Es ist ein Prozess, der aus Sicht der Schulverwaltung und des Schulträgers, also der Stadt Konstanz, Sinn ergibt. So kann verhindert werden, dass an einer Schule wenige, dafür übervolle Klassen gebildet werden, während an einer anderen Schule kleine Lerngruppen eingerichtet werden sollen. Vorhandener Schulraum soll schließlich gleichmäßig genutzt werden.
Die steigende Beliebtheit der Gemeinschaftsschule in Konstanz führt inzwischen dazu, dass vor allem dort Schüler:innen abgewiesen werden. In konkreten Zahlen gesprochen: Im vergangenen Jahr gab es an der GMS Gebhard nach Angaben des zuständigen Schulamts 178 Anmeldungen. Für das kommende Schuljahr lag diese Zahl bei 204. Dabei gibt es bereits jetzt eine Raumnot an der Petershauser Schule.

Volle Schule: Gebhardschule startet siebenzügig ins neue Schuljahr
Bei einer Anmeldezahl von 204 Kindern und einer vorgegebenen Höchstschüler:innenzahl pro Klasse (28 an GMS, bei Inklusionsklassen etwas geringer), kann man sich leicht ausrechnen, was das für die Schule bedeutet hätte. Es hätte acht Züge in der 5. Klasse benötigt, um alle Schüler:innen zu versorgen.
Jenseits der Frage, ob es pädagogisch sinnvoll ist, einen so großen Jahrgang zu bilden – die begrenzte Anzahl an Räumen und Lehrer:innen, macht eine solche Komplettversorgung an der GMS Gebhard unmöglich. Schon jetzt geht die Schule an ihre Grenzen. Das nächste Schuljahr startet sie 7-zügig. Für viele Schüler:innen hat das die Konsequenz: Unterricht im Container irgendwo auf dem Schulhof wird zum Alltag.
Die Lage an den Konstanzer Gymnasien
An den Konstanzer Gymnasien ist die Lage nach Angaben des zuständigen Regierungspräsidiums (RP) Freiburg nicht ganz so angespannt: „Im letzten Schuljahr mussten in Konstanz bei den Gymnasien 36 Kinder gelenkt werden. Diesmal sind es erfreulicherweise erheblich weniger Kinder“, schreibt das RP auf Nachfrage.
Eine konkrete Zahl für dieses Jahr will das RP nicht nennen, da das Verfahren noch nicht abgeschlossen sei. Ohnehin gelte: Zahlen zu einzelnen Schulen werden nicht bekannt gegeben. Man wolle als Aufsichtsbehörde „keine Konkurrenzsituation heraufbeschwören“, erklärt eine Sprecherin des RP.

Das Problem: es gibt kein festgelegtes Verfahren
Grundsätzlich gilt: die große Mehrheit der Schüler:innen erhält einen Platz an ihrer Wunschschule. Gleichwohl ist es für die, die aussortiert werden eine unangenehme Erfahrung. Vor allem, weil das Verfahren dahinter nicht transparent ist. Das bestätigt indirekt auch das RP: „Für die Schülerlenkung gibt es kein festgelegtes Verfahren“, erklärt Heike Spannagel, Sprecherin der Behörde. Genau das hatte zu Irritationen in den betroffenen Konstanzer Familien geführt.
So war zunächst nicht nachvollziehbar, weshalb einzelne Kinder abgelehnt wurden, andere aber nicht. Zu Verunsicherung trug bei, dass die GMS Gebhard ihre Ablehnungsbescheide zwar gesamthaft am 31. März zur Post gegeben hatte, die Briefe aber sehr unterschiedlich bei den Familien ankamen.
Ein Kriterium: Was ist ein zumutbarer Schulweg?
Die Grundlage für die Schüler:innenlenkung steht im Schulgesetz des Landes. Dort heißt es, dass kein Anspruch auf eine bestimmte Schule besteht, solange der Besuch einer anderen Schule desselben Schultyps möglich und dem Schüler, der Schülerin zumutbar ist. Aber was genau heißt das?
„Ein wichtiges Kriterium ist der Schulweg unter Berücksichtigung der Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Grundsätzlich können auch pädagogische Gesichtspunkte einfließen, zum Beispiel kann sich eine Schule auch davon leiten lassen, ob Kinder aus bisherigen Grundschulklassen in Gruppen aufgenommen werden können“, schreibt die RP-Sprecherin Heike Spannagel auf Nachfrage.
Wallgutschule wurde pauschal abgewiesen
Das dürfte in diesem Jahr in Konstanz der Fall gewesen sein. Schließlich wurden beispielsweise an der GMS Gebhard vor allem Grundschulkinder der Wallgutschule abgewiesen. Im vergangenen Jahr hatte es noch die Grundschule Allmannsdorf getroffen. Diese Praxis bestätigt auch Gerhard Schlosser, kommissarischer Leiter des Schulamts Konstanz. Seine Behörde ist zuständig für alle Schularten außer den Gymnasien. Die sind in der Obhut des Regierungspräsidiums.
Schlosser erklärt im Gespräch mit karla: „Bei der Auswahl versuchen wir, bestimmte Schülergruppen pauschal zu lenken, damit diese Gruppen beieinander bleiben können und nicht auseinander gerissen werden. So bleiben soziale Kontakte und Freundschaften unter den Schülerinnen und Schülern erhalten. In diesem Jahr waren so zum Beispiel die Schüler der Wallgutschule betroffen. Diese Lenkungen haben rein organisatorische Gründe und haben nichts mit den abgewiesenen Schülern persönlich zu tun.“

Die Zusammenstellung einer Klasse: Fast wie ein Puzzle
Manchmal sei das Lenkungsverfahren, das in Abstimmung zwischen Schulträger, Schulverwaltung und den jeweiligen Schulen läuft, auch wie ein Puzzlespiel: „Wenn es beispielsweise an der Gebhardschule 13 Anmeldungen zu viel gibt und gleichzeitig 13 oder annähernd 13 Anmeldungen von einer bestimmten Grundschule stammen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese Gruppe gesamthaft gelenkt wird, weil es gerechter ist als einzelne Kinder herauszupicken“, so Schulamtsleiter Gerhard Schlosser weiter.
Was die Lehrer:innenversorgung damit zu tun hat
Daneben gibt es weitere Regeln im Verfahren: Wie viele Klassen eine Schule in einem Jahrgang bilden kann, hängt auch an der Anzahl der Lehrer:innnen, die zur Verfügung stehen. Die Anzahl der einer Schule vom Land zugewiesenen Lehrerwochenstunden bemisst sich an der Zahl der zu bildenden Klassen, nicht nach der Anzahl der Schüler:innen. Also mehr Schüler:innen in den Klassen bedeutet nicht automatisch eine bessere Lehrer:innenversorgung.
Zudem gilt: Kinder, die bereits Geschwister an einer Schule haben, werden nicht abgewiesen. Kinder, die ihren Wohnsitz nicht in Baden-Württemberg haben, werden stattdessen nur nachrangig aufgenommen.
In einem Gutachten zur Schulentwicklungsplanung bis 2045 hat die Stadt Konstanz auch die Zahl der Schüler:innen erfasst. Die folgenden Grafiken stammen aus dieser Erhebung. Die gesamte Studie ist öffentlich.


Eltern abgelehnter Kinder haben nach dem Bescheid auch die Möglichkeit, ein Gespräch mit der Leitung der ursprünglichen Wunschschule zu führen. Was diese Beratungsgespräche bringen, ist allerdings schwer zu sagen. „Nur schwerwiegende Gründe, wie soziale Härtefalle, die aus dem Anmeldebogen nicht zu entnehmen waren, könnten an der Lenkung nochmal etwas ändern“, erklärt Gerhard Schlosser vom Staatlichen Schulamt Konstanz.
Trotzdem entstand bei manchen Eltern der Eindruck, dass dies nun „Nachverhandlungen“ sein könnten, in denen sie ihrem Kind doch noch einen Platz verschaffen können. Andere Eltern begruben ihre Hoffnungen auf die GMS nach dem recht eindeutigen Brief der Schule.

Auch unklar: Wie werden die verbliebenen Plätze vergeben?
In diesem Brief wurden auch Schulen erwähnt, die noch Aufnahmekapazitäten hatten. Bis zum 11. April konnten sich die Familien neu entscheiden oder – im Fall der GMS Gebhard – an die GMS Lotte Eckener weiterleiten lassen.
Auf die Frage, ob die offenen Plätze an den anderen Schulen nach dem Windhundprinzip (also wer zuerst kommt, bekommt einen Platz, wer später kommt, kann Pech haben) vergeben werden, antwortet das RP lediglich: „In Konstanz gibt es einen bestimmten Zeitraum, in dem sich Schülerinnen und Schüler an einem alternativen Gymnasium anmelden können.“
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Ist die zweite Gemeinschaftsschule eine gleichwertige Alternative?
Nicht für alle Eltern, die ihre Kinder an der GMS Gebhard angemeldet hatten, war die GMS Lotte Eckener eine gleichwertige Alternative. Vor allem wegen der unterschiedlichen Profile und der fehlenden Oberstufe.
Gerhard Schlosser vom Staatlichen Schulamt ordnet die Lage anders ein: „Die Lotte-Eckener-Schule ist vom Bildungsangebot her identisch mit der GMS Gebhard. Es gibt eine große inhaltliche Zusammenarbeit der beiden Schulen, die im Konzept „Family of Schools“ miteinander verbunden sind. Von der Lotte-Eckener-Schule können Kinder auch später an die Oberstufe der GMS Gebhard wechseln, wenn sie das Abitur machen wollen. Wer sich also für eine Gemeinschaftsschule entscheidet, der bekommt genau dieselben Möglichkeiten auch auf der Lotte-Eckener-Schule.“
Warum das Problem in den nächsten Jahren größer wird
Bis Pfingsten soll das gesamte Schulanmeldungsverfahren endgültig abgeschlossen sein, erst danach wissen alle Familien zuverlässig, an welche Schule ihr Kind künftig gehen wird. Aber das Regierungspräsidium beruhigt zumindest für dieses Jahr: „Normalerweise sind nach der ersten Schülerlenkung keine weiteren Lenkungen notwendig, da alle noch nicht versorgten Kinder einen Gymnasialplatz erhalten.“ Kinder ohne gymnasiale Empfehlung können als Alternative zur GMS Lotte Eckener auch die Realschule an der Geschwister-Scholl-Schule wählen.
Absehbar ist allerdings schon jetzt: Für Eltern, deren Kinder in den Jahren ab 2026 auf eine weiterführende Schule wechseln wollen, wird das Problem vermutlich noch größer. Die Gemeinschaftsschulen sprengen mit ihrer künftigen 10-Zügigkeit (7 an der GMS Gebhard, 3 an der GMS Lotte Eckener) schon jetzt alle bisherigen Prognosen. Die Zahl der Grundschüler:innen, die an eine weiterführende Schule wechseln, wird bis 2035 weiter steigen (an den Grundschulen wird es dann insgesamt 700 Kinder mehr als jetzt geben) und der Stillstand beim Ausbau von Schulraum wird angesichts knapper finanzieller Mittel bei der Stadt mindestens bis 2035 anhalten. Eltern künftiger Fünftklässler:innen dürfte das eher nicht gefallen. Sie werden sich auf ein härteres Ringen um die Plätze in den beliebten Wunschschulen einstellen müssen.
Transparenz-Hinweis: Unser Autor war auch betroffen von der Schüler:innenlenkung in diesem Jahr. Inzwischen ist er aber froh, dass er einen guten Schulplatz für seinen Sohn gefunden hat.
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