Der Bodensee und ich

Wie sehr prägt einen der Ort, an dem man lebt? Unser Kolumnist Oliver Wnuk schreibt darüber, weshalb er Konstanz verlassen hat und warum er doch eines Tages vielleicht zurückkehrt.

Vor 40 Jahren gab es einen Tag, an dem sich mein Innerstes dazu entschlossen hatte, nicht zu ertrinken.

Ohne sich darüber bewusst gewesen zu sein, welch unsicherer Schwimmer ich war, hatte mich mein Stiefbruder einfach so in den See geworfen.

Das Einzige, was ich noch verschwommen wahrnehmen konnte, war mein Vater an der Reling unseres Badebootes und wie er einen Moment lang meinen Bemühungen gegen das Untergehen zugesehen hatte, bevor er mir den Rettungsring zuwarf.

Verschluckt von der Dunkelheit des Sees

Als Erwachsener habe ich immer wieder davon geträumt, dass ich mit meinen Kindern im See schwimme, sie plötzlich untergehen, mich noch hilfesuchend ansehen, ich es aber nicht schaffe, an sie heranzukommen.

Dass die Dunkelheit, die Tiefe des Sees sie verschluckt.

Immer und immer wieder hatte ich diesen oder einen ähnlichen Traum.

Als 12-Jähriger wettete ich um 10 DM, dass mir ein Meter Wassertiefe am Konstanzer Schänzle für einen Kopfsprung locker ausreichen würde.

Ich verlor, prallte haarscharf an einer Querschnittslähmung vorbei, wurde mehrfach genäht und schwoll die Tage darauf zum Kugelfisch an.  

Von traumatischen und herrlichen Momenten

Das waren die einzigen traumatischen Erlebnisse, an die ich mich in Bezug auf den Bodensee erinnern kann, denn ich hatte herrliche Jahre am See.

Über zwei Lebensjahrzehnte lang.

Von denen, die die Region kennen, wird man dafür beneidet, und denen man davon erzählt, können den Beschreibungen kaum Glauben schenken.

Ein zweiter Versuch ging schief

Dennoch ist es kein Geheimnis, dass gelegentlicher Abstand Liebende vor der Routine bewahrt. Lange ist es her, dass ich dem Bodensee – zwar nie die kalte Schulter – aber doch den Rücken gekehrt habe.  

Zwischendrin hatten wir es doch noch einmal miteinander versucht.

Ich bin zurück nach Konstanz – meinen Geburtsort.

In den Stadtteil PARADIES bin ich gezogen. Es ging dennoch nicht gut.

Man muss dafür geschaffen sein, Schönheit auszuhalten. 

Die stillen Zeppeline hier, ein verliebtes Schwäne-Paar dort, die gleitenden Segelboote, die unwirkliche Blumeninsel, der tosende Rheinfall, die gläsernen Autofähren, das sündige Essen – vor alle dem sollte auch gewarnt werden.

Dauerhaft könnte es (zu) zufrieden, satt und rote Bäckle machen. 

Lieber immer wieder aufs Neue verlieben

Deshalb verliebe ich mich auch lieber immer wieder aufs Neue:

Mit den Füßen im Wasser am Campingplatz Reichenau zu sitzen, den dortigen Wein und den fangfrischen Fisch zu genießen, bei Sonnenuntergang in die Schweiz rüber- und zu den Höri-Vulkanen hochzuschauen – eine traumhafte Realität, die mich tief durchatmen lässt, bevor ich schnell ins Auto steige, nur um das alles mit angemessenem Abstand irgendwann wieder von Neuem erleben zu dürfen.

Der Bodensee ist für mich ein Kraftort. Für mich die lebenswerteste Region der Republik, wenn nicht sogar der schönste und harmonischste Flecken Erde, den ich je sehen und erleben durfte. Ein Kraftort, der einen ausfüllen, aber auch genauso an einem zehren kann.

Regelmäßig werde ich gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könnte, in diese verlockende Idylle zurückzuziehen, und jedes Mal bringt mich die Antwortsuche in die Bredouille.

Der Bodensee und seine Strahlkraft

Ich muss die innere Balance erst noch finden, die es mir ermöglicht, diese Ruhe, dies Beständige, das Immerwährende auszuhalten.

Der Bodensee wird nie etwas von seiner Strahlkraft verlieren. Wie die vielen Generationen vor uns, werden auch die nach uns ihre Gedichte über ihn schreiben, sich an dessen Ufern lieben, sich gegenseitig begleiten und sich trennen. Sie werden über dessen spiegelglatte Oberfläche hinweg in die Ferne blicken; die satte, frische Luft atmen; sich in ihm erfrischen und von ihm davontreiben lassen. Es wird noch Millionen Fotos geben, auf denen Kinder an der Seestraße die Schwäne füttern. Die Liebenden werden lachen, die Verlassenen weinen und die Untröstlichen ihm ihre Wut entgegenbrüllen. Einige werden in ihm ihr Ende, andere den Spaß ihres Lebens finden. 

„Ich wollte gestalten und hatte nicht das Gefühl, dass die Gegend mir die nötige Kraft lässt, dies zu tun.“

Oliver Wnuk

Hundertfach und zu jeder Jahreszeit bin ich über meine Lieblingsallee auf die Insel Reichenau gefahren – und dennoch ergreift mich die Schönheit jedes Mal von Neuem.

Jahrelang bin ich als Jugendlicher am Ufer gesessen oder bin mit unserem Badeboot umhergetuckert und habe sehnsuchtsvoll von der Welt außerhalb dieser Idylle geträumt – ich wollte gestalten und hatte nicht das Gefühl, dass die Gegend mir die nötige Kraft lässt, dies zu tun.

Als würde die idyllische Schönheit die Notwendigkeit meines Schaffens implodieren lassen. Auch 30 Jahre später gelingt es mir nicht, dieses Gefühl abzustreifen.

Heute zurückzuziehen würde sich wie eine innere Kapitulation anfühlen

Wenn ich nach langer Zeit wieder auf der Rheinbrücke stehe, nicke ich dem See ehrfürchtig zu: „Da bist du ja wieder!“, und sein Anblick lässt mich immer noch staunen.

Ich möchte, dass meine Asche in ihm verstreut wird, aber heute könnte ich nicht an den See zurückziehen. Es würde sich wie eine innere Kapitulation anfühlen.

Für mich ist ein Leben am Bodensee wie ein Leben in der „Truman Show“.

Gleichzeitig bewundere ich jeden, der es in vollen Zügen genießen kann. Es ist meine eigene Fehlbarkeit, meine ganz persönlichen Glaubenssätze, die mich daran hindern.

Die Gefahr, der Lethargie zu erliegen

Würde ich heute an den Bodensee ziehen, bestünde die Gefahr, der Lethargie zu erliegen. Ich würde daran zweifeln, warum ich überhaupt weiter künstlerisch denken und Inhalte schaffen sollte. Was daran vonnöten wäre. Ich würde mich erst nach Reibung sehnen, aber dann und solange das Geld reichen würde, aus Weinschläuchen trinken, ständig den Grill anschmeißen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.

Lebte ich am Bodensee, würde ich irgendwann vielleicht sogar wieder an den lieben Gott glauben.

Doch gelingt es mir irgendwann, in Balance zu kommen, so in mir zu sein, dass mich das Außen nicht mehr aus dem Gleichgewicht bringt – falls ich irgendwann zu 100 % wissen sollte, warum ich etwas tue und warum nicht – auf was ich vertrauen, bauen und dauerhaft fokussiert sein kann, dann gelingt es mir vielleicht auch, über den See zu blicken, ohne nach der aufkeimenden Unruhe in mir Ausschau zu halten.

Schönheit muss man auch ertragen können

Für sein Glück ist man einzig und allein selbst verantwortlich. Ich glaube nicht daran, dass die Schönheit einer Umgebung langfristig Einfluss darauf hat, dass es einem besser geht und/oder man glücklicher ist. Vielleicht macht es die schönen Seiten des Lebens offensichtlicher und lässt es allgemein etwas leichter erscheinen, aber auf Dauer kann es auch herausfordernd sein, Schönheit konsequent wertzuschätzen und nicht als selbstverständlich zu betrachten. 

Zusammenfassend lässt sich sagen:

Umso weniger Ablenkung, umso kleiner die Welt im Außen, umso mehr Zeit bleibt einem, um in sein Inneres zu blicken.
Wer Ausschau hält, der findet –
und dem sollte man gewachsen sein.