Im Tinderversum

Einmal swipen, bitte! Unsere Kolumnistin Linda Addae hat sich ins Konstanzer Dating-Leben gestürzt. Sie findet: Tinder fügt sich perfekt in das reservierte Mindset der Konstanzer:innen ein – und plädiert doch für mehr Mut beim Offline-Dating.
Das Bild zeigt eine Illustration der Kolumnistin Linda mit einem Spiegel in der Hand.

Wenn es eine Sache gibt, die ich an Konstanz ändern würde, dann wäre es seine konservative, reservierte Stadtgesellschaft. Konstanzer:innen sind nicht besonders offen, denn es reden nur diejenigen miteinander, die sich bereits kennen. Wie die sich wiederum kennengelernt haben, ist in etwa das gleiche Rätsel, wie das mit dem Huhn und dem Ei – und wenn man dann auch noch Single ist, steht man vor gewissen Herausforderungen. 

Ich glaube, ich habe mir das erste Mal Tinder heruntergeladen, als ich nach längerer Beziehungsphase Single war. Eine Freundin versuchte mir zu „helfen“, indem sie mir die App empfahl. Wie sie darauf kommt, dass man Singles helfen muss, liegt vermutlich daran, dass in Konstanz die Welt noch in Ordnung ist und Mann und Frau komplementäre Geschlechter sind, die heterosexuelle Beziehungen eingehen. Sie meinte, ich hätte ja nichts zu verlieren. Also lud ich mir die App herunter und fing an zu swipen. 

Die Besonderheit in Konstanz und Umgebung zu tindern, ist, dass sich diese Art der Begegnung perfekt in das schüchtern-verkorkste Mindset der Bodenseegesellschaft einfügt. Um Leute im realen Leben anzusprechen viel zu verklemmt, längerer Augenkontakt ist vor 2 Uhr morgens grundsätzlich awkward, weshalb eine App herhalten muss, um in der eigenen Komfortzone bleiben zu können. Das in einer sogenannten „Studentenstadt“, in der sich – neben den vielen heterosexuellen cis-weißen Gutbürger:innen – so viele junge Leute tummeln, die es doch draufhaben müssten, oder? Ja, das hat mich an der Stadt by the way immer besonders enttäuscht. 

Mask off: Weg mit der Mittelschicht-Maskerade

Was mich am Konstanzer Datingleben aber äußerst fasziniert, ist, dass sämtliches gutbürgerliches Gedankengut im See baden geht. Ich ahnte damals noch nicht, dass ich dabei war, eine neue weiße cis-männliche Parallelgesellschaft zu betreten. Eine Parallelgesellschaft, die mit allen Süßwassern gewaschen ist und sich unbewusst genauso gegen das Gutbürgertum stellt, wie ich als Boss-Femme und Aktivist:in. 

Zu sagen, dass alle auf Tinder nur Sex wollen, ist dabei viel zu einfach. In einem Radius von etwa 25 Kilometern gibt es nämlich so gut wie alles: Das Pärchen, das nach einer leidenschaftlichen Begegnung mit einer weiteren Frau sucht. Zwei Typen Mitte 20, die beste Freunde sind und wirklich alles miteinander teilen wollen, und nicht zu vergessen die sogenannte „devote“ Schweizerin, die hin und wieder gerne gesagt bekommt, wo es langgeht.

Als Person, die sich ausgiebig mit dem Thema Gender beschäftigt hat, schockiert es mich nicht, dass dieser Shit überwiegend von hetero-cis Männern kommt. Es geht hier um das große Ganze, um die Frage, ob sich diese Umgebung irgendwann mal selbst reflektiert und nicht Lust hat, mal etwas direkter, etwas ehrlicher zu sich selbst zu sein. Also weniger Konstanz à la München, mehr Berlin.

Rumtindern für Wunschkinder

Auf der anderen Seite wird der Status quo ausgerechnet von Frauen verteidigt, auf denen wenig überraschend auch der meiste Konformitätsdruck lastet. Nicht selten begegnet es mir, dass starke, intelligente Frauen verzweifelt wischen und darüber nachdenken, wie alt sie schon sind und ob sie es überhaupt noch schaffen zu heiraten, Kinder zu bekommen und ob sie sich bei den steigenden Preisen jemals das schon von klein auf erträumte Eigenheim leisten können werden – natürlich nur in Kombination mit einem hetero-cis Mr. Right. 

So wird Tinder dann nicht selten vom ungezwungenen, lockeren Dating-Spaß zum strategischen Instrument, um sich dem gesellschaftlichen Konformitätszwang zu beugen. Der sich in dieser Umgebung lustigerweise immer noch gegen Frauen, weniger gegen die experimentierfreudigen Männer richtet. Und darin liegt auch das alteingesessene Klischee: Frauen wollen Liebe, Männer immer nur Sex. Wenn das nicht von gestern ist, weiß ich auch nicht. Leugnen kann man dennoch nicht, dass man am Bodensee eher Mr. Ride statt Mr. Right tindert.

Back to the roots

Wie wäre es denn, wenn sich diese ganzen mehr oder minder anonymen, experimentierfreudigen und paarungswütigen Menschen auch mal offline ansprechen würden? Schließlich tun Menschen dies in anderen Städten auch und möglicherweise schafft es Konstanz dadurch, sozialer zu werden und Dating auf ein neues Level zu heben. Ich habe schon damit angefangen: Ich tinder nicht mehr (so viel) und spreche Menschen lieber persönlich an, ganz egal in welchem Kontext. Das ist leichter, als man glaubt, weil die meisten Menschen genauso darauf warten, dass etwas Neues und Unerwartetes passiert, wie man selbst – besonders im verschlafenen und schein-konservativen Konstanz.