In Radolfzell führte die Kita-Krise zuletzt dazu, dass die Betreuungszeiten auf 30 Stunden in der Woche reduziert wurden. Die Eltern sind gestresst, verärgert oder treten in anderen Kommunen sogar in den „Abholstreik“. Klar, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist die Kita-Krise eine echte Herausforderung – aber mal ehrlich, hat es diese Vereinbarkeit denn jemals gegeben? Und wenn ja, auf wessen Kosten?
Mareice Kaiser schreibt hierzu in ihrem Buch „Das Unwohlsein der modernen Mutter“: „Wenn wir von Vereinbarkeit sprechen, meinen wir meistens Unvereinbarkeit. Denn das ist es, was die meisten Eltern und vor allem Mütter erleben. Es ist die Zerrissenheit zwischen dem Job, den Kindern und den eigenen Bedürfnissen – wenn Eltern sich denn überhaupt gestatten, ihre eigenen Bedürfnisse zu achten […].
Kleinkinder haben hauptsächlich das Bedürfnis nach Bindung durch möglichst gleichbleibende, so genannte primäre Bezugspersonen – und weniger nach Aktivitäten in Gruppen, geschweige denn wechselnden Bezugspersonen, wie es in Kitas häufig der Fall ist.
Das Dauer-schlechte-Gewissen
Das Resultat: das Gefühl, weder dem Job noch dem Kind noch sich selbst gerecht zu werden. Und das täglich. Ein Alltag, der von dem Gefühl geprägt ist, nicht genug zu sein. Überall immer nur halb zu sein, niemals ganz. Die Arbeitende in Teilzeit, die schnell zu ihrem Kind muss; die Mutter, die gleich wieder erwerbsarbeiten muss. Ein Leben, das von morgens bis abends aus Müssen besteht“. Vereinbarkeit also auf Kosten der Eltern beziehungsweise vor allem Mütter, die neben der Berufstätigkeit immer noch den Hauptteil der Care-Arbeit übernehmen.
Und auf Kosten der Kinder, vor allem der Kleinen: Entwicklungspsychologisch entspricht die Betreuung in Kitas nämlich nicht wirklich den Bedürfnissen von Kindern – zumindest in den ersten 3 Lebensjahren. Denn Kleinkinder haben hauptsächlich das Bedürfnis nach Bindung durch möglichst gleichbleibende, so genannte primäre Bezugspersonen – und weniger nach Aktivitäten in Gruppen, geschweige denn wechselnden Bezugspersonen, wie es in Kitas häufig der Fall ist.
Was das Elterngeld damit zu tun hat
Wieso ist (frühe) Fremdbetreuung dennoch oft das Mittel der Wahl – bis hin zum „Systemkollaps“, wie er hier unlängst festgestellt wurde? Die Antwort ist komplex, aber eine bedeutende Rolle spielt sicherlich das Elterngeld: Als eine zentrale Maßnahme der deutschen Familienpolitik legt es nahe – oder macht es sogar existentiell notwendig –, spätestens 12 beziehungsweise 14 Monate (als Alleinerziehende) nach Geburt eines Kindes wieder einer Erwerbsarbeit nachzugehen.
Damit stehen Mütter und Väter dem Arbeitsmarkt schnell wieder zur Verfügung. Oben genannte Zerrissenheit, Dauerstress und Kinder, die funktionieren müssen, werden jedoch politisch in Kauf genommen und auch von den Eltern oft nicht in Frage gestellt. Vielmehr wird es als das eigene Unvermögen gedeutet, wenn einem mal wieder alles über den Kopf wächst, die Kinder ständig krank sind oder da einfach nur dieses Bauchgefühl ist, das sagt, dass es sich so irgendwie nicht richtig anfühlt.
„Die Bedingungen in den Kitas sind viel schlechter geworden“
Ist es also wirklich die Lösung, am Bestehenden festzuhalten? Am gesetzlich festgelegten Betreuungsanspruch, an langen Öffnungszeiten von Kitas und dem Gefühl, immer alles unter einen Hut kriegen zu müssen? Eigentlich weiß doch jede:r, die:der Kinder begleitet, dass das kein Selbstläufer ist. Sondern ein herausfordernder und anspruchsvoller 24-Stunden-Job mit Hoch-Zeiten an Wochenenden, in den Ferien und an Feiertagen. Der Verantwortung, Organisation sowie die ständige Auseinandersetzung mit sich selbst bedeutet, regelmäßiges Scheitern inbegriffen. Also eigentlich kein Job, den Mensch, vor allem in den ersten Jahren, „nebenbei“ erledigen sollen müsste, oder?
Wie wäre es nun, wenn Eltern angesichts der Kita-Krise zumindest die Möglichkeit bekämen, wieder mehr Zeit mit ihren Kinder zu verbringen und die Kitas dadurch – ganz nebenbei – zu entlasten? Indem sie durch ein – der Tätigkeit angemessenes! – Betreuungsgeld zumindest von der finanziellen Notwendigkeit befreit werden, ihre Kinder früh und lange fremdbetreuen zu lassen? Und so – ebenfalls ganz nebenbei – die gesellschaftlich so bedeutende Care-Arbeit die Anerkennung und Würdigung erfahren würde, die ihr zusteht? Würden nicht alle davon profitieren?
Konstruktive Vorschläge für faire Care Arbeit
Modelle hierfür gibt es genug: Frigga Haugs Vier-in-einem-Perspektive etwa, die eine neue Gewichtung von Lohn- und Care-Arbeit, aber auch von Arbeit an sich und politischem Engagement vorschlägt. Oder Gabriele Winkers Care Revolution mit dem Ziel, nicht mehr die kapitalistische Profitmaximierung, sondern die Sorge umeinander ins Zentrum der Gesellschaft zu stellen. Konkret bedürfe es hierzu laut Winker u. a. Zeitsouveränität und Existenzsicherheit für Menschen, die Care-Arbeit leisten sowie eine Kultur des Miteinanders und der Solidarität. Also weniger Erwerbsarbeit und mehr Zeit für Kinder und Care bei ausreichendem Lohn für alle – hierzu sehe ich immer wieder die Steckbriefe in der Kitagruppe meines Sohnes vor mir, auf denen fast jedes Kind angab, es sei glücklich, „wenn Mama und/oder Papa Zeit haben und mit mir spielen“.
Mehr zum Thema Kinderbetreuung gibt es auch in unserem Schwerpunkt-Dossier.
Dr. Inga Oberzaucher-Tölke hat diesen Text für karla geschrieben. Sie ist Pädagogin und arbeitet als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin i. A. und als Elternberaterin. Die Kita- beziehungsweise die Care-Krise betrifft sie aber vor allem als Mutter.
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