Acht mögliche Wege aus der Kitakrise

Wie ließe sich die angespannte Lage in der Kinderbetreuung in Konstanz für Eltern, Erzieher:innen und Kinder entspannen? Das war die zentrale Frage beim karla Wohnzimmer. Gemeinsam mit Expert:innen und unserer Community haben wir acht Vorschläge erarbeitet, wie das System besser funktionieren könnte.
Intensive Diskussion: Beim zweiten karla Wohnzimmer stand das Thema Kinderbetreuung im Fokus. Es diskutierten (von links): Soteria Fuchs, Jehona Miftari, Joachim Krieg, Sonja Perren und Melissa Korn. Bild: Florian Nick

Simon Tröndle ist Vater zweier Kinder und er will, dass sich endlich etwas ändert in der Kinderbetreuung in Konstanz. Für sein erstes Kind hat er keinen Kitaplatz in Konstanz gefunden. Erst in Allensbach wurde seine Familie fündig. Ein Jahr lang pendelten sie in den Waldkindergarten der Nachbargemeinde für eine angemessene Kinderbetreuung. Er hat sich intensiv mit der Situation in Konstanz befasst und viele Gespräche mit dem Sozial- und Jugendamt geführt. Jetzt sagt er: „Man kann nicht immer nur einfach sagen, das geht nicht. Es wäre an der Zeit, die Probleme endlich anzupacken!“

Simon Tröndle war einer von rund 60 Besucher:innen, die beim karla Wohnzimmer in der Leica Galerie Ende Februar dabei waren. Im Raum war deutlich zu spüren, wie sehr das Thema die Menschen umtreibt. Im Prinzip sind alle Beteiligten frustriert: Die Eltern, weil sie keinen Betreuungsplatz bekommen. Die Erzieher:innen, weil sie im Dauerstress sind. Und das Sozial- und Jugendamt, weil es nicht so vielen Familien helfen kann, wie es gerne würde.

Wir wollen mit Expert:innen nicht nur hinter verschlossenen Redaktionstüren ins Gespräch kommen, sondern die Teilnahme am Diskurs für alle Konstanzer:innen öffnen. Dafür haben wir das karla Wohnzimmer ins Leben gerufen. Wir legen ein Thema fest, laden passende Gesprächspartner:innen ein und setzen uns mit ihnen und euch an einen Tisch. Wir wollen Menschen in Konstanz miteinander ins Gespräch bringen und konstruktiv dazu beitragen, das Leben in der Stadt mitzugestalten. Ein lebendiger Diskurs auf Augenhöhe – das ist das karla Wohnzimmer.

Volles Haus beim zweiten karla Wohnzimmer in der Leica Gallery: Das Interesse am Thema Kinderbetreuung war groß. Bild: Florian Nick

Mit dem karla Wohnzimmer wollten wir die Menschen ins Gespräch bringen. Und Lösungen erarbeiten, wie es besser werden könnte. Miteinander und mit den Zuhörer:innen diskutierten: Melissa Korn, Erzieherin, Sonja Perren, Brückenprofessorin für Entwicklung und Bildung in der frühen Kindheit an der Universität Konstanz und der Pädagogischen Hochschule Thurgau, Soteria Fuchs, Stadträtin der Freien Grünen Liste und selbst Tagesmutter, sowie Joachim Krieg vom städtischen Sozial- und Jugendamt. Moderiert wurde der Abend von Jehona Miftari vom karla Magazin.

Neben allgemeineren Aspekten wie einer besseren Bezahlung von Erzieher:innen und dem grundsätzlich stärkeren Ausbau von Kitaplätzen, haben wir mit den Expert:innen und den Zuhörer:innen auch konkrete Vorschläge entwickelt. Das sind unsere Top 8 für eine Verbesserung der Kinderbetreuung in Konstanz.

1. Bürokratie-Abbau, um Gründungen zu erleichtern

Kitas und Kindergärten sind ein hochregulierter Bereich. Vieles, was im Regelfall Sinn ergibt, behindert in der aktuellen Mangelsituation. So erschweren (oder verunmöglichen) bürokratische Hürden die Gründung von neuen Kitas und Kindertagespflegeeinrichtungen. In den vergangenen Jahren scheiterten Neugründungen in Konstanz vor allem in der Tagespflege unter anderem daran, dass nicht ausreichend Parkplätze nachgewiesen werden konnten.

Magdalena Abend, Gründerin der Kita „Kleine Wunder Montessori“ in Kreuzlingen, hatte im Interview mit karla ebenfalls die formalen Vorgaben kritisiert: „Muss der Schlafraum immer exakt der vorgeschriebenen Größe entsprechen oder könnte das auch flexibler gehandhabt werden? Braucht es überall zwingend Kindertoiletten oder können wir auch normale Toiletten benutzen, auf die die Kinder dann mit einem Treppchen steigen? Ich finde Sicherheit auch wichtig, aber muss wirklich jede Ecke abgerundet sein? Dürfen nur Regale in der Kita stehen, die irgendeine Zertifizierung haben? Bezahlbare IKEA-Regale sind ja zum Teil gar nicht erlaubt.“

Nicht alles davon kann die Stadt alleine lösen. Viele der Vorgaben sind gesetzlich geregelt und das Land Baden-Württemberg ist verantwortlich. Die Stadt könnte aber, allenfalls im Verbund mit anderen Kommunen, beispielsweise über den Städtetag, auf das Land einwirken, um hier Änderungen oder Ausnahmeregeln in Krisenzeiten zu formulieren.

Intensive Gespräche: Moderatorin Jehona Miftari im Gespräch mit Soteria Fuchs und Joachim Krieg. Bild: Florian Nick

2. Mehr Platz-Sharing ermöglichen

Viele Familien wünschen sich seit Jahren flexiblere Betreuungsmodelle. Zum Beispiel, indem sich zwei Familien einen Kitaplatz teilen. Das würde mehr Kindern eine Betreuung ermöglichen und gleichzeitig die individuellen Bedürfnisse vieler Familien besser treffen.

Das städtische Sozial- und Jugendamt hat das bislang stets als „zu aufwändig“ und „pädagogisch fragwürdig“ abgelehnt. „Wenn wir von der Kita als frühkindliche Bildung reden, dann finde ich das eher problematisch. Denn: Zu frühkindlicher Bildung gehört, dass das Kind täglich da ist und an allen Ritualen teilnehmen kann. Platz-Sharing macht auch das soziale Lernen schwierig“, sagt Joachim Krieg vom Konstanzer Sozial- und Jugendamt. Aber stimmt das wirklich?

Die Wissenschaftlerin Sonja Perren hat dem in der Wohnzimmer-Diskussion widersprochen: „Unsere Forschungen zeigen klar, dass die Kinder keinen Nachteil davon haben, wenn sich die Gruppenzusammensetzung täglich verändert.“ In einer Studie aus dem Jahr 2021 haben sie diese sogenannte „group stability“ gemessen und festgestellt: „Die Group stability hatte keinen Effekt auf die Kompetenzen und Peerbeziehungen der Kinder“, so Perren. Schon vor neun Jahren hat sie übrigens konstruktiv zu dem Thema geforscht: Bereits 2014 hatte Sonja Perren gemeinsam mit anderen Forscherinnen Handlungsempfehlungen erarbeitet, wie eine mögliche Teilzeitbetreuung gut gelingen kann. Das Wissen ist also da, man muss es nur nutzen. In der Schweiz, wo Sonja Perren auch forscht und arbeitet, läuft dieses Modell bereits. 

Die Wissenschaftlerin Sonja Perren im Gespräch mit Besucher:innen des karla Wohnzimmer. Bild: Florian Nick

3. Die Unternehmen stärker einbinden

Fehlende Kitaplätze sind längst nicht nur ein Problem für Familien, sondern auch für die Wirtschaft. Weil Arbeitskräfte fehlen und sie nicht im gleichen Maße wieder in ihren Jobs arbeiten können wie vor der Geburt des Kindes. Deshalb sollten Unternehmen in Konstanz von sich aus ein Interesse daran haben, an der Lösung des Problems mitzuwirken und beispielsweise eigene Betriebskindergärten einrichten.

Die Firma Seitenbau hat das Thema früh erkannt. Beim karla Wohnzimmer berichtete Geschäftsführer Jan Bauer von seinen Erfahrungen. Seit 2010 kooperiert Seitenbau mit der Kita Krümelkiste und hat dort Betriebs-Kitaplätze eingerichtet. Jetzt baut das Unternehmen eine neue Kita. 20 Krippenplätze und 20 Kindergartenplätze sollen bis 2026/2027 entstehen. Es gibt also bereits Initiativen aus der Wirtschaft, aber noch nicht ausreichend. Hier ist auch die Politik gefragt, die Wirtschaft stärker in die Pflicht zu nehmen.

4. Eltern übernehmen Nachmittags­­betreuung in Eigenregie

In Offenburg und Radolfzell gehen die Städte inzwischen andere Wege. Dort wird wegen des Fachkräftemangels die professionelle Kinderbetreuung auf die Zeit zwischen 7 und 14 Uhr begrenzt. Die Nachmittagsbetreuung wird von Eltern oder sogenannten „versierten Laien“ übernommen. Die Städte stellen hierfür die Einrichtungen zur Verfügung.

Heike Kempe vom Gesamtelternbeirat der Kitas in Konstanz sagt: „Es ist die beste Fachkräfteoffensive, wenn die Erzieher:innen Chance haben, unter guten Bedingungen zu arbeiten. Der Fachkräftemangel ist ein Marathon, deshalb müssen alle flexibel sein, um Ideen zu entwickeln. Die Einbindung von Eltern ist keine perfekte Lösung, aber es ist eine Lösung für den Moment.“

Die Erzieherin Melissa Korn und die Wissenschaftlerin Sonja Perren. Bild: Florian Nick

Die Erzieherin Melissa Korn begrüßt das Modell: „Ich finde es gut, wenn Eltern sich einbringen. Aber es darf zu keiner Abwertung unseres Berufes führen“, sagte sie beim karla Wohnzimmer. Die Wissenschaftlerin Sonja Perren ist eher skeptisch: „Wenn jetzt unausgebildete Kräfte Kinder betreuen, damit sie versorgt sind, dann befürchte ich, dass das die Fachkräfte weiter demotiviert, weil Sie denen damit im Prinzip sagen, ‚Schau, deinen Job kann auch jemand machen, der ihn nicht gelernt hat‘. Deshalb plädiere ich sehr dringlich dafür, dass diese Notfalllösungen auch eben diese bleiben und sich nicht im System verselbständigen. Weil dadurch der Ruf und die Anerkennung des Berufs weiter sinken würden.“

Eine konkrete Umsetzung eines Laienkonzeptes in Konstanz dürfte auch Teil der Verhandlungen zwischen Stadtverwaltung und Elternvertreter:innen über die geplante Gebührenerhöhung für Kitas sein.

5. Mehr und bessere Digitalisierung

Wer sich für die verschiedenen Angebote in der Tagespflege interessiert, bekommt derzeit vom Sozial- und Jugendamt maximal ein PDF. Das aber auch nur, wenn gerade Plätze frei sind. Informationen über die Tagesmütter und Tagesväter müssen sich Eltern in der Regel mühsam zusammengooglen. Während es für die Kindertageseinrichtungen zumindest eine Übersichtskarte gibt, fehlt eine vergleichbare Übersicht in der Tagespflege bislang.

Auch das Kitaplatz-Vergabesystem läuft digital, hat aber Tücken. Mehrere Familien haben uns in unserer Recherche berichtet, dass sie zwar auf der Vormerkliste des städtischen Sozial- und Jugendamts waren, dies aber in den Einrichtungen teilweise nicht sichtbar gewesen sei. Der Grund: Das Sozial- und Jugendamt muss die Einträge offenbar händisch freigeben. Dies ist offenbar in einigen Fällen versäumt worden beziehungsweise erst verspätet geschehen.

Was bereits in Planung ist: Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, soll eine Internetseite erstellt werden, die alle Einrichtungen in Konstanz vorstellt. Dass dies im Jahr 2023 eine Neuerung darstellt, sagt viel über den Stand der Digitalisierung in der Konstanzer Stadtverwaltung.

Gute Stimmung, trotz schwierigen Themas: Die Zuhörer:innen konnten sich in die Diskussion auch immer wieder einbringen. Bild: Florian Nick

Die mit der Seite verbundene Hoffnung lautet: Sie soll „sowohl Berufsinteressierten, Fachkräften mit und ohne Zusatzqualifikation als auch Quereinsteigern die pädagogischen Möglichkeiten und Stärken der Arbeit und Ausbildung in Konstanzer Einrichtungen“ aufzeigen, heißt es in der entsprechende Vorlage aus dem Gemeinderat.

Außerdem soll die Seite Erzieher:innen, die einen Wechsel aus ihrer Einrichtung anstreben, „innerhalb der Trägervielfalt der Stadt Konstanz eine attraktive Alternative bieten, um so dem Verlust von Fachkräften für die Stadt entgegenzuwirken“. Die Kosten dafür kalkulierte das Sozial- und Jugendamt mit 75.000 Euro „sowie darauffolgende jährliche Pflegekosten von 3.600 Euro“.

6. Den Erzieher:innen-Job attraktiver machen

Wenn Fachkräftemangel herrscht, dann wäre eine Lösung, den Erzieher:innen-Beruf attraktiver zu machen. Neben besserer Bezahlung und weniger Stress könnte das auch bedeuten, den Zugang zum Beruf durchlässiger zu gestalten: „Warum öffnet man die Ausschreibungen beispielsweise nicht auch für andere pädagogische Fachkräfte?“, fragt Simon Tröndle, Gast beim karla Wohnzimmer und Vater zweier Kinder. Akademisches pädagogisches Personal könnte man für gewisse Zeit gewinnen, wenn man ihnen beispielsweise ermögliche, zwei Jahre in der Praxis zu arbeiten, die ihnen dann wiederum bei weiteren Forschungen helfen könnten, meint Tröndle.

Aus seiner Sicht müsste man auch stärker Aufstiegs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten in dem Beruf hervorheben: „Wenn man Perspektiven aufzeigt, gewinnt man womöglich auch Menschen, die sich bislang nicht für den Beruf interessiert haben“, glaubt Simon Tröndle. Zudem sollte jedem:jeder Erzieher:in die Möglichkeit zur Weiterbildung offenstehen. Das steigere die Zufriedenheit mit dem Job.

7. Vergünstigungen für Erzieher:innen ermöglichen

Wertschätzung für eine Berufsgruppe kann man über höhere Löhne ausdrücken oder über besondere Vergünstigungen. Denkbar wären Gratiseintritte in die Konstanzer Bäder oder in städtische Kultureinrichtungen, kostenlose Nutzung von Bus und Fähre oder auch Kooperationen mit dem Konstanzer Einzelhandel. Beispielsweise in Form von Einkaufsgutscheinen für Erzieher:innen.

Beim karla Wohnzimmer ging es auch um eine mögliche Wohnpauschale für Erzieher:innen. Städte wie Stuttgart und München locken Erzieher:innen mit finanziellen Anreizen. Sie bekommen eine monatliche Zulage zwischen 100 (Stuttgart) und 200 Euro (München). Auch in Konstanz hatte eine Expert:innengruppe das empfohlen. Die Verwaltung hat sich aber dagegen ausgesprochen. Eine solche Arbeitsmarktzulage sei ungerecht gegenüber anderen Berufsgruppen, außerdem gebe der letzte Tarifabschluss Erzieher:innen, neben zwei zusätzlichen Regenerationstagen, bereits die Möglichkeit, zwei weitere freie Tage in eine monatliche Umlage von 130 Euro umzuwandeln. Auch im Gemeinderat gab es bislang keine Mehrheit dafür.

Das Argument der Ungerechtigkeit hielten einige Besucher:innen der Veranstaltung für vorgeschoben: „In Mangelsituationen wie jetzt muss die Politik in der Lage sein, Prioritäten zu setzen. Sonst wird man nie das Problem lösen“, meinten mehrere Konstanzer:innen.

War ein gefragter Gesprächspartner bei den abschließenden Fragerunden: Joachim Krieg vom Konstanzer Sozial- und Jugendamt im Gespräch mit Besucher:innen. Bild: Florian Nick

8. Aufwertung für Sozialpolitik

Themen wie Kinderbetreuung sind noch zu sehr in der Nische. „Sozialpolitik ist nicht so sehr im Fokus, braucht dringend mehr Aufmerksamkeit“, findet die Stadträtin Soteria Fuchs (FGL). Schließlich zeige die Debatte über die fehlenden Kitaplätze, dass das längst nicht nur ein soziales, sondern auch ein wirtschaftliches Thema für den Standort Konstanz sei. Fuchs regt an, dass sich auch der Wirtschaftsausschuss des Gemeinderats mit diesen Themen beschäftigen sollte, um mehr Perspektiven zu entwickeln, aber auch um mehr Schlagkraft für die wichtigen Anliegen von Familien zu erreichen.

Am Ende war das karla Wohnzimmer ein Auftakt zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema: „Das hier war der erste Anlass, der dem wichtigen Thema Kinderbetreuung eine solch große Bühne und Möglichkeit zum Austausch gegeben hat“, sagte Soteria Fuchs, Stadträtin der Freien Grüne Liste (FGL) nach der Veranstaltung.

FGL-Stadträtin und Tagesmutter Soteria Fuchs spricht über ihre Erfahrungen im Beruf und der Politik. Bild: Florian Nick