Das erschöpfte Parlament

Tausende Seiten lesen, bis spät abends in Beratungen sitzen, komplexe Sachverhalte durchblicken: Stadträt:innen haben oft ein strenges Pensum. Warum diese andauernde Überlastung auch zum Problem für die lokale Demokratie werden kann.
Die Illustration zeigt eine von Papierstapeln erschlagene Person, die auf dem Boden liegt.
Illustration: Fee Baske

Neulich im Gemeinderat: Es ist nach 22 Uhr, die Sitzung dauert bereits seit sechs Stunden, die Luft ist stickig und das Ende der Tagesordnung ist noch immer nicht in Sichtweite. Ein Gähnen hier, ein Strecken dort, die Aufmerksamkeit schwindet – die Müdigkeit ist an diesem Abend im Raum fast zu greifen. Und trotzdem muss weiter debattiert werden. Irgendwas gibt es ja immer zu entscheiden. Das Problem dabei: Den Themen, die zu so später Stunde auf der Agenda stehen, wird das nicht immer gerecht.

Ein paar Tage zuvor: Die Unterlagen zur Sitzung, also alle Dokumente, in denen die Verwaltung ihr Handeln erklärt und dokumentiert, kommen bei den Stadträt:innen an. Das sind nicht selten mehr als 1000 Seiten. Das alles umfassend zu lesen und zu verstehen ist kaum möglich. Denn: Manchmal bleibt den gewählten Vertreter:innen dafür gerade einmal eine knappe Woche.

Das macht es dem Gemeinderat oft schwer, seiner eigentlichen Aufgabe nachzukommen – der Kontrolle der Verwaltung. Wie sollen ehrenamtliche Stadträt:innen auch innerhalb einer Woche komplizierte Verwaltungsvorlagen so durchdringen, dass sie in den Sitzungen mit den hauptamtlichen Verwaltungsmitarbeiter:innen auf Augenhöhe diskutieren können?

Ein aktueller Antrag stellt ganz grundsätzliche Fragen

Passend dazu hat das Junge Forum Konstanz (JFK) jetzt gefordert, dass die Unterlagen künftig zwei Wochen vor der jeweiligen Sitzung zur Verfügung stehen sollen. „Um eine fundierte Diskussionsgrundlage für die Fraktionssitzung und die anschließende Sitzung im Gemeinderat oder Fachausschuss zu haben, ist ein größerer Zeitvorsprung nötig“, schreibt das JFK in seinem Antrag.

Und wirft damit eine viel grundsätzlichere Frage auf: Kann man die Aufgabe im Gemeinderat überhaupt noch im Quasi-Ehrenamt (es gibt eine monatliche Aufwandsentschädigung von 700 Euro, deutschlandweit arbeiten Rät:innen im Schnitt 24 Stunden die Woche für ihr Mandat) ausführen? Oder sind die Herausforderungen in den Kommunen nicht längst so groß, dass sich die Gemeindeparlamente professionalisieren müssten? Der Knackpunkt ist ja: Wenn die Überlastung der Gemeinderät:innen zum Dauerthema wird, hat die lokale Demokratie ein Problem.

Fehlt den Rät:innen die Zeit für Vorbereitung und Diskussion, dann verschiebt sich das ohnehin schon schiefe Machtverhältnis zwischen Verwaltung und Gemeinderat weiter Richtung Verwaltung. Wichtige Debatten fallen wegen Unkenntnis oder Übermüdung aus oder werden nicht in der notwendigen Tiefe geführt. Wenn der Gemeinderat zum erschöpften Parlament wird, dann funktioniert die lokale Demokratie nicht mehr.

Harte Entscheidungen zu treffen, macht vielen Stadträt:innen keinen Spaß

Eine Untersuchung aus dem Jahr 2013 hat gezeigt, in welchen vier Momenten sich Kommunalpolitiker:innen überfordert fühlen. Erstens: Wenn sie sich in einem Thema nicht kompetent fühlen. Zweitens: Wenn sie zu wenig Zeit für zu viele Aufgaben haben. Drittens: Wenn die Rahmenbedingungen schwieriger werden und harte Entscheidungen zu treffen sind. Viertens: Wenn das Vertrauen in die Qualität der Arbeit der Verwaltung sinkt.

Die Untersuchung hat auch gezeigt, was gegen dieses Überforderungsgefühl helfen kann: Erfahrung zum Beispiel. Je länger Stadträt:innen dem Gremium angehören, umso resilienter werden sie gegen Krisenmomente. Sichtbare Erfolge helfen demnach auch, Durststrecken zu überstehen. Weiterbildung und zusätzliche Qualifizierung stärken Kommunalpolitiker:innen. Und natürlich erleichtert vor allem eine bessere Vereinbarkeit von Mandat, Beruf und Familie den Stadträt:innen ihre Aufgabe.

Die Stadtverwaltung könnte mehr helfen. Tut es aber nicht.

In den Bereichen, in denen die Stadtverwaltung unterstützen könnte, tut sie bislang zu wenig. Neue Stadträt:innen erhalten zu Beginn einer Legislatur zwar einen Einführungskurs. Aber danach gibt es Unterstützung nur auf Nachfrage.

Auch den Vorschlag des JFK auf früheren Versand der Unterlagen lehnt die Stadtverwaltung ab. Weil damit die Aktualität der Vorlagen nicht mehr gewährleistet sei, argumentiert die Verwaltung in ihrer Antwort auf die Frage. Und offenbart dabei nebenher, wie kurzatmig die Kommunalpolitik oft agieren muss: „Vielfach liegen Informationen, die in die Vorlage einfließen müssen, erst kurz vor dem Versand vor.“

Christine Finke, Stadträtin des Jungen Forum Konstanz (JFK), hat ihre Erfahrungen mit der Zeitnot in ihrem Blog beschrieben. Darin schreibt sie unter anderem: “Kommunalpolitik findet größtenteils abends statt. Das ist praktisch für Männer, die das als Hobby neben dem Beruf machen – aber für Eltern gar nicht so einfach. Gerade, wenn sie alleinerziehend sind.” Den ganzen Text gibt es hier.

Es braucht nicht viel Fantasie, um festzustellen, dass eine solch atemlose Politik eher nicht zu den besten Ergebnissen führt. Aber für Entscheidungsträger:innen ist der Umgang mit Zeit oft auch komplizierter, als es im ersten Moment klingt: Der Dauerkonflikt zwischen sorgfältiger Entscheidungsfindung einerseits und dem Druck, liefern zu müssen, hinterlässt Spuren.

Das Bild zeigt den Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte

„Zeit ist ein Codewort für Freiheit.“

Karl-Rudolf Korte, Politikwissenschaftler

Der vielfach geäußerte Vorwurf, Politik sei zu langsam, drängt Politiker:innen manchmal eben auch zu vorschnellen Entscheidungen. Grundsätzlich sollte gelten, was der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte geschrieben hat: „Zeit ist ein Codewort für Freiheit. Wer Zeit hat, kennt Optionen, hat Dispositionsmöglichkeiten.“

Wie mehr Digitalisierung das Problem lindern könnte

Digitalisierung könnte dabei helfen, Entscheidungswege effizienter zu machen. Aber bei der Digitalisierung der Ratsarbeit ist in Konstanz auch noch Luft nach oben. Eine hybride Teilnahme an Sitzungen war während der Pandemie möglich, jetzt rückt man davon wieder ab. Schon klar, eine bessere Debattenkultur gibt es in Präsenz. Aber wenn am Ende zu wenige debattieren, weil es sich die anderen nicht leisten können, dabei zu sein, dann wäre das Erlernen einer digitalen Debattenkultur das kleinere Übel.

Apropos nicht leisten können: Ein großes Problem der lokalen Demokratie ist, dass längst nicht alle Bevölkerungsteile im Gremium repräsentiert sind. Das hat Gründe.

Die Sitzungen dauern oft nicht nur sehr lang, sondern sie finden meist zu solchen Zeiten statt, an denen bestimmte Bevölkerungsgruppen von vornherein ausgeschlossen sind: Eltern, insbesondere Alleinerziehende, Erwerbstätige in Schichtarbeit, Menschen in Führungspositionen. Andere trauen sich erst gar nicht, weil sie denken, dass das eh alles viel zu kompliziert sei.

Ein Teil des Problems sind auch die Egos mancher Rät:innen

Am Ende sitzt im Gemeinderat nur noch eine Zeitelite aus Rentner:innen, Lehrer:innen und anderen Beamt:innen, die es sich zeitlich und monetär leisten können, das Amt auszuüben. Wie gut sie die fehlenden Bevölkerungsgruppen wirklich repräsentieren können? In der Wissenschaft gibt es daran Zweifel.

Studien haben gezeigt, dass Politiker:innen dazu neigen, die öffentliche Meinung konservativer einzuschätzen, als sie tatsächlich ist. „Ein wichtiger Mechanismus hinter diesen Befunden ist, dass Politiker:innen ihre eigene Meinung nutzen und diese auf die öffentliche Meinung übertragen“, erklärt der Konstanzer Politikwissenschaftler Christian Breunig.

Gegen die Dauer der Beratungen könnte übrigens auch eine strikte Sitzungsleitung durch die Bürgermeister helfen. Einerseits. Andererseits liegt ein Teil des Problems auch im Ego mancher Rät:innen: Mehr Disziplin bei den Rednerlisten der einzelnen Fraktionen wäre ein weiteres, einfaches Mittel, um Sitzungen zu verkürzen. Wie viel Zeit schon dadurch verschwendet wurde, dass der:die Vorredner:in eigentlich schon alles gesagt hatte, aber man dann doch auch noch ergänzen möchte, dass…? 

Der charmante Grundgedanke und was daraus wurde

Der Grundgedanke des ehrenamtlichen Mandats in der Kommunalpolitik war charmant: Jeder und jede sollte die Gelegenheit haben, Teil des Gremiums zu werden. Unterschiedliche Sichtweisen aus verschiedenen persönlichen und beruflichen Blickwinkeln sollten sich im Gemeinderat wiederfinden, um die Bevölkerung einigermaßen repräsentieren zu können.

Aber wenn diese Zugänge für Teile der Bevölkerung de facto längst verschlossen sind und nur noch eine Zeitelite es sich erlauben kann, ein Gemeinderats-Mandat anzunehmen, wäre es dann nicht klug auf eine stärkere Professionalisierung zu setzen, angesichts der großen Herausforderungen, die uns bevorstehen? Krisen meistert man am besten mit Expertise, nicht mit dem Bauchgefühl.

Die Ratsarbeit muss reformiert werden. Jetzt.

Die Arbeit in den kommunalen Parlamenten muss reformiert werden, wenn wir nicht eines Tages feststellen wollen, dass es die lokale Demokratie nicht mehr gibt. Vor allem muss der Gemeinderat gestärkt werden, damit er seiner Aufgabe als Kontrollgremium der Verwaltung wirklich gerecht werden kann. Ein besseres Zeitmanagement und weniger umfangreiche Vorlagen wären ein Anfang.