Der weiße Fleck im Zweiten Weltkrieg

Während des Zweiten Weltkriegs blieb nur ein kleiner Fleck Europas von der deutschen Invasion unberührt: die Schweiz. Wie war es im Krieg um unsere Grenzregion bestellt und wie neutral war die Schweiz wirklich?
Der Inbegriff des Schweizer Widerstandes gegen das Deutsche Reich: das Réduit – ein System aus militärischen Verteidigungsanlagen in den Alpen. Quelle: Von Auge=mit – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Das Münster streckt auch nach 800 Jahren noch seinen Kirchturm stolz über die Altstadt, das Konzilgebäude feiert dieses Jahr seinen 635. Geburtstag. Dass die Konstanzer Altstadt so gut erhalten ist, haben wir auch unseren Nachbarn, den Schweizer:innen, zu verdanken. So kooperativ waren sie nicht immer: Während des Krieges verfolgten sie eine strikte Flüchtlingspolitik und hielten die Grenzen dicht.

Die verschonte Stadt

Eines der bekanntesten Grenzereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg in unserer Region ist wohl, wie die Schweizer:innen den Konstanzer:innen den Hinweis gaben, nachts die Altstadt zu beleuchten. So hielten die Alliierten Konstanz für Schweizer Territorium und bombardierten die linksrheinische Seite der Stadt nicht.

Ein weiteres wichtiges Ereignis waren die Kapitulationsverhandlungen unter Vermittlung des damaligen Stadtammanns von Kreuzlingen Otto Raggenbass im Trompeterschlössle. Die Konstanzer Delegation nahm teil, weil sie unerkannt durch ein Loch im Grenzzaun schlüpfen konnte. Vor kurzem wurde entschieden, die Otto-Raggenbass-Straße in Stadelhofen umzubenennen. Sie heißt künftig Emma-Herwegh-Straße.

Denn: Lange Zeit stellte sich Otto Raggenbass als „Retter von Konstanz“ ins Rampenlicht, nachdem die Franzosen Konstanz eingenommen hatten. Inzwischen weiß man aber auch um seine extreme Flüchtlingspolitik, die vielen Verfolgten das Leben kostete. Obwohl Otto Raggenbass die Konstanzer Kapitulation vorantrieb, ist er keineswegs der Held, den er jahrelang zu sein vorgab.

Archivbild aus Neunzigerjahren. Heute steht da nur noch die reine Strassenbezeichnung. Bald wird die Straße nach Emma Herwegh benannt. Foto: Urs Oskar Keller

Die neutrale Schweiz

Die ersten Schritte in Richtung Neutralität gehen auf Anfang des 16. Jahrhunderts zurück, als die Schweiz mit Frankreich nach vielen blutigen Schlachten einen Vertrag schloss. Der besagte, dass keine Gegner des Vertragspartners unterstützt werden dürfen. Damit war eine lange Phase des schweizerischen Machtstrebens beendet. 1674 wurde das Prinzip der Neutralität in der Schweizerischen Eidgenossenschaft festgeschrieben.

Damals hatte Neutralität aber noch eine andere Bedeutung als heute. So musste man sich in dieser Zeit nicht aus Streitigkeiten heraushalten, Schweizer Söldner durften in Kriegen anderer Geld verdienen und einzelne Kantone schlossen Verteidigungsbündnisse mit anderen Mächten. Die Neutralität entstand aber nicht etwa aus einem „Gutmenschen“-tum heraus oder dem Bedürfnis nach Moral. Vielmehr war sie Mittel zum Zweck, um sich auf die inländischen Konflikte konzentrieren zu können.

Neutralität, wie sie eben passt

Auch wenn sich die Prinzipien der Neutralität in der Schweiz mit der Zeit änderten, galt es auch im Nationalsozialismus, den Begriff so dehnbar wie möglich zu halten. „Die Schweiz hat die Neutralitätskarte immer dann gespielt, wenn sie dem Land geholfen hat. Im Zweiten Weltkrieg machte die Schweiz Geschäfte mit Deutschland, gegen Ende des Krieges soweit es möglich war aber auch mit den Alliierten. Neutralität ist eine Interpretretationssache“, sagt der Schweizer Historiker und Autor Stefan Keller. Natürlich könnte man in diesem Sinne Neutralität so auslegen: Wer beiden Seiten hilft, ist neutral. Vor allem die Bankgeschäfte mit Deutschland wurden nach Kriegsende heftig kritisiert – aber wie so vieles im Kalten Krieg, verlor sich die Diskussion darum mit den Jahren. 

Auch heute ist die Diskussion um Neutralität und ihre Auslegungen besonders durch den Ukrainekrieg neu entfacht. Diese Prinzipien werden aktuell verfolgt: Die Schweiz unterstützt keine Kriegsparteien, weder mit Geld, Soldat:innen noch Waffen. Sie erlaubt keine Stationierung oder den Durchmarsch fremder Truppen durch ihr Land. Durch die Schweiz dürfen keine militärischen Nachrichten weitergegeben und Waffen transportiert werden.

Die Schweiz darf als Schiedsrichter oder Vermittler auftreten – wenn sie möchte. Sie gewährt Geflüchteten Asyl und darf mit kriegsführenden Staaten handeln. Im Falle eines Angriffs darf sich die Schweiz einem Bündnis anschließen. „Neutralität ist in der Tat ein Mythos. Ich meine, das ist bis heute ein Begriff, der viel diskutiert wird in der Schweiz, wie neutral ist ein Land, das auch Waffen herstellt für andere Länder, wie neutral ist ein Land, das starke Wirtschaftsbeziehungen hat zu Ländern, die Krieg führen?“, fragt Petra Volpe in einem Interview mit Deutschlandfunkkultur. Sie ist schweizerische Drehbuchautorin und Regisseurin. Ihre Serie „Frieden“ erschien 2020 im SRF und behandelt die „Stunde null“ nach Kriegsende.

Leute stehen vor dem Passbüro an der Schweizer Grenze bei Kreuzlingen, aufgenommen anfangs Juni 1946. Foto: Keystone-Archiv

Eine schwierige Lage 

Die Schweiz hatte, rein geografisch gesehen, eine schwierige Lage im Zweiten Weltkrieg. Umrahmt von Kriegsmächten und Ländern, die von Deutschland eingenommen wurden, blieb sie aber trotzdem bis zum Kriegsende weitestgehend von Zerstörung verschont. Als die Alliierten begannen, Deutschland zu bombardieren, wurden aber beispielsweise Zürich, Basel und Schaffhausen in Mitleidenschaft gezogen. Die Bombenabwürfe werden auf Navigationsfehler zurückgeführt, denn damals gab es noch keine GPS-Tracker, die den Piloten genaue Ortsdaten hätten übermitteln können. 

Von Anfang an erklärte die Schweiz Hitler gegenüber ihre Neutralität. Auch Belgien und Norwegen taten das, wurden aber trotzdem von den Nazis überrannt. Wieso führte Hitler, der die Schweiz als „Pickel auf dem Antlitz Europas“ nannte, seine Operation „Tannenbaum“, die die Eroberung der Schweiz vorsah, nie durch?

Mit der Zeit kristallisierte sich die Schweiz für Hitler als wertvoll heraus. Das wirtschaftlich abgeschnittene Deutschland konnte etwa 75 Prozent aller Goldtransaktionen und Devisenkäufe über das Schweizer Bankensystem abwickeln. Das Raubgut, das die Nazis vor allem Osteuropa entrissen hatte, setzte man in der Schweiz in Devisen um.

Obwohl Hitler der Schweiz gegenüber versicherte, im Falle eines militärischen Konflikts in Europa die Neutralität der Schweiz zu respektieren, stellte sich heraus, dass dieses politische Manöver vor allem die Passivität der Schweiz garantieren sollte. Hitler wollte sich erst einmal um die anderen Feinde in Europa kümmern. 

Dass Hitler für die Schweizer genauso wenig übrig hatte wie für andere Völker, zeigte sich ab 1941, als er sich über das Schweizer System echauffierte und das Land „missratenen Zweig des deutschen Volkes“ nannte. Vor allem das friedliche Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen war ihm ein Dorn im Auge und widersprach seiner Rassentheorie.

Die restriktive Flüchtlingspolitik

Während also die Schweiz den Zweiten Weltkrieg mitfinanzierte, passierten auf anderen Ebenen Kooperationen mit Nazi-Deutschland. Otto Raggenbass verfolgte, wie der ganze Kanton Thurgau, eine restriktive Flüchtlingspolitik und wies politisch Verfolgte und Juden an der Grenze systematisch ab. So sehr, dass selbst das eher antisemitische Bern zur Zügelung aufforderte. Generell war die Schweizer Bevölkerung antisemitischen Gedanken nicht abgeneigt. Das Pendant zur Hitlerjugend hieß in der Schweiz „Reichsjugend“. 

Otto Raggenbass lieferte ohne zu zögern den von der Gestapo verfolgten Halbjuden Auerbach an das Deutsche Reich aus, als dieser von der Insel Reichenau nach Ermatingen schwamm, um sein Leben zu retten. Der 13-jährige Dieter Laule aus Singen hatte sich einige Tage in Zürich aufgehalten, bevor er 1944 an Konstanz übergeben wurde. Rudi Greutzburg floh im Oktober 1941 zweimal in die Schweiz und wurde beide Male nach Konstanz abgeschoben. Bei einigen Personen findet sich nach der Nennung von Einreisedatum, Name und Jahrgang der Vermerk „Jude über die Grenze zurück“ im Ausweis.

Die Geschichte des Grenzkomman­danten Paul Grüninger

Im Gegensatz zu Otto Raggenbass setzte sich Paul Grüninger, Kommandant der St. Galler Kantonspolizei, für viele Geflüchtete ein, indem er Einreisedaten zurückversetzte oder in Einzelfällen die Einreise genehmigte. Er errichtete ein Flüchtlingslager und rettete damit zwischen 1938 und 1939 vielen Juden das Leben. 

Wie viele dieser Grenzfälle es gibt, lässt sich nicht genau rekonstruieren, da der damalige Polizeichef Ernst Haudenschild nach Beendigung seiner Amtszeit vermutlich alle dazu wichtigen Akten verbrannte. Viele Geflüchtete, die es über den Saubach in den Thurgau schafften, wurden direkt wieder zurück nach Konstanz gebracht. Ab 1938 war es quasi unmöglich, die Grenze zur Schweiz über Konstanz zu passieren. Diejenigen, die es noch vorher in die Schweiz geschafft hatten, waren alles andere als willkommen. Das verklärte Bild der idyllischen Schweiz, in der sich die Menschen wohlwollend um Juden oder Deserteure kümmerten, ist spätestens seit den Bergier-Berichten hinfällig.

Die Bergier-Berichte sind ein Teil der Aufarbeitungsstrategie des Zweiten Weltkrieges der Schweiz. Aus Sicht der Geflüchteten wird die Rolle der Schweiz in einem rund 600-Seiten starken Bericht detailliert zurückverfolgt.

Auch anderweitig gab es an der Grenze zu Konstanz wenig Hoffnung auf Unterstützung, beispielsweise durch Lebensmittellieferungen. „Die Schweizer hatten keine Veranlassung dazu. Deutschland hat so getan, als würden sie die Welt beherrschen“, sagt Stefan Keller. 

Ein Inbegriff des Schweizer Widerstandes gegen das Deutsche Reich hingegen ist das Réduit – ein System aus militärischen Verteidigungsanlagen in den Alpen. Das Réduit sollte die Widerstandsfähigkeit der Schweizer Armee demonstrieren und den Widerstandswillen der Schweizer zeigen. Das schwer zugängliche Gebirge sollte eine abschreckende Wirkung ausüben.

Wo bleibt die Aufarbeitung?

Als Anfang des 21. Jahrhunderts die Bergier-Berichte erschienen, trat dies ein neues Bewusstsein für die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz los, zumindest im Privaten. Seither gibt es allerdings wenig, was von offizieller Seite passiert ist. 2020 erschien die Serie „Frieden“ im SRF, die Schicksale junger Figuren in der Schweizer Nachkriegsordnung zeigt. Nach dem Krieg fiel Deutschland als wichtigster Wirtschaftspartner weg. „Es war eine absolut formative Zeit auch für Europa und auch für die Weltordnung heute“, sagt die Regisseurin Petra Volpe. 

Daniel Frischknecht, Psychologe und Präsident der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU), hat klare Worte für die Aufarbeitung der Schweiz:

„Der Schweizer handelt grundsätzlich nur, wenn er unter Druck gesetzt wird. Er handelt nicht aus eigener Motivation, sondern aus Leidensdruck oder Angst vor Gesichtsverlust. Nur dann bewegt er sich und das auch nur in dem Rahmen, der ihm vorgeschrieben wird. Intrinsisch geht da gar nichts.“

Daniel Frischknecht

Da besonders die Thurgauer Flüchtlingspolitik als grausam galt, setzt sich der Politiker dafür ein, dass vom Kanton eine Entschuldigung ausgesprochen wird. Das ist inzwischen auch passiert. „Der Thurgau hat sich zwar in seiner Antwort entschuldigt, aber nicht bei den Betroffenen. Die Angehörigen, die Familien, die Nachkommen wissen, dass ein gravierender Teil unserer Geschichte unter den Teppich gekehrt wird.“ 

Daniel Frischknecht. Foto: Andrea Zahler

Daniel Frischknechts Idee ist, an allen Zöllen im Thurgau, an denen Juden zurückgewiesen wurden, Mahnmale aufzustellen. Er möchte, dass den jüdischen Verbänden Entschuldigungen ausgesprochen werden und dass der dunkle Teil der Schweizer Geschichte im Unterricht aufgenommen wird.

Den Bergier-Bericht findet Frischknecht nicht ausreichend. „Der Bericht ist eine formelle Abhandlung. Was es aber braucht, wenn es um beziehungsbezogene Aufarbeitung geht, ist eine klare Stellungnahme mit anschliessender Entschuldigung an die Adresse der Betroffenen und ihren Angehörigen.“ Vor drei Wochen wurden erneut Anträge beim Kanton Thurgau eingereicht. Dieser hat acht Wochen Zeit, die Anfrage zu beantworten und offiziell Stellung zu nehmen.

„Bei der Schweiz ist das hervorstechendste Merkmal, dass man immer so tut, als wäre man unschuldig“,

kommentiert Stefan Keller die Aufarbeitungsstrategie der Schweiz.

Er ist gleichzeitig der Meinung, dass jede Generation auf ihre Weise aufarbeiten muss. „Früher hat man von oben erzählt und inzwischen erzählt man es aus der Sicht der Flüchtlinge. Die Perspektive und Wertung ändern sich.“

Mahnmal in Bern

Im Mai dieses Jahres hatte die Schweizer Bundesregierung bekannt gegeben, ein Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und des Holocaust in Bern errichten zu lassen. Die Jüdische Allgemeine kommentierte in einem Beitrag die „späte Einsicht“ der Schweizer:innen und dass sie sich durch ihre Neutralität der Erinnerungskultur lange entzogen habe. Für das Mahnmal sind 2,5 Millionen Franken bewilligt worden. Konkrete Pläne gibt es aber noch nicht und sollen im öffentlichen Wettbewerb geklärt werden. 

Zur Schweizer Aufarbeitung gehörte auch die Rehabilitierung von Paul Grüninger, der, nachdem er mit seiner Unterstützung für jüdische Flüchtlinge aufgeflogen war, fristlos entlassen wurde und fortan in Armut lebte. 23 Jahre nach seinem Tod bekamen die Nachkommen Grüningers eine Entschädigung. Die gegründete Paul Grüninger Stiftung setzt sich für aktive Verteidiger der Menschenrechte ein. 

Was passiert auf deutscher Seite?

Das Konstanzer Rosgartenmuseum hat unter der Leitung von Tobias Engelsing 2019 das Buch „Sommer ‘39“ veröffentlicht, das vom (Grenz-)Alltagsleben im Nationalsozialismus erzählt. „Das jüdische Konstanz“ erzählt die Geschichten von in Konstanz erniedrigt und verfolgten Juden und wie die Schweiz eben nicht das rettende Ufer war. 

Der Kugelbergverlag nimmt sich den Geschichten und Schicksalsschlägen einzelner Personen an und trägt mit seinen inzwischen 15 erschienenen Bänden zur Aufarbeitung der NS-Zeit bei. „Das Problem bei der Betrachtung der NS-Zeit besteht darin, dass es eben nicht nur die führenden Leute in Berlin waren. Es gibt mindestens 1,5 Millionen weitere Täter“, sagt Verlagsgründer und Sozialwissenschaftler Wolfgang Proske. Seine Buchreihe „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“ bringt regionale Geschichten ein und soll auch neue Erkenntnisse aufzeigen, die zum Gesamtbild der NS-Zeit beitragen. In Band sechs geht es um den südbadischen Raum an der Grenze zu Lörrach. Der Band „NS-Belastete aus dem Bodenseeraum“ erschien 2016. 

In Zeiten, in denen rechtsextreme Stimmen, auf deutscher wie auch auf Schweizer Seite, lauter werden, ist es wichtig, das Bewusstsein um die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges zu schärfen und den Hinterbliebenen mit Empathie zu begegnen. Für die meisten von uns ist der Zweite Weltkrieg eine Zeit, die im Geschichtsunterricht behandelt wurde und, zumindest im deutschen Fernsehen, wöchentlich durch Spielfilme oder Dokumentationen abgehandelt wird. Erst kürzlich wurde der AFD-Politiker Robert Sesselmann in den Landrat Sonneberg gewählt. Vielleicht sollten Schweizer:innen und die deutsche Bevölkerung ein gemeinsames Aufarbeitungsprojekt starten. 

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